Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Weihnachten, 24. Dezember 2003
Predigt übe
r Titus 2, 11-14, verfaßt von Ulrich Haag
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Globalisierung und Moral

Der Predigtabschnitt des heutigen Abends besteht aus einem einzigen Satz. Er stammt aus einem Brief, den ein Christ namens Titus, der wahrscheinlich Anfang des zweiten Jahrhunderts auf der Insel Kreta lebte, empfangen hat. Ein Bandwurmsatz, im griechischen Original ist er 64 Wörter lang. Wir hören diesen Satz in der Übersetzung Martin Luthers.

Titus 2,11ff:
Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen und nimmt uns in Zucht, daß wir absagen dem ungöttlichen Wesen und den weltlichen Begierden und besonnen, gerecht und fromm in dieser Welt leben und warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilandes Jesus Christus, der sich selbst für uns gegeben hat, damit er uns erlöste von aller Ungerechtigkeit und reinigte sich selbst ein Volk zum Eigentum, das eifrig wäre zu guten Werken.

Diese 64 Worte laufen allen Vorstellungen von einem heimeligen Lichterfest, von Ruhe und beschaulicher Weihnacht zuwider. Die Väter der Kirche haben das wohl beabsichtigt. Wenn die Leute schon einmal im Jahr in die Kirche kommen, so ihre Rechnung, dann wollen wir sie nicht auch noch in ihrem simplen Volksglauben von Krippe, Jesuskind und Engelein bestärken. Wenn schon, dann sollen sie etwas lernen. Lernen, was Christsein heißt. Lernen, was Christus für uns bedeutet.

Ob Paulus, ob die Väter der Kirche geahnt haben, daß sie mit diesen drei Versen einmal den Nerv der Zeit in einem fernen Jahrzehnt treffen würden? Daß sie exakt das anrühren, was die Menschen im Jahre 2003 wohl am meisten beschäftigt? In diesen 8 x 8 Worten geht es um nichts anderes als um Globalisierung - und um die Moral der Globalisierung.

„Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen.“

Gott für alle Menschen...

Uns heute ist dieser Gedanke vertraut. Wir haben ihn längst in unsere Weltanschauungen integriert. Gott ist global.

Für die Zeitgenossen des Apostels Paulus war das eine unerhörte Idee. Der Gott Abrahams Isaaks und Jakobs, Schöpfer des Himmels und der Erden war bis dahin der Gott Israels gewesen - ausschließlich der Gott Israels. Das war selbstverständlich. Ein Gott wurde immer einer mehr oder weniger großen Gruppe von Menschen zugeordnet. Einem Stamm, einem Volk, einer religiösen Gemeinschaft, einer Nation. Baal war für die Philister gut, Marduk hörte, wenn die Assyrer riefen, Poseidon setzte sich für die Seefahrer ein. Und jede Gruppe, jedes Volk versuchte seinen Gott zu verehren, indem es den Herrschaftsbereich seiner Kultur und Religion möglichst weit ausdehnte. Lange war Zeus der siegreiche Gott der Antike, dann war es Jupiter, der Staatsgott des römischen Imperiums.

Der Gott Israels durchbricht dieses Prinzip und erweist sich dadurch als der einzig wahre Gott - der einzig wahre unter all den wichtigen und nichtigen Gottheiten der Zeitenwende. Er ist Gott allein. Und er ist für alle Menschen da. Er läßt sich von allen anrufen. Er hört, er ist am Schicksal aller interessiert. Nicht nur an dem Israels. Sein Volk sind von nun an die Menschen auf dem ganzen Erdkreis. Seine Wahlheimat ist die ganze Erde. Nicht nur die Provinz Judäa. Wir dürfen ihn anrufen, wo immer wir sind - nicht nur in Jerusalem. Bei ihm, dem lebendigen Gott laufen die Seufzer und Gebete, die Bitten und Klagen von überallher zusammen. Wie an unsichtbaren Fäden hält er Kontakt zu jedem einzelnen, jeder einzelnen von uns. Er verbindet die Menschheit. Das ist das heilsame seiner Gnade: Gott ist global.

Für uns wie gesagt ein vertrauter Gedanke. Wir haben den Gedanken der Verbindung aller mit allen in den letzten Jahren sozusagen technisch in die Tat umgesetzt. Bis in den fernsten Winkel der Erde verzweigen sich unsere Kommunikationskanäle. Mit ungeheurem Tempo verbreiten sich Nachrichten rund um den Erdball. Per Internet auf den heimischen Bildschirm, per Mobiltelefon live ins Ohr. Radiowellen überziehen die Erdoberfläche mit einem allgegenwärtigen, unsichtbaren Netz. Über uns kreisen Satelliten am Himmel, die in der Lage sind, jeden Punkt der Erde zentimetergenau orten. Die Fortbewegungsmittel haben immense Geschwindigkeiten erreicht. Transportwege fallen nicht mehr ins Gewicht. Frische Blumen aus Nordafrika, Obst aus Neuseeland, Elektroteile aus Korea - all das gelangt im Handumdrehen in das Regal, auf den Tisch für den es bestimmt ist. Und wir gelangen per Düsenstrahl binnen 24 Stunden an jeden beliebigen Ort auf dem Globus. Die Welt ist ein Dorf - und wir wohnen darin.

Verglichen mit den differenzierten und empfindlichen Mechanismen, mit den ungeheuren Möglichkeiten der Globalisierung ist die Moral, die Paulus in seinen 8x8 Worten an Titus entwirft, simpel, fast primitiv. Aber es sind gerade die eingängigen, einfachen Maximen, die in jedes Handgepäck passen. Sie gelten überall. Paulus bringt sie auf den Punkt:

„Daß er, Christus, sich reinigte ein Volk, das fleißig wäre zu guten Werken.“

Ein Volk. Also nicht wieder zwei, drei, ein halbes Dutzend Völker unter diesem einen Gott. Keine neuerlichen Aufspaltungen in alte Gegensätze: Juden, Griechen, Sklaven, Freie, Mann und Frau. Ein Volk sind sie alle, vor Gott alle gleich. Sie haben gleichen Zugang zu Ihm, finden sein Gehör. Seine Gnade gilt allen Menschen in gleichem Maße. Seine Liebe berührt alle auf gleiche Weise. Wir sind Kinder des einen Vaters. Sind Geschwister.

Und so sollen wir leben. Ein Volk. Fleißig einander Gutes zu tun. Nie nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Immer das Wohl des ganzen, der großen Familie mit im Blick. Das ist die simple Moral, die Paulus der Globalisierung, die in der Weihnachtsnacht ihren Anfang nahm, mitgibt.

Ob es uns gelingt, diese Moral beharrlich und überzeugend weiterzusagen? Ernstmachen mit der Weihnachtsbotschaft - das erfordert, an bestimmten Stellen gegen den Strom zu schwimmen. Paulus sagt es in seinen Worten: Absagen den weltlichen Begierden. Ablegen alles ungöttliche Wesen.

In den letzten Jahren hat sich bei uns ein unseliger Volkssport entwickelt: Mitnehmen, was zu kriegen ist. Den Höchstpreis erzielen, der eben möglich ist. Die Miete kassieren, die ich gerade noch bekommen kann. Mir das Schnäppchen unter den Nagel reißen, bevor es ein anderer bekommt. Den Profit einstreichen, der maximal drinsitzt.

Profitorientierung: Eine verhängnisvolle Leitlinie für unser Handeln. Sie bringt kurzfristig befriedigende, meßbare Ergebnisse - wird aber auf die Dauer unsere Lebensräume einschnüren und zerstören.

Der Glaube, daß wir alle ein Volk, eine große Familie in Christus sind, kostet dagegen etwas. Er bedeutet teilen und verzichten um der Geschwister willen.

Ein Volk, fleißig zu guten Werken: Das hat zur Folge, daß ich aus meinem Geld nicht das maximale heraushole. Es bedeutet, daß ich abwäge, wen und was ich unterstütze, wenn ich Geld ausgebe. Welche Initiative ich fördere. Wo ich helfe, Arbeitsplätze zu erhalten, und wessen. Welchen Lebensraum ich mitgestalte.

Wieder im Fachgeschäft kaufen, wenn noch eines zu finden ist. Vielleicht wieder im Tante-Emma-Laden. Draufzahlen gegenüber dem Preis im Supermarkt. Sicherlich. Aber mit meinem Geld einen intakten Lebenszusammenhang mitgestalten und einen Arbeitsplatz mehr mitfananzieren. Teilen und teilnehmen.

Und das nicht nur im Kleinen.

Vielleicht haben Sie vor dem Gottesdienst im Liedheft geblättert und sind auf die Seite gestoßen, die auf die Kollekte aufmerksam macht. (Anmerkung: Die Kollekteninformation wurde dem Material für die Öffentlichkeitsarbeit von Brot für die Welt entnommen.) Viele Gesichter sind drauf zu sehen. Sie erzählen viele Geschichten. Von Armut, von Ausbeutung, Resignation, von Hoffnung, von Glauben von bescheidenem Glück. Viele Hautfarben haben die Gesichter, sie zeigen Menschen aus vielen Erdteilen. Unsere Geschwister.

Es geht nicht darum, daß sie gleich nach der Predigt besonders viel in die Kollekte tun. Tun sie das gerne, wenn Sie möchten. Doch es geht um mehr. Es geht darum, daß wir die Botschaft von der Weihnacht über Weihnachten hinaus Gestalt werden lassen. Ein Volk. Eine Familie. Kinder Gottes. Unsere Geschwister.

An diese Geschwister denke ich demnächst, wenn ich wieder Kaffee kaufe, und der Preis ist so verdächtig niedrig, daß ich mir ausrechnen kann, daß die Bauern in Lateinamerika dafür ihre Familien hungern lassen müssen.

An diese Geschwister denke ich, wenn ich ein neues T-Shirt kaufe, Textilien überhaupt, Kleidung, einen Teppich. Das kann nichts mehr sein, wofür Kinder zur Sklavenarbeit gezwungen werden.

An diese Geschwister denke ich, wenn ich Geld anlege, das ich übrig habe. Denke an die Brüder und Schwestern in den Fabriken und auf den Plantagen der Dritten Welt. Wichtiger als die Ertragsrate wird mir sein, daß für sie genug bleibt, um ein menschenwürdiges Leben in einem intakten Gemeinwesen zu führen. Dazu gehört auch, daß sie Freude an ihrer Arbeit haben, und nicht fremden Profit maximieren.

„Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen...“

So gesehen wird das Geschehen im Stall von Bethlehem zu einem Symbol jenseits allen Kitsches und aller Beschaulichkeit.

- Der Sohn Gottes, geboren in einem entlegenen Winkel abseits der großen Linien der Weltgeschichte, erinnert uns daran: Gott setzt mit seiner Gnade ganz unten an. Bei ihm fällt niemand durch die Maschen, nicht das kleinste Geschöpf, nicht das armseligste.

- „Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen ...“ Gottes Globalisierung breitet sich von unten her aus. Die Hirten, die kleinen Leute, hören es als erste und sagen es weiter. Dann die Bewohner von Bethlehem, die sich wundern. Die Weisen weit entfernt. Der König. Schließlich - Schritt für Schritt - alle Welt.

- Die Familie, Maria und Josef dürfen ruhig heilig sein und das Kind süß. Denn sie werden zum Symbol der großen Familie zu der wir gehören: Kinder Gottes alle Menschen.

- Und selbst mit den festlichen Gerüchen, den die Kerzen und der Beschaulichkeit der Weihnacht hat es seine Richtigkeit. Sie sind der Vorgeschmack auf das, was Paulus uns vollmundig in Aussicht stellt:

„Die endgültige Erscheinung der Herrlichkeit unseres Heilandes Jesus Christus, auf die wir warten in seliger Hoffnung.“

Amen.

Pastor Ulrich Haag, Aachen
haag@ekir.de


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