Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

1. Sonntag nach dem Christfest, 28. Dezember 2003
Predigt übe
r 1. Johannes 1, 1-4, verfaßt von Christoph Dinkel
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

(1) Sinnliche Weihnachten! - Ein etwas ungewöhnlicher Wunsch, so denken Sie wahrscheinlich. Sinnliche Weihnachten! - Dieser Wunsch ist bei uns jedenfalls nicht gebräuchlich. Das Wort Sinnlichkeit ist ein wenig zu vorbelastet, um es in Verbindung zu heiligen Dingen wie dem Weihnachtsfest zu bringen. Bei Sinnlichkeit könnte es passieren, dass man an das Falsche denkt, zum Beispiel an etwas anrüchige Filme spätabends im Privatfernsehen. Auch der sinnliche Genuss beim Verzehr von Weihnachtsgebäck könnte einem beim Stichwort Sinnlichkeit einfallen. Tja, aber damit sind wir schon gar nicht mehr so weit weg von dem, was unser Predigttext beschreibt. Denn unser Predigttext aus dem 1. Johannesbrief steckt voller Sinnlichkeit, voller Symbole sinnlicher Erfahrung. Wollte man ihn zusammenfassen, so könnte man einfach sagen: Sinnliche Weihnachten. Ich lese aus 1. Johannes 4 die Verse 1-4.

„Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unsern Augen, was wir betrachtet haben und unsre Hände betastet haben, vom Wort des Lebens – und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist –, was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir auch euch, damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt; und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und seinem Sohn Jesus Christus. Und das schreiben wir, damit unsere Freude vollkommen sei.“

(2) Haben Sie, habt Ihr all die sinnlichen Erfahrungen in unserem Text bemerkt: Hören und sehen, betrachten, betasten und erscheinen, bezeugen und verkünden, Gemeinschaft haben und vollkommene Freude – mit solchen Worten sinnenfälliger Erfahrung beschreibt unser Text das Weihnachtsgeschehen. Ganz überschwänglich und hymnisch redet er davon wie in Christus das Leben erscheint und die Menschen verwandelt.

Und das Leben erscheint eben in all seiner Sinnlichkeit an Weihnachten, es erscheint als Mensch, als greifbares Lebewesen. Alle Sinne werden vom Weihnachtsgeschehen erfasst. Hören und Sehen und Tasten nennt unser Predigttext selbst. Aber auch die anderen Sinne werden an Weihnachten bedacht, das Riechen und das Schmecken kommen gleichfalls nicht zu kurz.

Fünf Sinne unterscheidet man in der Regel. Und alle fünf Sine werden wir heute durchgehen und überlegen, inwiefern sie von Weihnachten betroffen werden. Fünf Sinne nur? Was ist mit dem sechsten oder dem siebten Sinn werden Sie, werdet Ihr vielleicht fragen. Nun gut, auch diese wollen wir kurz bedenken.

(3) Der siebte Sinn ist ja angeblich der Sinn für den Straßenverkehr. Ganz so viel wie heute dürfte damals auf den Straßen nicht los gewesen sein. Aber die Volkszählung des Kaisers Augustus scheint doch für ein erhöhtes Verkehrsaufkommen gesorgt zu haben. Jedenfalls waren die Fremdenverkehrseinrichtungen in Bethlehem ziemlich überlastet, sonst wäre die Geburt im unwirtlichen Stall wohl nicht nötig gewesen.

Und wenn Sie, wenn Ihr an die Flucht nach Ägypten denkt, dann wird schnell deutlich, welch guten siebten Sinn Josef haben musste, um an den Verkehrskontrollen des König Herodes vorbei den rechten Weg zu finden. Ganz ohne Satelittennavigationssystem ist ihm das gelungen. Manch einer von uns wäre froh, sich heute im Straßenverkehr so gut orientieren zu können wie Josef damals. Und die vielen rücksichtslosen Raser auf den Autobahnen wären auch gut beraten, wenn sie nicht schneller fahren würden als ihr Schutzengel fliegen kann.

(4) Beim Stichwort Schutzengel sind wir aber schon beim sechsten Sinn angelangt. Denn Josefs guter siebter Sinn in Verkehrsfragen ist ja wohl kein Zufall. Die biblischen Weihnachtsgeschichten erzählen uns von manchen Ereignissen, die wir mühelos dem sechsten Sinn, dem Sinn für Ahnungen zuordnen können. So rät eben ein Engel Josef im Traum zur Flucht vor dem amoklaufenden Herodes. Und auch den Weißen aus dem Morgenland legt der sechste Sinn nahe, einen anderen Weg als den ursprünglich geplanten nach Hause zu gehen. Ich will damit nicht sagen, dass Engel nur vom sechsten Sinn erfasst werden können. Sie sind auch manchmal zu sehen und zu berühren. Aber der sechste Sinn, der Sinn für Ahnungen und Gefühle ist doch ihre ganz besondere Stärke. Engel kann man ja nicht einfach so sehen. Engel kommen meist in Verkleidung daher, manchmal in der Verkleidung eines freundlichen Mitmenschen, der einem hilft, wenn man mit zuviel Weihnachtspäckchen auf dem Arm auf der Rolltreppe stolpert. Dass man solche Engel als Engel erkennt, das ist keine Selbstverständlichkeit, das ist schon eine Sache des sechsten Sinns.

Sinn sieben und sechs sind damit geklärt. Wie steht es aber mit den übrigen, den normalen fünf Sinnen?

(5) Weihnachten sehen? Das sollte nicht schwer zu beschreiben sein. An Weihnachten gibt es alles Mögliche zu sehen. Die Hirten sehen die Engel, sie sehen den Stall und das Kind in der Krippe. Die Weisen aus dem Morgenland sehen den Stern, den König Herodes und dann auch den Stall und das Kind. Maria und Josef wiederum sehen die Hirten und die Weisen aus dem Morgenland. Die unwirtlichen Verhältnisse im Stall sehen sie ebenfalls. Vor allem aber sehen sie ihr Kind in der Krippe liegen. Dieses Kind soll Gottes Sohn sein, so wurde Maria verheißen. In ihm erscheint das Leben der Menschen, „das Leben, das ewig ist, das beim Vater war und nun uns erschienen ist“, wie es unser Predigttext sagt. Man wird es dem kleinen Jesuskind wohl kaum so direkt angesehen haben, dass es eine solch große Bedeutung hat. Denn Gott wollte ja gerade in der Niedrigkeit erscheinen, nicht in Glanz und Gloria am Hof von Jerusalem. Das machte ja die Provokation aus, die den König Herodes um den Verstand brachte. Wir müssen uns das Christkind wohl ohne Heiligenschein vorstellen, jedenfalls ohne mit den Augen sichtbaren Heiligenschein. Mit dem Herzen wird man den Heiligenschein vielleicht doch schon gesehen haben, aber damit wären wir wieder beim sechsten Sinn und da waren wir ja schon.

Weihnachten sehen? Wenn wir an Weihnachten durch die Stadt gehen, dann gibt es auch dort allerhand zu sehen. Zahllose Lichterketten, Nikoläuse, Krippen und Hirtenszenen sind ausgestellt. Alle Welt ahmt die Ereignisse von damals nach. Jeder macht sich die Geschichte von Bethlehem zu Eigen. Es sieht ja so hübsch, so allerliebst aus. Dass bei so vielen Dingen zum Sehen das Wesentliche aus dem Blick gerät, liegt nahe. Die Klage darüber ist weit verbreitet. Ich will sie nicht auch noch anstimmen.

Ich denke bei Ihnen und Euch zu Hause gibt es auch etwas zu sehen an Weihnachten. Einen Christbaum, vielleicht eine Krippe, dazu auch Geschenke. Der Sinn der Geschenke an Weihnachten ist es ja, Gottes Liebe zu uns sichtbar nachzuahmen. Wie Gott uns mit der Geburt seines Sohnes beschenkt und Freude bereitet, so beschenken wir uns gegenseitig und machen einander eine Freude. Durch die gegenseitigen Geschenke an Weihnachten entsteht Gemeinschaft untereinander. Und genau das ist auch das Ziel von Weihnachten. Unser Predigttext sagt es ganz deutlich: „damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt“, darum geht es. Weihnachten zielt darauf ab, dass wir untereinander und mit Gott Gemeinschaft haben. Genau dazu dienen die Geschenke und ich hoffe, dass Sie und Ihr solche Gemeinschaft an den Festtagen erleben konnten.

(6) Weihnachten tasten? Geht das? Unser Predigttext geht ganz selbstverständlich davon aus: Wir verkünden, so heißt es, „was wir betrachtet haben und unsre Hände vom Wort des Lebens betastet haben“. Wie sollen wir uns das vorstellen? Das Wort des Lebens betasten? Das Wort des Lebens ist ja keine Leuchtreklame, die man anfassen könnte. Sicher. Aber das Wort des Lebens ist natürlich auch nicht nur ein Wort. Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, so sagt es das Johannesevangelium. Das Wort des Lebens wurde in Jesus Christus handgreiflich erfahrbar. Es wurde Mensch, ganz handgreiflich und real. Wer Gott ist und wie er sich zu uns Menschen verhält, das können wir an Jesus Christus sehen und begreifen.

(7) Wenn wir die Sache so betrachten, dann ist es gar nicht mehr so verwunderlich, dass man das Wort des Lebens betasten kann. Dann ist auch klar, dass man es riechen und schmecken kann, weil es ja in den Bereich der sinnlichen Erfahrung eingetreten ist. Dass das heute noch geht und gilt, dass wir das Wort des Lebens ertasten, riechen und schmecken können, liegt am Abendmahl. In Brot und Wein, so sagen wir beim Abendmahl, ist Jesus Christus selbst gegenwärtig. In den Gaben des Abendmahls ist das Wort des Lebens mit allen Sinnen erlebbar. Wir tasten und sehen und schmecken das Brot. Wir sehen, schmecken und riechen den duftenden Wein. Abendmahl bedeutet einfach, dass wir Gottes Wort des Lebens mit allen Sinnen erleben, dass es ganz real für uns erfahrbar wird. Abendmahl ist also so etwas wie ein wiederholtes Weihnachten, mit allen sinnlichen Seiten dieses Festes.

(8) Das Hören haben wir bislang ausgelassen. Weihnachten kann man natürlich auch hören. Das Hören ist vielleicht sogar das Wichtigste. Deshalb habe ich es bis zum Schluss aufgehoben. Die Hirten auf dem Felde sehen die Engel nicht nur, sie hören sie auch. Das ist gut und wichtig. Denn ohne dass die Engel etwas gesagt hätten, wären die Hirten wohl vor Angst davongelaufen. So aber hörten sie den Gruß der Engel: „Fürchtet euch nicht. Denn siehe ich verkündige euch große Freude, euch ist heute der Heiland geboren.“ Doch das Hören ist an Weihnachten noch in einer anderen Hinsicht wichtig. Denn die Hirten erzählen von dem, was sie im Stall gesehen haben ja weiter. Sie werden selbst zu Verkündigern und finden Hörerinnen und Hörer für ihre Botschaft.

Und auch zu uns kommt Weihnachten zunächst einmal durch das Hören der Geschichte von Weihnachten. Wir wüssten ja gar nichts mit all den sicht-, tast- und riechbaren Dingen an Weihnachten anzufangen, wenn wir die Geschichte dazu nicht gehört hätten. Das gemeinsame Hören der Weihnachtsgeschichte weckt erst das Verständnis für dieses Fest. Das gemeinsame Hören ist es auch, das die Gemeinschaft unter uns herstellt. Hören ist also der weihnachtliche Schlüsselsinn . Das Hören gibt all dem anderen, was wir an Weihnachten erleben, erst seine Bedeutung.

Weihnachten hören? Dazu fällt mir noch etwas anderes ein: Was wäre Weihnachten ohne die schönen Lieder, ohne die weihnachtlich-festliche Musik? Weihnachten, das ist vor allem auch ein Ohrenschmaus. Denken Sie an die wunderbaren Lieder, an das Weihnachtsoratorium oder an die festlichen Klänge der Glocken, der Chöre und Posaunen.

(9) Doch gerade das Hören macht Weihnachten auch zu einem gefährdeten Fest. Wenn wir in der Stadt sind, dann werden wir einem Dauerhörterror sondergleichen ausgesetzt. Weihnachtlicher Lärmmüll erklingt aus zahllosen Lautsprechern. Gerade Weihnachten ist durch die Dauerberieselung mit Säuselmusik besonders bedroht. Die Sinne werden abgestumpft. Es vergeht erst das Hören und dann auch das Sehen. Und das Schmecken und Riechen von Weihnachten haben wir bis zum Fest wahrscheinlich eh schon über. Denn ab September werden wir in den Läden mit Weihnachtsgebäck bedroht. Und die Weihnachtsgerüche überfallen einen an jeder Ecke. Weihnachten ist überall und mit allen Sinnen zu erfahren. Und genau so wird Weihnachten einer gefährlichen Inflation ausgesetzt. So sehr es zu begrüßen ist, dass dieses christliche Fest so gut in unserer Kultur verankert ist, so sehr müssen wir darauf achten, dass die Weihnachtsinflation unser Fest nicht zerstört.

Aber selbst noch der Missbrauch und die inflationäre Wiederholung machen deutlich, dass Weihnachten eben wirklich ein Fest für alle Sinne ist. Weihnachten ist ein Fest, das uns in jeder Hinsicht berührt und bewegt. An Weihnachten gibt es zu hören und zu sehen, zu tasten und zu schmecken und zu riechen. Und das ist gut so. Denn all diese sinnlichen Erfahrungen sollen nur das eine vermitteln und deutlich machen: An Weihnachten ist im Kind in der Krippe das Leben erschienen. An Weihnachten wird Gottes ewiges Wort Fleisch, wird greifbar, sichtbar und hörbar. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und Euch allen weiterhin: Sinnliche Weihnachten! - Amen.

Dr. Christoph Dinkel
Pfarrer, Privatdozent
Gänsheidestraße 29
70184 Stuttgart
E-Mail: christoph.dinkel@arcor.de

 


(zurück zum Seitenanfang)