Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

1. Sonntag nach dem Christfest, 28. Dezember 2003
Predigt übe
r 1. Johannes 1, 1-4, verfaßt von Caroline Warnecke
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,
der Predigttext für den 1. Sonntag nach Weihnachten aus dem 1. Johannesbrief im
1. Kapitel:

1. Was von Anfang an war,
was wir gehört haben,
was wir gesehen haben mit unseren Augen,
was wir betrachtet haben und unsere Hände betastet haben, vom Wort des Lebens –
2 und das Leben ist erschienen,
und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist-,
3 was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir auch euch,
damit auch ihr mit uns Gemeinschaft habt;
und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und dem Sohn Jesus Christus.
4 Und das schreiben wir, damit unsere Freude vollkommen sei.

I. Was von Anfang an war ..... das Leben ist erschienen.
Es gibt Worte, die verlieren ihre Leuchtkraft nie.
Sie leuchten durch die Zeit, durch die Jahrhunderte und Jahrtausende; auf wundersame Weise werden sie von irgendwoher mit Energie versorgt – wie die Sterne am Himmel, die das sind und leuchten – immerdar, sternenklar – auch wenn Wolken unseren Blick auf die himmlische Lichtwelt verdunkeln.
Das Leben ist erschienen.
Es gibt Worte, die leben und hören niemals auf zu leben. Worte des Lebens – wenn sie denn Worte des Lebens sind – leben und sind nicht totzukriegen, stehen immer wieder auf – als ob sie von irgendwoher auf wundersame Weise mit Lebenskraft versorgt werden.
Das Leben ist erschienen .... was von Anfang an war.

II. Weihnachten war – und nun: zwischen den Jahren. Heute mittendrin, ganz auf der Höhe. Das Alte ist noch nicht vergangen, das Neue hat noch nicht begonnen. Leben – dazwischen.
Das Zeitgefühl ist etwas verwirrt, der Rhythmus unterbrochen. Freie Tage und Ferien. Betriebe und Büros geschlossen. Eigenartig zeitlos, diese Zwischenzeit.
Man könnte in aller Ruhe ein Buch lesen oder einen langen Spaziergang machen, sich mit den Kindern im Spielen verlieren oder das Gespräch führen, das schon lange ansteht. Man könnte einfach mal den Gedanken nachhängen, einfach so, ganz unproduktiv...oder über das Leben nachdenken. Über das Leben – zwischen den Jahren – über das Leben in all den Jahren – über das Leben so, an sich...
Wir sind in dieser Zeit dafür offener als sonst, aber auch empfindsamer.
Weihnachten hat an unseren Gefühlen gerüttelt. Nicht wenige sind froh, es bis hierher geschafft zu haben. Was sich in der Geburtsgeschichte unseres Heilands abspielt – in der ganzen Spannung zwischen erlösender Rettung und unbarmherzigem Elend, himmlischem Reichtum und irdischer Armut, wärmender Heimat und eiskalter Flucht ... - das inszeniert sich auch auf unserer Gefühlspalette immer wieder neu: „Welch große Freude!“ und „Was für ein Kummer!“, „Was für eine Überraschung!“, aber auch „Was für eine Enttäuschung!“ – „Was für ein Glück“! und „was für ein Leid!“ - das liegt an Weihnachten oft ganz dicht, sehr dicht beieinander.
Wünsche, die sich erfüllt haben und Erwartungen, die offen geblieben sind, wandern einem durch´s Herz. Das „Fürchte dich nicht!“ klingt im Ohr. „Ich habe trotzdem Angst!“ schreit´s im Innern.
Der Heiland und das Unheil dieser Welt.
Das Kind und die eigenen Lebensträume.
Das Geborene und das Gestorbene.
Das Leben ist erschienen .... -
Was von Anfang an war.
2003 geht zuende. Das Leben in diesem Jahr geht zuende. Weltgeschichtliche Ereignisse und der persönliche Rückblick: Was war? Was hat sich verändert? Wo mussten wir durch? Wo geht es hin?
Ist mir das Leben erschienen?
Ist mir das Leben erschienen?
Ich habe gelebt. Ich habe Tage, Stunden und Monate durchlebt, auch bange Minuten... Ist mir da irgendwo in diesem gelebten Jahr das Leben erschienen?

III. Einige sagen: Ja.
Wir haben es gehört, wir haben es gesehen mit unseren Augen und betrachtet, wir haben es betastet mit unseren Händen....
Uns ist das Leben erschienen – das Leben, das ewig ist und beim Vater war, das von Anfang an war.
Die haben Gott gesehen. Die haben in Jesus Christus das Leben gesehen.
Kein Schein-Leben, keine Illusion, kein Hirngespinst, sondern das wahre Leben in Fleisch und Blut.
Gott, der sich zeigt. Vom Himmel hoch – auf die Erde nieder....Wort des Lebens ward Fleisch und wohnte unter uns. Hat ein Gesicht. Kann man berühren. Kann man fühlen. Kann man kaum denken, aber mit allen Sinnen wahrnehmen: Hören, sehen, tasten. Auch riechen, auch schmecken.
Glauben mit Leib und Seele,
Hoffnung mit Hand und Fuß,
Liebe mit Herz und Mund.
Gott, der sich zeigt und da noch mal anfängt, wo wir alle anfangen in unserem Leben: in der Geburt, in dem Kind, in der Bedürftigkeit und dem Angewiesensein.
Der da zur Welt kommt, wo wir´s am meisten brauchen : in einem abgerissenen Stall, in der dunkelsten Ecke menschlicher Verlorenheit und Armut.
Der sich in´s pure Leben begibt, damit wir nicht länger irgendwelchen Lebensentwürfen hinterher rennen, die das Leben versprechen, aber nicht bieten.
Haben macht uns nicht reicher, Geld nicht glücklicher, Schönheit nicht liebenswerter, Leistung nicht attraktiver. Das ist ganz reizvoll, aber nicht das Leben.
Das Leben liegt in der Krippe. Das Leben wohnt unter uns – Gottes Nähe in unserer Schwachheit. Gottes Nähe in unseren Zukunftsängsten, in unserer Einsamkeit, auch in unserer Freude und in unserer Dankbarkeit, in unserem Glück. Gott in allem.
Wer oder was sollte glaubwürdiger sein, als ein Gott, der mit uns durch dick und dünn geht? Der mit uns lebt, der mit uns leidet, der mit uns stirbt? Der da anfängt, wo wir auch anfangen, aber da nicht aufhört, wo wir einen Schlussstrich ziehen.
Ein tragfähiger Glaube erweist sich darin, ob er unserem Leben standhält. Ob er uns tragen kann, wenn alles drunter und drüber geht, ob er uns halten kann, wenn alles zusammenbricht.
Diesen Glauben gefunden zu haben, das wahre Leben gesehen zu haben -
das macht Freude.

IV. Darum dieser Brief – aus lauter Freude geschrieben.
Der Schreiber des 1. Johannesbriefes kann gar nicht so schnell schreiben, wie er erzählen möchte. Er überschlägt sich förmlich: (rhetorisch die Verben-Häufung deutlich machen) Wir haben gehört und gesehen, wir haben es mit unseren Händen betastet. Das Leben ist erschienen. Wir haben es gesehen und bezeugen und verkündigen. Und wir haben es gesehen und gehört, und darum verkündigen und bezeugen wir das Ganze - auch Euch.
Da muss man erst mal ausatmen – und kann dann vielleicht noch mal ganz in Ruhe darüber nachdenken, ob man nicht selber auch etwas gehört, gesehen und begriffen hat vom Wort des Lebens – im vergangenen Jahr, in all den Jahren, an diesem Weihnachtsfest.
Es gibt kein Kirchenjahresfest, das wir sinnlicher feiern ist als dieses. An Weihnachten gibt es soviel zu hören, zu sehen, zu betasten, zu riechen und zu schmecken, dass es einem fast zuviel wird. Darum ist Weniger hier oft Mehr und ein Nachher besser als ein Alles auf einmal. Man könnte zwischen den Jahren ja auch noch mal in aller Ruhe die Weihnachtsgeschichte lesen oder ganz dicht an die Krippe herantreten und hineinblicken in das Geschehen. Man könnte noch mal ganz bewusst diesen einen Strohstern in die Hand nehmen, der schon so viele Jahre mit einem durch die Weihnachtszeit gegangen ist oder den Brief lesen, den man bekommen hat oder am Tannenbaum riechen oder ganz lange in eine Kerze schauen. Zwischen den Jahren sind ja vielleicht auch unsere Sinnesorgane offener und empfindsamer.
Mag sein, dass wir lange brauchen, um das Leben, das erschienen ist, zu sehen; mag sein, dass wir sehr lange warten und darüber so alt werden wie Simeon und Hanna. Unsere Aufnahmefähigkeit für das wahre Leben ist ja zuweilen, manchmal für Jahre eigenartig verschlossen. Wir sehen´s einfach nicht, hören´s einfach nicht, kriegen´s einfach nicht zu fassen. Unsere Hör- und Sehgewohnheiten werden durch alles Mögliche in andere Richtungen gelenkt; wir tasten uns durch unser Leben und greifen dauernd daneben.
Gut, dass wir Weihnachten immer wieder feiern dürfen und auf dem wankenden Grund unserer Stunden, Tage und Jahre das ein um das andere mal hören, was da gesagt ist: Das Leben ist erschienen.
Eine Gnade, dass sich Gott bereit hält, sich immer wieder zeigt und erscheint, dass durch seine Gegenwart in dieser Welt Menschen von neuem geboren werden, Glaube heranwächst und stark wird (vgl. Lk 2,40).
Ein Segen, dass jene, die das erfahren haben, nicht schweigen, sondern ihre Erfahrungen und ihre Freude darüber weitersagen.

V. Für das Leben, das erschienen ist, gibt es keine Beweise. Gott lässt sich nicht festhalten und dingfest machen, bleibt unverfügbar. Aber es gibt Hinweise, Spuren, Belichtungen - und Zeugen – wie jene aus dem 1. Johannesbrief - die uns verkündigen, was sie erlebt haben. Eine Überlieferungskette, die Erzählgemeinschaft der Heiligen über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg.
Wir gehören dazu.
Wir leben von dem, was uns erzählt wurde und vermittelt wird; wir leben nicht nur von dem, was wir selber begriffen haben. Wir brauchen die alten Geschichten, die durchlebten Glaubenserfahrungen unserer Väter und Mütter, die Wolke der Zeugen, die mit uns mitzieht, um uns vergewissern zu können. Aber was wir gesehen, gehört und begriffen haben – und das ist gewiss mehr, als wir zunächst vielleicht meinen - das einspeisen in den Strom der Überlieferung, hinzusprechen, ein-erzählen in die Geschichte Gottes mit seinen Menschen. Glaubenserfahrungen wollen weitergesagt und weitergereicht werden, von Mund zu Mund, von Hand zu Hand. Andere um uns und die nach uns sollen hören und vor Augen bekommen und in die Hände kriegen, was da gesagt ist: Das Leben ist erschienen .
Worte des Lebens werden als Worte des Lebens erfahren, sie leuchten und leben und werden lebendig - und die Freude darüber wird irdisch, himmlisch, göttlich vollkommen sein.
In der Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn Jesus Christus.
Amen.


Pastorin Caroline Warnecke
Studieninspektorin am Gerhard-Uhlhorn-Studienkonvikt
Göttingen
cawarnecke@web.de


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