Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

2. Sonntag nach dem Christfest, 4. Januar 2004
Predigt übe
r 1. Johannes 5, 11-13, verfaßt von Bernd Vogel
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Der 88-jährige Gründer und Prior der Gemeinschaft von Taizé hat diese Tage in Hamburg bei 60.000 jungen Menschen aus vielen Ländern der Erde seinen Jahresbrief 2004 „An den Quellen der Freude“ verlesen lassen. Dessen Schluss lautet:

„Auch wir haben Zeiten, in denen wir nicht erkennen können, dass uns Christus durch den Heiligen Geist ganz nahe ist. Unablässig begleitet er uns. Er erhellt unsere Seele mit unerwartetem Licht. Und wir entdecken, dass zwar in uns etwas dunkel bleiben kann, aber in jedem Menschen vor allem das Geheimnis seiner Gegenwart liegt. Versuchen wir, uns eine Gewissheit zu bewahren! Welche? Christus sagt zu jedem Menschen: ‚Ich liebe dich mit einer Liebe, die kein Ende kennt. Niemals verlasse ich dich. Durch den Heiligen Geist bin ich stets bei dir.'“

Das ist das Testament des alten Mannes für uns Weiterlebenden: Geh zur Quelle der Freude, sagt er. Erfrische dich an der Erfahrung von Gottes unablässiger Liebe. Lass dich täglich von „Neubeginn zu Neubeginn“ (Roger) erneuern in deiner Hoffnungskraft, in deiner Liebesfähigkeit, in deinem Lebensmut. Gott ist niemals der Urheber des Bösen. Gott ist niemals der Grund für Unglück, Katastrophe, Vernichtung. Gott ist niemals der Strafende. Wenn du an Gott zweifelst, sagt Frère Roger, dann gehört das wohl zu deinem Leben. Aber lass nicht zu, dass die Finsternis in deinem Herzen dein Vertrauen in den Gott auffrisst, der dir stets zur Seite ist und der dich mehr liebt, als du dir je vorstellen kannst. Bitte Gott im Gebet, dass er dir diese Zweifel nimmt. Es sind Anfechtungen, die zu nichts Gutem führen, außer, dass du sie überwindest, außer, dass Gott sie dir überwindet. Damit du anschließend bewusster noch und gestärkt dein Leben in Empfang nimmst. Lass dich nicht von deiner Angst, von deiner Sorge überwältigen. Überlass deine Stärken und deine Schwächen, deine Begabungen und deine Grenzen Gott. Selbst Irrtümer und Fehler, selbst Schuld trennt dich nicht von Gott, weil Gott sich nicht von dir trennt. Sieh du nur zu, dass du Verantwortung für dein Leben übernimmst, damit du das Deine tust, dass in dir die Sehnsucht nach dem ewigen Leben nicht erstickt wird. Wenn du eines Tages den Durst und den Hunger nach Gott, nach Gerechtigkeit, nach Wahrheit, nach Freiheit verlieren solltest, das wäre für dich furchtbar. Aber auch dann gilt noch: Tiefer als deine Abgründe ist die Abgründigkeit der Liebe Gottes.

Auf die Frage, ob Gott am Ende der Zeit alle Menschen retten oder ob es einen Himmel für die einen und eine ewige Hölle für die anderen geben wird, hat der alte Theologieprofessor und Mentor der Bekennenden Kirche Karl Barth einmal gesagt: „Ein Tor, wer nicht daran glaubt, dass Gott ausnahmslos alle retten wird. Ein Narr, wer davon öffentlich spricht.“

Zu Anfang des 3.Jahrtausends nach Christi Geburt werden wir lernen, die Bibel in neuer Klarheit „evangelisch“ zu lesen. Frère Roger führt seit vielen Jahren vor, was das meinen könnte. Auch der altersweise Barth hat aufgrund von Lebenserfahrung und theologischer Einsicht ein Bibellesen praktiziert, das dem Geist des Evangeliums gemäß ist. Der heute beliebte Benediktiner Anselm Grün und der alte Jörg Zink führen es ebenfalls vor:

Wie können Menschen von heute ihre eigene Bibel so lesen, dass ihnen der Geist Gottes dabei einleuchten kann? Wie können Menschen mit durchschnittlicher Bildung – ohne Theologiestudium und ohne kirchliche Bevormundung, aber angeleitet von hilfreicher Seelsorge und Theologie – ihre eigene Bibel so lesen, dass sie in Wahrheit „Gottes Wort“ darin lesen, so dass sich „ihr Leben dabei verändert und erneuert“ (Dietrich Bonhoeffer 1944)?

Hören wir den für heute vorgeschlagenen Bibeltext und versuchen wir die Probe am Beispiel:

„Das ist das Zeugnis, dass uns Gott das ewige Leben gegeben hat, und dieses Leben ist in seinem Sohn.
Wer den Sohn hat, der hat das Leben;
Wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht.
Das habe ich euch geschrieben, damit ihr wisst, dass ihr das ewige Leben habt,
die ihr glaubt an den Namen des Sohnes Gottes“ (1.Johannes 5,11-13).

Jeder von uns hört einen solchen Text anders. Es wäre gerade bei schwierigen Texten wichtig, dass sich Gemeinde zusammensetzt und mit einander spricht. Was hast du gehört? Welche Worte, welche inneren Bilder sind bei dir hängen geblieben? Welche Vielfalt von Eindrücken und Ideen gibt es in unserem Kreis?

Darum bildet Bibelgesprächskreise, wo ihr könnt. Versucht das persönliche Gespräch über einem euch gemeinsam angehenden Bibeltext. Nichts anderes geschieht, wo immer auf der Welt Aufbrüche des Geistes in der Kirche sichtbar sind. Es geschieht bei den Hunderttausend Jugendlichen und Erwachsenen in Taizé. Es geschieht in den Basisgemeinden Lateinamerikas, in den wachsenden Kirchen Afrikas und Ostasiens. Menschen kommen zusammen und erwarten tatsächlich, dass der Heilige Geist da ist, wenn sie sich treffen, wenn sie sich für den Geist und für einander öffnen lassen.

Und das Wunder geschieht. Das „Unerwartete“ (Frère Roger). Und Menschen, Christen werden einander zu Seelsorgenden. Manch einer erzählt von seinen persönlichen furchtbaren Ängsten. Auch und gerade in Bezug auf Gott. Da gibt es die Vorstellung, dass man selber vielleicht „gerettet“ sei, die ungläubigen Verwandten aber wahrscheinlich in die „Hölle“ müssten.

Neulich erzählte mir jemand, dass ein intelligenter junger Mann, der seit Jahren unter dem Unfalltod seiner Schwester leidet, von einem „Medium“ dazu aufgerufen wurde, für die Verstorbene zu beten, damit sie endlich aus dem furchtbaren Fegefeuer in den Himmel kommen könnte. Seitdem plagt ihn das Schuldgefühl, vielleicht nicht genug für seine Schwester getan, nicht genug gebetet zu haben.

Mit Martin Luthers Entdeckung, dass wir hinter allen Gottesfratzen einen uns gnädigen Gott glauben könnten, scheint es bei vielen modernen und aufgeklärten Menschen von heute noch nicht getan zu sein. Nicht nur, dass sie in Wahrheit nicht daran glauben – etwa, weil sie von Luther und evangelischem Verständnis des Glaubens zu wenig wüssten. Schlimmer noch: Auch wenn sie davon ausreichend wissen, ist ihre Seele doch letztlich von Angst erfüllt und nicht von Vertrauen. Sie k ö n n e n einfach nicht im evangelischen, im Freude wirkenden Sinn „glauben“.

Unsere Leistungsgesellschaft ist längst auch zum Seelsorge-„Fall“ geworden. Es geht ja nur an der – auch wichtigen - Oberfläche um Arbeitsplätze, um Einsparungen, Kürzungen, gerechte Rentenfinanzierung, den richtigen Weg zu mehr Wirtschaftswachstum und mehr Gerechtigkeit weltweit. Dahinter – abgründig – geht es um die Frage, wofür überhaupt leben? Und aufgrund welcher Gewissheiten leben? Und wer bin ich eigentlich in diesem gigantischen Gewebe, das wir Leben und Kosmos nennen, das wir mit technischen Mitteln einigermaßen zu beherrschen trachten, aber nie in den Griff kriegen? Wofür leben? Was ist der Sinn? Und woher nehme ich eigentlich die Kraft, dieses Leben – vorausgesetzt, es gibt einen Sinn – sinnvoll zu leben? Wie lebe ich denn in der Wahrheit?

„Wahrheit“ ist ein Schlüsselbegriff des Evangelisten Johannes. „Die Wahrheit wird euch frei machen“ kann er von Jesus sagen. „Was ist Wahrheit?“ zweifelt dagegen der Machtmensch Pilatus. Vielleicht möchte er gern „glauben“. Aber er kann es nicht. Und will's vielleicht auch nicht, wer weiß. Jedenfalls wäscht er dann seine Hände in Unschuld und gibt die Wahrheit in Person, gibt den „Menschen“ („Seht den Menschen!“) dran – ans Kreuz.

Wie kommen wir also zu dieser Wahrheit? Der Briefschreiber Johannes kennt ein inneres „Zeugnis“, das der Heilige Geist denen gewährt, die „an den Namen des Sohnes Gottes glauben“. Es ist ein Zeugnis, das „in“ den Menschen, in ihrer Seele laut wird. So sagt Johannes. Diese Menschen wissen aus tiefster Herzensgewissheit: Ich gehöre zu Gott; und Gott gehört zu mir. Und weil Gott und ich so unverbrüchlich zusammen sind, darum gehört mir auch Gottes ewiges Leben. Auch der Tod wird mich nicht aus Gottes Gemeinschaft und Liebe reißen. Im Gegenteil: Mein Tod wird die Erfüllung meiner Gemeinschaft mit Gott sein. So wie der Tod des Jesus seine Erfüllung seiner Gemeinschaft mit Gott war. Auferstehung heißt zunächst „nur“ dies: Der, den Pilatus ans Kreuz nageln ließ, der ist der „Christus“, der gesalbte Heiland, der besondere Sohn Gottes. Das ist nun vor aller Welt aufgerichtet und klar.

Soweit könnte ein Bibelleser mit je eigener Sprache wohl auch kommen in seinem Bemühen, den Bibeltext zu verstehen. Oder so weit könnten Menschen einander zum Verständnis helfen, die etwa in einem Gesprächskreis, in der Familie, unter Freunden zusammen säßen, um einen solchen Text zu verstehen.

Nun aber – stelle ich mir vor – ist einer da, der diesen Text auf der Folie seiner vielleicht kaum bewussten Urangst liest: Mit mir ist es nicht in Ordnung. Ich hätte mich mehr um meine Schwester kümmern müssen. Ich hätte überhaupt dies und jenes anders machen sollen. Ich bin jedenfalls so, wie ich bin, wahrscheinlich doch nicht liebenswert genug, als dass mich mein Schöpfer wirklich unbedingt lieben könnte.

Oder jemand anders kennt jemand anderen, bei dem er vermutet, dass der eher in die Hölle fahren wird als in den Himmel. Und er sorgt sich um diesen Menschen. Oder auch: Er gibt ihn verloren. Vielleicht mit dem Spruch, bei Gott könne man ja nie wissen. Vielleicht vergibt er dem seine Schuld doch; aber wahrscheinlich sei es wohl nicht. Nach dem, was so alles in der Bibel „steht“.

Und da „steht“ es ja auch: „Wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht.“ So „steht“ es „da“. Und ganz zum Schluss des 1. Johannesbriefes steht in dieser Richtung noch mehr: „Wenn jemand seinen Bruder sündigen sieht, eine Sünde nicht zum Tode, so mag er bitten, und Gott wird ihm das Leben geben – denen die nicht sündigen zum Tode. Es gibt aber eine Sünde zum Tode; bei der sage ich nicht, dass jemand bitten soll ..Wir wissen, dass, wer von Gott geboren ist, der sündigt nicht ..“ Und so endet der Brief, wie wir ihn in der Bibel lesen: „Kinder, hütet euch vor den Abgöttern“. Was für ein ängstlicher Briefschluss. In der Bibel. Nicht jedes Wort der Bibel ist einfach Gottes Wort.

Der Jahresbrief von Frère Roger endete dagegen mit dem Wunsch, eine Gewissheit zu bewahren. „Christus sagt zu jedem Menschen: ‚Ich liebe dich mit einer Liebe, die kein Ende kennt. Niemals verlasse ich dich. Durch den Heiligen Geist bin ich stets bei dir'.“ Roger bezieht sich dabei auf Bibelworte aus Jeremia 31,3 und dem Johannesevangelium 14,16-18. Auch in diesem Johannestext gibt es eine Passage, nach der die (ungläubige) „Welt“ den als „Tröster“ versprochenen „Geist der Wahrheit“ „nicht empfangen kann, denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht“.

Roger, der Ausleger der Bibel, nimmt sich im Vertrauen auf den gegenwärtig wirkenden Geist Gottes die Freiheit, diesen Satz und mit ihm alle Passagen, die in der Bibel nach Drohung und Ausschluss von Erlösung, Heil und ewigem Leben klingen (und es gibt davon Hunderte), so zu verstehen: Es ist Tatsache, dass Menschen ihr Leben verfehlen können. Es ist Tatsache, dass Menschen, die vielleicht von Geburt an unter Armut und Demütigung gelitten haben, später aus lauter innerer Finsternis Angst und Schrecken gegen andere verbreiten: Gewalt, Krieg und Terror. Es ist Tatsache, dass es dunkle Kräfte in uns und um uns gibt, die das Feuer unserer Sehnsucht nach dem Guten, nach Liebe und Frieden ersticken können. Es gibt Traurigkeit, die tötet. Es gibt Depression und Krankheiten der Angst. Dagegen – das ist Tatsache – muss der Mensch auch kämpfen. Gebet ist das stärkste Kampfmittel auf Seiten des Guten, auf Seiten des Lichtes, auf Seiten des Glaubens. Gebet ist stärker als Zerstreuung und Medikamente. Alles zu seinem Zweck. Gebet als Zeit, sich von Gott erfüllen zu lassen, trägt durch.

Aber niemals – so Frère Roger – maße ich mir an, jemanden anders verloren zu geben. Und niemals möchte ich meinem inneren Selbstzweifel erliegen und mich im Grunde selbst verloren geben, indem ich der Liebe Gottes nicht wirklich zutraue, dass sie größer ist als meine Finsternis und meine Verfehlung. Niemals lasse ich mir ein zweifelhaftes und in seiner Wirkung manchmal tödliches Gottesbild einreden.

Die Selbstmordattentate unserer Zeit sind ohne ein finsteres Gottesbild nicht denkbar. Im Grunde geht es auch in dieser Frage um eine geistige Auseinandersetzung in denkbar größter Klarheit, Dringlichkeit und Tiefe: Wer ist Gott in Wahrheit? Was ist das menschliche Leben in Wahrheit? Was ist sein Sinn?

Inmitten von Fragen der Weltwirtschaft und des politischen Friedenskalküls geht es um solche grundlegenden geistig-seelischen Fragen. Sie stehen auf der Tagesordnung der Welt in Wahrheit ganz oben.

Wer allein oder miteinander die Bibel liest im Geist dieser Fragen – im Geist des Gebetes – kommt zum „inneren Zeugnis“, kommt zur „Wiedergeburt“, wie Johannes sagen kann. Wo und wann und wie Gott will. So lernen wir, die ganze Bibel evangelisch zu lesen.

Und hören dann: „Das habe ich euch geschrieben, damit ihr wisst, dass ihr das ewige Leben habt.“

Und die andern auch. Irgendwann. Irgendwie. Weil Gott will.

Amen.

Bernd Vogel
Bernd.Vogel@evlka.de


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