Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

1. Sonntag nach Epiphanias, 11. Januar 2004
Predigt übe
r Römer 12, 1-8, verfaßt von Hans-Hermann Jantzen
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

einen “vernünftigen Gottesdienst“: kann es das überhaupt geben? Ist Gottesdienst nicht immer un-vernünftig? In einer Welt, in der angeblich alles rational durchgeplant und berechnet wird; in der alles Handeln nach seinem Zweck und Nutzen befragt wird: hat da der Gottesdienst überhaupt Platz?

In den Weihnachtstagen kam das Gespräch mit unseren beiden erwachsenen Kindern darauf, was heute junge Menschen dazu bewegen kann, in der Kirche zu bleiben. Beide hatten die Beobachtung gemacht, dass viele ihrer Studienfreunde ihre Kirchenmitgliedschaft spätestens dann in Frage stellen, wenn sie ihr erstes Geld verdienen und plötzlich entdecken, dass sie Kirchensteuern zahlen. Und beide waren sich ziemlich einig: Wenn etwas ihre Altersgenossen noch in der Kirche halten könne, dann höchstens das gesellschaftliche und diakonische Engagement der Kirche. Der Gottesdienst dagegen wäre wohl für kaum jemanden ein überzeugendes Argument, Mitglied der Kirche zu bleiben.

Ein Beispiel für das zwiespältige Gefühl, mit dem viele evangelische Christen dem Gottesdienst begegnen. Vielleicht würden sie sogar protestieren, wenn die Kirche in ihrem Dorf geschlossen und der Gottesdienst ausfallen würde. Aber selber hingehen? Nur in besonderen Fällen. Nur in einer ganz bestimmter Seelenlage. Ihnen erscheint es wichtiger, den Glauben im Alltag der Welt zu bewähren, als am Sonntag mit der gottesdienstlichen Liturgie Gott die Ehre zu geben und seine Zuwendung zur Welt zu feiern.

Ist das die Alternative, vor die Paulus uns hier stellt: Ethik oder Liturgie? Der vernünftige Gottesdienst im Alltag der Welt oder liturgischer Gottesdienst am Sonntag in der Kirche? Jedenfalls haben diese Sätze aus dem Römerbrief im Laufe der Jahrhunderte kräftig dazu beigetragen, dass in den protestantischen Kirchen die Liturgie gering geschätzt und zugunsten der Ethik abgewertet wurde. Die reservierte Haltung, die viele evangelische Christen gegenüber dem Gottesdienst an den Tag legen, hängt auch mit der Wirkungsgeschichte dieser Bibelverse zusammen. Man konnte sich ja sogar auf Paulus berufen, wenn es einem mehr darauf ankam, im Alltag der Welt als „anständiger Mensch“ zu leben als unbedingt am Sonntagvormittag in die Kirche zu gehen und mit der Gemeinde Gottesdienst zu feiern.

Eine verhängnisvolle Entwicklung, wie wir inzwischen erkannt haben. Die Entwertung der Liturgie, des sonntäglichen Gottesdienstes ist unserer evangelischen Kirche nicht gut bekommen und hat dazu geführt, dass auch der „vernünftige Gottesdienst“ im Alltag kaum noch zu erkennen ist. Es ist gut, dass wir wieder anfangen, von unseren katholischen und orthodoxen Geschwistern zu lernen. Das ökumenische Taizé-Treffen in Hamburg über den Jahreswechsel mit 60000 jungen Menschen ist ein hoffnungsvolles Zeichen.

Ein aufmerksamer Blick in unseren Predigtabschnitt zeigt uns allerdings, dass es gar nicht um ein „entweder - oder“ geht, sondern vielmehr um ein „sowohl - als auch“. Nicht das Eine lassen, um das Andere (vielleicht) zu tun; sondern aus dem Einen Kraft schöpfen, um das Andere bewusst zu leben und durchzuhalten.

Hören wir noch einmal auf den Apostel Paulus:

„Ich ermahne euch nun“ – besser müsste es heißen: ich ermutige euch – „liebe Schwestern und Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes...“ Wie ein großes leuchtendes Vorzeichen steht das vor allem Folgenden, sozusagen das große Plus vor der Klammer. Weil Gott barmherzig mit uns ist; weil er sich uns in Jesus Christus liebevoll zugewandt hat und uns wertschätzt; weil er uns um Christi willen freigesprochen hat von aller Schuld und Selbstbezogenheit, darum können wir aufrecht durchs Leben gehen und diese Welt nach Gottes Willen gestalten. Gottes Barmherzigkeit ist die Voraussetzung dafür, dass uns so etwas wie vernünftiger Gottesdienst im Alltag der Welt überhaupt gelingen kann.

Das gilt es zu allererst zu begreifen, dankbar anzunehmen und zu feiern. Und wo anders kann das besser geschehen als im Gottesdienst inmitten der Gemeinde? Paulus setzt also den Gemeindegottesdienst voraus, wenn er uns ermutigt, die erfahrene Barmherzigkeit Gottes nun auch im alltäglichen Leben umzusetzen: „...dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst.“

Merken Sie, wie hier auf einmal die Kirchentür weit auf geht und die Zugluft der Welt hereinweht? Oder andersherum: wie das Wehen des Heiligen Geistes nach draußen drängt? In der Tat ist es ein wichtiges Kennzeichen des evangelischen Gottesdienstes, dass er nicht nach ei-ner Stunde zu Ende ist und an der Kirchentür endet, sondern sich in unserm Leben, im Alltag der Welt fortsetzt.

Wie gesagt, dieser Gedanke kommt dem Empfinden vieler Menschen heute entgegen. Das praktische Christentum ist auch Kirchenfernen oder Nichtchristen leichter plausibel zu machen als Liturgie, Lobpreis und Gebet, Predigt und Sakrament. Grundsätzliche Vorbehalte gegen den Gottesdienst mögen hinzu kommen: „Wozu braucht es dieses ganze 'Brimborium'? Das sind doch nur Lippenbekenntnisse! Was zählt, ist einzig die praktische Bewährung des Glaubens im Alltagsleben.“

Paulus nimmt diese Kultkritik auf. Der Begriff des „vernünftigen Gottesdienstes“ stammt aus der griechischen Popularphilosophie der Stoa und wendet sich gegen den Aberglauben, man könne die Götter durch Opfer gnädig stimmen. Auch die Kritik der altestamentlichen Propheten am Opferkult schwingt hier mit, etwa wenn Hosea als Wort Gottes verkündet: „Ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer!“ (Hos. 6, 6) - ein Satz, auf den Jesus im Matthäusevangelium Bezug nimmt. Wenn Paulus hier schreibt: „Gebt eure Leiber hin als ein Opfer...“ dann liegt das ganz auf dieser Linie. Der Glaube, die Hingabe an Gott beansprucht unsere ganze Person und will sich gerade auch im außergottesdienstlichen Bereich, im Alltag, bewähren.

Nur dürfen wir eben den „Weltdienst“ und den „Gottesdienst“ nicht auseinander reißen! Beides gehört untrennbar zusammen. Die weltoffene, auf die Welt bezogene Existenz des Christen hat ihren Halt, ihren Anker im Christusgeschehen, in der barmherzigen Zuwendung Gottes zur Welt. Die Kultkritik dürfen wir gern als einen durch und durch evangelischen Gedanken übernehmen: wir können unser Gottesverhältnis durch keine noch so fromme Leistung in Ordnung bringen! Paulus selber aber versteht unter Gottesdienst etwas Anderes: die Begegnung zwischen Gott und seiner Gemeinde; das heilende, Gemeinschaft stiftende Handeln Gottes. Und das muss gefeiert werden! So ist und bleibt der Gottesdienst die Basis und Kraftquelle für alles christlich-ethische Handeln in der Welt.

Dass Gottesdienst nicht im weltlichen Handeln aufgeht, zeigen die folgenden Sätze: „Stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist.“

Umkehren, mich ändern; neu über mein Gottes- und Weltverhältnis nachdenken; kritisch überprüfen, was denn Gottes Wille in der konkreten Situation ist: das sind Kennzeichen christlicher Existenz. Auch das atmet protestantischen Geist. Gottes Wille ist nicht nur ein Gefühl im Bauch, nicht nur intuitive Eingabe oder Ekstase. Was Gottes Wille ist; was gut und Gott „wohlgefällig“ ist, das ist in kritischer Auseinandersetzung mit der biblischen Überlieferung und den Problemen des Alltags immer wieder neu herauszufinden und zu überprüfen.

Eine letztes Missverständnis gilt es nun noch zu beseitigen, für das wiederum wir evangelischen Christen besonders anfällig sind. Vorrangiger Ort für diese kritische Prüfung ist nach Paulus nämlich nicht das Individuum, nicht mein eigenes Gewissen, sondern die Gemeinde. Im gemeinsamen Hören und Feiern, Singen und Beten klärt sich für mich, wo mein Platz in der Gemeinde und in der Welt ist. In der gemeinsamen Bezogenheit auf Christus und im geschwisterlichen Gespräch wird mir klar, wo Gott mich haben will und wo meine besonderen Gaben liegen. So gewiss der vernünftige Gottesdienst über die Gemeinde hinaus geht und in die Welt drängt, so sicher geht er vom Gottesdienst der Gemeinde aus und nimmt in der Gemeinde zu allererst Gestalt an.

Paulus macht das anschaulich mit dem Bild von dem einen Leib und den vielen Gliedern: „Wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir viele ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des andern Glied, und haben verschiedene Gaben nach der Gnade, die uns gegeben ist.“ (V. 4-6a) Wenn wir uns auf Christus beziehen und als Glieder seines Leibes verstehen, klären sich viele Dinge, die uns, auch in der Kirche, oft Probleme bereiten: Die Konkurrenz untereinander ist aufgehoben in einer geschwisterlichen Verbundenheit. Die unterschiedlichen Fähigkeiten begründen nicht länger eine hierarchische Über- und Unterordnung, sondern werden als von Gott geschenkte Gaben verstanden. -

Was ist „vernünftiger“ Gottesdienst? Und wo hat er seinen Platz? Am Sonntag in der Kirche oder im Alltag der Welt? Paulus überwindet diese Alternative. Gottesdienst und Weltdienst müssen zusammen bleiben. Erst beides zusammen, die Vergewisserung der Barmherzigkeit Gottes in der gemeinsamen gottesdienstlichen Feier und das ethisch-christliche Handeln in der Welt bilden den vernünftigen Gottesdienst. Weil unser Leben eine Einheit aus Gefühl, Verstand und Tat ist, brauchen wir beides. Darum ist es „vernünftig“ Gottesdienst zu feiern, um die Erinnerung an Gottes heilsame Zuwendung lebendig zu halten. Es ist „vernünftig“ Gottesdienst zu feiern, um gemeinsam kritisch zu prüfen, was Gottes Wille ist. Und es ist „vernünftig“ Gottesdienst zu feiern, damit wir Gottes Barmherzigkeit leibhaftig in die Welt hinaus tragen.

Es ist gut, dass bei allen Einspardiskussionen der Gottesdienst am Sonntag nicht zur Disposition steht. Lasst uns daran festhalten und ihn entsprechend wertschätzen. Die Welt sieht anders aus, wenn wir sie unter dem Vorzeichen der Barmherzigkeit Gottes ansehen. Der Gottesdienst gibt uns den Grund unter die Füße und den nötigen langen Atem, dass wir in unserm Alltag für diese Barmherzigkeit einstehen können. Das wollen wir uns auch heute wieder zusprechen lassen. Mit dem alten Kanzelsegen wollen uns zum vernünftigen Gottesdienst in der Welt ermutigen lassen: „Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.“ Amen.

Hans-Hermann Jantzen
Landessuperintendent für den Sprengel Lüneburg
Hasenburger Weg 67, 21335 Lüneburg
E-Mail: Hans-Hermann.Jantzen@evlka.de


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