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2. Sonntag nach Epiphanias,
18. Januar 2004 |
Im Brief an die Römer schreibt der Apostel Paulus im 12. Kapitel: Lieber Paulus! Hast du das eigentlich je einmal erlebt? In Korinth, in Thessalonich, in Philippi oder wo du sonst noch gewesen bist? Was du hier schreibst, ist für mich ein Idealbild, eine Vision, wie ein Leben miteinander im besten Fall gelingen kann. Aber ich bitte dich: die Wirklichkeit sieht anders aus. Das Zusammenleben von Menschen war zu deiner Zeit bestimmt nicht einfacher als heute, auch wenn manches bei uns in Deutschland ganz anders ist. Unsere Gesellschaft ist viel differenzierter als zu deiner Zeit. Menschen lassen sich nicht mehr einteilen in eine reiche Oberschicht, die in riesigem Luxus schwelgt, in freigelassene Sklaven, die den Handel beherrschen, in verarmte Arbeiter und Schuldsklaven. Auch unsere Volkskirche hat ganz andere Strukturen als die Gemeinde in Rom, an die du schreibst. Unsere Gemeinden sind so groß, dass niemand mehr alle Mitglieder kennt. Keiner ist auch nur ansatzweise in der Lage, Beziehung zu 1800 Menschen aufzunehmen. Das geht beim besten Willen nicht. Das war bei den Hausgemeinden zu deiner Zeit leichter: da kannte man sich, da war vielleicht auchNestwärme möglich. Da gab es wohl einen Zusammenhalt, da waren Menschen auch aufeinander angewiesen. Manches war anders zu deiner Zeit, Paulus, aber vieles ist gleich geblieben. Wo Menschen miteinander leben und arbeiten, da gibt es unterschiedliche Interessen. Da sieht jeder nur das Seine und nimmt nicht mehr die Bedürfnisse des anderen wahr und da meinen Menschen zu wissen, was gut ist für den anderen. Wo Menschen miteinander leben und arbeiten, da gibt es immer auch Konkurrenz, da spielt Neid eine Rolle, da gibt es Missverständnisse und da ist immer ein großes Bedürfnis da, über andere zu reden. Da sehen Menschen den anderen durch ihre Brille und bewerten ihn nach ihren Maßstäben. Lieber Paulus, ich glaube, daran hat sich nichts geändert. Ich
fürchte, wir Menschen haben da in den letzten 2000 Jahren nicht
viel Entscheidendes dazu gelernt. Ich vermute ja: die Menschen zu deiner Zeit haben genauso wie wir heute gedacht, dass Liebe das Einfachste der Welt ist. Dass niemand sich darum bemühen muss, dass die Liebe am Leben bleibt. Nichts sei leichter, als sich zu lieben, obwohl wir tagtäglich erleben, manchmal ja auch am eigenen Leib, wie schwer das ist. Und wie es passieren kann, dass Liebe umschlagen kann in Hass und Aggression und Verachtung. Kaum ein Traum zerbricht so schnell an der Realität wie die Hoffnung,
die Liebe würde ohne eigene Arbeit und Mühe bis in alle Ewigkeit
dauern. Und ich bin überzeugt, auch bei den Menschen, die sich wehtun
und verletzen, stand am Anfang oft die Liebe. Ja, Paulus, auch dort, wo Menschen lebendig sind und sich spüren und miteinander leben und arbeiten und ihren Hoffnungen Ausdruck geben, auch dort machen sie immer wieder die Erfahrung: es ist schwer, diese geschwisterliche Liebe zu leben. Es gibt Situationen, da bin ich einfach ratlos, da bin ich verzweifelt, da bin ich am Ende meiner Kraft. Nicht nur ich habe schon erlebt, dass meine Hoffnung enttäuscht wurde, dass meine Bilder vom anderen zerbrochen sind. Und ich weiß, wie weh das tut, wenn andere mir nicht ehrlich begegnen und hinter meinem Rücken Schlechtes reden. Ja, die Liebe zwischen zwei Menschen, die Liebe zwischen Eltern und
Kindern, und die Liebe zwischen Menschen, die in einer Gemeinde sich
begegnen und die ein Stück ihres Lebens miteinander teilen, diese
Liebe ist eine Kunst. Wer lieben will, so wie du das beschreibst, der muss dem Menschen neben sich Raum lassen. Nur wer diesen Raum der Liebe geschenkt bekommt, der kann sich entfalten und wachsen. Menschen wachsen an den Hoffnungen, die in sie gesetzt werden und sie können manchmal Ideen und Kräfte entwickeln, die sie nur in diesem Raum der Liebe entfalten können. Und doch, Paulus, das fällt schwer. Denn oft weiß ich genau, was gut ist für den anderen. Oft weiß ich genau, was die andere braucht. Oft weiß ich genau, was der andere tun soll und welche Aufgaben er zu erfüllen hat. Und ich merke gar nicht, wie ich ihm meine eigenen Bilder überstülpe und ihm seinen Raum nehme, wo er lieben und arbeiten und seinen Ideen und Hoffnungen entfalten kann. Ich merke gar nicht, wie ich dem anderen die Luft nehme zum Atmen, weil ich doch nur das Beste will für ihn und für mich. Ja, es ist es wichtig, dass Menschen einander Raum geben, wo sie sich begegnen und miteinander leben und arbeiten. Ein zweites sprichst du an: den ehrlichen Umgang miteinander. Du kennst uns Menschen durch und durch, dass du das gleich so offen ansprichst. Du hast bestimmt auch deine Erfahrungen gemacht, wie schwer das Menschen fällt, dem anderen immer das wahre Gesicht zu zeigen. Ihm ehrlich zu begegnen, ohne Hintergedanken, ohne Fassade, ohne eine höfliche Freundlichkeit, die den anderen im Grunde nur tief verachtet. Du weißt, wie schwer mir das fällt, dass ich dem anderen zeige, wer ich wirklich bin und was ich fühle, was ich meine und denke und plane. Wenn ich dich richtig verstehe, dann hat dieser ehrliche Umgang miteinander
ganz viel damit zu tun, wie sich der einzelne sieht. Paulus, kann es sein, dass mein Bedürfnis, dass alle und alles
möglichst perfekt sein muss damit zusammenhängt, dass Menschen
immer wieder das Gefühl haben: ich werde nicht wahrgenommen, ich
werde nicht gesehen? Paulus, ich glaube, das ist eine Krankheit unserer Zeit: dass Menschen so oft das in den Vordergrund stellen, was fehlt und darüber nicht mehr wahrnehmen können, was ihnen geschenkt ist und was sie von anderen empfangen. Ich habe auch fast den Eindruck: je reicher Menschen leben, desto mehr machen sie sich an dem fest, was ihnen ihrer Meinung nach fehlt. Ich bin immer wieder Menschen begegnet in Ländern der Dritten Welt, die waren wirklich arm, und in ihren Gemeinden hab es lange nicht so viele Angebote wie bei uns heute. Ich bin in Slumgemeinden in Korea Menschen begegnet, die treffen sich zum Gottesdienst und zum gemeinsamen Essen, und die schöpfen daraus ihre Kraft für ihren Alltag. Trotz allem, was sie nach unseren deutschen Maßstäben nicht haben, haben sie sehr zufrieden gewirkt. Aber ich möchte dabei nicht stehen bleiben. Ich bin froh, dass du uns da auf ein Geheimnis aufmerksam machst, das uns alle entlasten kann und diesen Zwang zum Perfektionismus auch nehmen kann. Zwischen den Zeilen sagst du: Keiner muss alles können. Das tut mir gut. Ich bin froh, dass ich nicht alles können muss, dass ich meine Stärken und Schwächen haben darf. Und ich bin froh, dass du uns auf das Geheimnis aufmerksam machst, wie Menschen lernen können, nicht immer nur das Defizit zu sehen und zu jammern und zu klagen. Denn wer immer nur auf das sieht, was fehlt, wird nichts anderes mehr wahrnehmen. Du sagst uns: Jeder von uns hat eine Aufgabe, jeder hat seine Begabungen. Du nennst das Charismen, Gnadengaben. Und meine Aufgabe ist, auf Entdeckungsreise zu gehen, was ich gut kann, wo meine Stärke ist, und diese Begabung nicht bei mir zu behalten sondern sie einzubringen. Ja, Paulus, das ist ganz einfach und zugleich genial: Wenn in einer Gemeinde viele Menschen auf Talentsuche gehen und ihre Fähigkeiten und Begabungen einsetzen für andere, dann wird das ein richtig lebendige Gemeinschaft. Da können Menschen entdecken, was ihnen geschenkt ist und da können Menschen das miteinander teilen und sich unterstützen. Sie können auch die Kraft spüren, die sie daraus bekommen: Das, was ich anderen verschenke an Zeit und Kraft und wo ich meine Gaben einsetze, das kommt wieder als Lebensfreude zu mir zurück. Wo Menschen ihre Begabungen teilen mit anderen, werden sie gesehen und müssen die Fehler und Schwächen nicht immer beim anderen suchen. Ein dritter Punkt ist dir wichtig, Paulus: unser Mitgefühl. Auch das gehört zur Kunst des Liebens: dass Menschen sich zeigen, so wie sie sind: in ihrer Fröhlichkeit und Ausgelassenheit, in ihrer Heiterkeit und mit ihrer Freude – und in ihrem Schmerz und ihrer Trauer, mit ihrer Verzweiflung und ihrer Scham. Dazu gehört, dass Menschen mitfühlen: in meiner Bibel ist dieser Satz ganz fett gedruckt: „Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden.“ Vielleicht ist das Menschen in deinen Gemeinden leichter gefallen. Aber wir werden von klein an dazu erzogen, dass wir etwas leisten, dass wir etwas schaffen, dass wir gute Noten mit nach Hause bringen, dass wir Erfolg haben, bei uns spielen Gefühle nur eine kleine Rolle. Bei uns müssen Menschen funktionieren. Wir lernen oft gar nicht mehr, unsere Freude zu spüren und unsere Trauer, unsere Fröhlichkeit und unsere Traurigkeit. So vieles decken wir zu und lenken uns ab mit unseren unzähligen Beschäftigungen. „Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden“: das heißt auch, dass Menschen Abschied nehmen von ihren Beurteilungen und Verurteilungen, von ihren Erwartungen und ihren Klagen. Nur dort, wo ich mit dem anderen mitfühle, kann ich ihm offen und ehrlich begegnen. Lieben ist wirklich eine Kunst und dazu noch eine Riesenaufgabe, lieber Paulus. Und ich spüre heraus: Wo Menschen einander begegnen mit dieser Anteilnahme und diesem Mitgefühl, wo Menschen ihr wahres Gesicht zeigen können und sie ihre Begabungen einbringen, dort, wo Menschen einander den offenen Raum der Liebe geben, hat das eine ganz starke Ausstrahlung nach außen. Ja, Paulus: so würde ich mir das Zusammenleben von Menschen auch
gerne wünschen. Ich sehne mich sehr danach, dass wir dieses Idealbild
uns immer wieder vor Augen stellen und dass das so eine Art Leitbild
wird, ein Bild, das uns leitet, für unser Zusammenleben in den Familien
und im Beruf und in der Gemeinde. Du hast selber ja viele Enttäuschungen durchgemacht. Und doch machst du mir und uns allen Mut: „Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet.“ Es entlastet mich, dass ich nicht aus eigener Kraft dieses Idealbild verwirklichen muss. Ich bin froh, dass ich aus der Kraft des Glaubens leben darf und ich brauche auf diesem Weg der Liebe viel, viel Geduld und ich brauche die Verbindung im Gebet. Nur so können Menschen immer wieder kleine, vorsichtige Schritte gehen und sich den Raum für die Liebe lassen, ehrlich sein und Anteil nehmen, ihre Aufgaben erkennen und sich verschenken. Du bist selber in deinem Leben immer wieder solche Schritte gegangen. Du hast mit deinen Gemeinden mitgelitten und dich mitgefreut. Und wenn du ihnen und uns deine Ermahnungen mit auf den Weg gibst, dann weiß ich: du tust das nicht als Moralapostel. Dahinter steht deine Liebe, die gespeist ist aus einer viel größeren Liebe. Und aus dieser Liebe möchte ich auch leben. Gunhild Riemenschneider |
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