Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

2. Sonntag nach Epiphanias, 18. Januar 2004
Predigt übe
r Römer 12, 4-16, verfaßt von Gunhild Riemenschneider
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Im Brief an die Römer schreibt der Apostel Paulus im 12. Kapitel:
(Textlesung)
...
Letzte Woche habe ich mich hingesetzt und Paulus eine Brief geschrieben.

Lieber Paulus!
“Die Liebe sei herzlich, die Liebe sei ohne Falsch, seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, geharrlich im Gebet, freut euch mit den Fröhlich und weint mit den Weinenden, und, und und...“:So viele Ermahnungen am Stück geben nicht einmal besorgte Eltern ihren Kindern mit auf den Weg. Fast habe ich den Eindruck, du sprichst hier vom Himmel auf Erden. Ist das nicht zu schön, um wahr zu sein, wie du hier das Zusammenleben von Menschen und das Leben in einer Gemeinde beschreibst? Nimmst du den Mund nicht zu voll? Eine Gemeinschaft, wo jeder seine Begabungen einbringt, wo Menschen einander achten und mit Respekt begegnen, wo sie mitfühlen und aufrichtig und fair miteinander umgehen.

Hast du das eigentlich je einmal erlebt? In Korinth, in Thessalonich, in Philippi oder wo du sonst noch gewesen bist? Was du hier schreibst, ist für mich ein Idealbild, eine Vision, wie ein Leben miteinander im besten Fall gelingen kann. Aber ich bitte dich: die Wirklichkeit sieht anders aus.

Das Zusammenleben von Menschen war zu deiner Zeit bestimmt nicht einfacher als heute, auch wenn manches bei uns in Deutschland ganz anders ist. Unsere Gesellschaft ist viel differenzierter als zu deiner Zeit. Menschen lassen sich nicht mehr einteilen in eine reiche Oberschicht, die in riesigem Luxus schwelgt, in freigelassene Sklaven, die den Handel beherrschen, in verarmte Arbeiter und Schuldsklaven.

Auch unsere Volkskirche hat ganz andere Strukturen als die Gemeinde in Rom, an die du schreibst. Unsere Gemeinden sind so groß, dass niemand mehr alle Mitglieder kennt. Keiner ist auch nur ansatzweise in der Lage, Beziehung zu 1800 Menschen aufzunehmen. Das geht beim besten Willen nicht. Das war bei den Hausgemeinden zu deiner Zeit leichter: da kannte man sich, da war vielleicht auchNestwärme möglich. Da gab es wohl einen Zusammenhalt, da waren Menschen auch aufeinander angewiesen.

Manches war anders zu deiner Zeit, Paulus, aber vieles ist gleich geblieben.

Wo Menschen miteinander leben und arbeiten, da gibt es unterschiedliche Interessen. Da sieht jeder nur das Seine und nimmt nicht mehr die Bedürfnisse des anderen wahr und da meinen Menschen zu wissen, was gut ist für den anderen.

Wo Menschen miteinander leben und arbeiten, da gibt es immer auch Konkurrenz, da spielt Neid eine Rolle, da gibt es Missverständnisse und da ist immer ein großes Bedürfnis da, über andere zu reden. Da sehen Menschen den anderen durch ihre Brille und bewerten ihn nach ihren Maßstäben.

Lieber Paulus, ich glaube, daran hat sich nichts geändert. Ich fürchte, wir Menschen haben da in den letzten 2000 Jahren nicht viel Entscheidendes dazu gelernt.

Was kannst du uns dann mit diesen vielen Ermahnungen dann aber mit auf den Weg geben? Welchen Sinn hat das Idealbild, das du uns da so leuchtend vor Augen stellst?
Wenn ich dich recht verstehe, dann geht es hier – wie auch sonst so oft in deinen Briefen um etwas ganz Wichtiges in unserem Zusammenleben : es geht um die Liebe.

Ich vermute ja: die Menschen zu deiner Zeit haben genauso wie wir heute gedacht, dass Liebe das Einfachste der Welt ist. Dass niemand sich darum bemühen muss, dass die Liebe am Leben bleibt. Nichts sei leichter, als sich zu lieben, obwohl wir tagtäglich erleben, manchmal ja auch am eigenen Leib, wie schwer das ist. Und wie es passieren kann, dass Liebe umschlagen kann in Hass und Aggression und Verachtung.

Kaum ein Traum zerbricht so schnell an der Realität wie die Hoffnung, die Liebe würde ohne eigene Arbeit und Mühe bis in alle Ewigkeit dauern. Und ich bin überzeugt, auch bei den Menschen, die sich wehtun und verletzen, stand am Anfang oft die Liebe.

Aber du meinst ja nicht in erster Linie die Liebe von Menschen in einer Familie, du sprichst hier vor allem von der brüderlichen Liebe, wie du das nennst. Ich möchte ergänzen: auch von der schwesterlichen Liebe. Denn wir Frauen möchten heute auch gesehen und angesprochen werden. Das ist heute anders als bei dir damals.
Verstehe ich dich richtig, wenn du mit dieser Liebe die Sympathie für einen anderen meinst, und die Hoffnung, die ich in mir spüre, wenn ich mich mit anderen zusammen für etwas begeistere und wo wir miteinander planen und entwickeln und unsere Ideen verwirklichen? Dass zu dieser Liebe auch die Freude und Lebendigkeit gehören, die ich in der Begegnung mit anderen immer wieder erleben darf? Und dass ich erfahren darf, dass ich Möglichkeiten und Begabungen in mir habe, die andere in mir wecken und zum Vorschein bringen?
Ist das nicht auch Liebe?
Liebe ist eine Kunst. Ich bin sicher, Paulus: du hast das gewusst: ein liebevoller Umgang miteinander fällt uns nicht in den Schoß.

Ja, Paulus, auch dort, wo Menschen lebendig sind und sich spüren und miteinander leben und arbeiten und ihren Hoffnungen Ausdruck geben, auch dort machen sie immer wieder die Erfahrung: es ist schwer, diese geschwisterliche Liebe zu leben. Es gibt Situationen, da bin ich einfach ratlos, da bin ich verzweifelt, da bin ich am Ende meiner Kraft.

Nicht nur ich habe schon erlebt, dass meine Hoffnung enttäuscht wurde, dass meine Bilder vom anderen zerbrochen sind. Und ich weiß, wie weh das tut, wenn andere mir nicht ehrlich begegnen und hinter meinem Rücken Schlechtes reden.

Ja, die Liebe zwischen zwei Menschen, die Liebe zwischen Eltern und Kindern, und die Liebe zwischen Menschen, die in einer Gemeinde sich begegnen und die ein Stück ihres Lebens miteinander teilen, diese Liebe ist eine Kunst.
Paulus, wenn ich dich recht verstehe, dann gehören zu dieser Kunst des Liebens drei ganz wichtige Dinge.

Wer lieben will, so wie du das beschreibst, der muss dem Menschen neben sich Raum lassen. Nur wer diesen Raum der Liebe geschenkt bekommt, der kann sich entfalten und wachsen. Menschen wachsen an den Hoffnungen, die in sie gesetzt werden und sie können manchmal Ideen und Kräfte entwickeln, die sie nur in diesem Raum der Liebe entfalten können.

Und doch, Paulus, das fällt schwer. Denn oft weiß ich genau, was gut ist für den anderen. Oft weiß ich genau, was die andere braucht. Oft weiß ich genau, was der andere tun soll und welche Aufgaben er zu erfüllen hat. Und ich merke gar nicht, wie ich ihm meine eigenen Bilder überstülpe und ihm seinen Raum nehme, wo er lieben und arbeiten und seinen Ideen und Hoffnungen entfalten kann. Ich merke gar nicht, wie ich dem anderen die Luft nehme zum Atmen, weil ich doch nur das Beste will für ihn und für mich.

Ja, es ist es wichtig, dass Menschen einander Raum geben, wo sie sich begegnen und miteinander leben und arbeiten.

Ein zweites sprichst du an: den ehrlichen Umgang miteinander. Du kennst uns Menschen durch und durch, dass du das gleich so offen ansprichst. Du hast bestimmt auch deine Erfahrungen gemacht, wie schwer das Menschen fällt, dem anderen immer das wahre Gesicht zu zeigen. Ihm ehrlich zu begegnen, ohne Hintergedanken, ohne Fassade, ohne eine höfliche Freundlichkeit, die den anderen im Grunde nur tief verachtet. Du weißt, wie schwer mir das fällt, dass ich dem anderen zeige, wer ich wirklich bin und was ich fühle, was ich meine und denke und plane.

Wenn ich dich richtig verstehe, dann hat dieser ehrliche Umgang miteinander ganz viel damit zu tun, wie sich der einzelne sieht.
Nur wer mit sich im Reinen ist, der kann zu sich stehen mit all seinen Schwächen und Fehlern. Nur wer sich geliebt weiß, der muss die Schwächen und Fehler nicht immer beim anderen suchen und den Finger dort in die Wunde legen. Nur wer weiß, dass er angenommen ist, kann damit leben, dass der andere nicht perfekt ist.

Paulus, kann es sein, dass mein Bedürfnis, dass alle und alles möglichst perfekt sein muss damit zusammenhängt, dass Menschen immer wieder das Gefühl haben: ich werde nicht wahrgenommen, ich werde nicht gesehen?
Oft höre ich Menschen klagen, was der andere alles nicht kann und nicht mitbringt. Das sind Menschen, die einen Partner suchen, das sind Eltern, die über ihre Kinder reden, oder das sind Menschen in einer Gemeinde oder bei der Arbeit: So oft höre ich Klagen über das, was nicht da ist.

Paulus, ich glaube, das ist eine Krankheit unserer Zeit: dass Menschen so oft das in den Vordergrund stellen, was fehlt und darüber nicht mehr wahrnehmen können, was ihnen geschenkt ist und was sie von anderen empfangen. Ich habe auch fast den Eindruck: je reicher Menschen leben, desto mehr machen sie sich an dem fest, was ihnen ihrer Meinung nach fehlt.

Ich bin immer wieder Menschen begegnet in Ländern der Dritten Welt, die waren wirklich arm, und in ihren Gemeinden hab es lange nicht so viele Angebote wie bei uns heute. Ich bin in Slumgemeinden in Korea Menschen begegnet, die treffen sich zum Gottesdienst und zum gemeinsamen Essen, und die schöpfen daraus ihre Kraft für ihren Alltag. Trotz allem, was sie nach unseren deutschen Maßstäben nicht haben, haben sie sehr zufrieden gewirkt.

Aber ich möchte dabei nicht stehen bleiben. Ich bin froh, dass du uns da auf ein Geheimnis aufmerksam machst, das uns alle entlasten kann und diesen Zwang zum Perfektionismus auch nehmen kann.

Zwischen den Zeilen sagst du: Keiner muss alles können. Das tut mir gut. Ich bin froh, dass ich nicht alles können muss, dass ich meine Stärken und Schwächen haben darf. Und ich bin froh, dass du uns auf das Geheimnis aufmerksam machst, wie Menschen lernen können, nicht immer nur das Defizit zu sehen und zu jammern und zu klagen. Denn wer immer nur auf das sieht, was fehlt, wird nichts anderes mehr wahrnehmen.

Du sagst uns: Jeder von uns hat eine Aufgabe, jeder hat seine Begabungen. Du nennst das Charismen, Gnadengaben. Und meine Aufgabe ist, auf Entdeckungsreise zu gehen, was ich gut kann, wo meine Stärke ist, und diese Begabung nicht bei mir zu behalten sondern sie einzubringen.

Ja, Paulus, das ist ganz einfach und zugleich genial: Wenn in einer Gemeinde viele Menschen auf Talentsuche gehen und ihre Fähigkeiten und Begabungen einsetzen für andere, dann wird das ein richtig lebendige Gemeinschaft. Da können Menschen entdecken, was ihnen geschenkt ist und da können Menschen das miteinander teilen und sich unterstützen. Sie können auch die Kraft spüren, die sie daraus bekommen: Das, was ich anderen verschenke an Zeit und Kraft und wo ich meine Gaben einsetze, das kommt wieder als Lebensfreude zu mir zurück.

Wo Menschen ihre Begabungen teilen mit anderen, werden sie gesehen und müssen die Fehler und Schwächen nicht immer beim anderen suchen.

Ein dritter Punkt ist dir wichtig, Paulus: unser Mitgefühl. Auch das gehört zur Kunst des Liebens: dass Menschen sich zeigen, so wie sie sind: in ihrer Fröhlichkeit und Ausgelassenheit, in ihrer Heiterkeit und mit ihrer Freude – und in ihrem Schmerz und ihrer Trauer, mit ihrer Verzweiflung und ihrer Scham. Dazu gehört, dass Menschen mitfühlen: in meiner Bibel ist dieser Satz ganz fett gedruckt: „Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden.“

Vielleicht ist das Menschen in deinen Gemeinden leichter gefallen. Aber wir werden von klein an dazu erzogen, dass wir etwas leisten, dass wir etwas schaffen, dass wir gute Noten mit nach Hause bringen, dass wir Erfolg haben, bei uns spielen Gefühle nur eine kleine Rolle. Bei uns müssen Menschen funktionieren. Wir lernen oft gar nicht mehr, unsere Freude zu spüren und unsere Trauer, unsere Fröhlichkeit und unsere Traurigkeit. So vieles decken wir zu und lenken uns ab mit unseren unzähligen Beschäftigungen.

„Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden“: das heißt auch, dass Menschen Abschied nehmen von ihren Beurteilungen und Verurteilungen, von ihren Erwartungen und ihren Klagen. Nur dort, wo ich mit dem anderen mitfühle, kann ich ihm offen und ehrlich begegnen.

Lieben ist wirklich eine Kunst und dazu noch eine Riesenaufgabe, lieber Paulus. Und ich spüre heraus: Wo Menschen einander begegnen mit dieser Anteilnahme und diesem Mitgefühl, wo Menschen ihr wahres Gesicht zeigen können und sie ihre Begabungen einbringen, dort, wo Menschen einander den offenen Raum der Liebe geben, hat das eine ganz starke Ausstrahlung nach außen.

Ja, Paulus: so würde ich mir das Zusammenleben von Menschen auch gerne wünschen. Ich sehne mich sehr danach, dass wir dieses Idealbild uns immer wieder vor Augen stellen und dass das so eine Art Leitbild wird, ein Bild, das uns leitet, für unser Zusammenleben in den Familien und im Beruf und in der Gemeinde.
Aber du verschweigst ja auch nicht, dass dieser Weg nicht mit goldenen Steinen gepflastert ist. Paulus, ich mag das, wenn du trotz allem auch einen Blick hast für die Realität. Du weißt, wie steinig und wie mühevoll dieser Weg der Liebe ist.

Du hast selber ja viele Enttäuschungen durchgemacht. Und doch machst du mir und uns allen Mut: „Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet.“

Es entlastet mich, dass ich nicht aus eigener Kraft dieses Idealbild verwirklichen muss. Ich bin froh, dass ich aus der Kraft des Glaubens leben darf und ich brauche auf diesem Weg der Liebe viel, viel Geduld und ich brauche die Verbindung im Gebet. Nur so können Menschen immer wieder kleine, vorsichtige Schritte gehen und sich den Raum für die Liebe lassen, ehrlich sein und Anteil nehmen, ihre Aufgaben erkennen und sich verschenken.

Du bist selber in deinem Leben immer wieder solche Schritte gegangen. Du hast mit deinen Gemeinden mitgelitten und dich mitgefreut. Und wenn du ihnen und uns deine Ermahnungen mit auf den Weg gibst, dann weiß ich: du tust das nicht als Moralapostel. Dahinter steht deine Liebe, die gespeist ist aus einer viel größeren Liebe. Und aus dieser Liebe möchte ich auch leben.

Gunhild Riemenschneider
Bornweg 12
74081 Heilbronn
mail: riemenschneider@ekhg-hn.de


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