Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

3. Sonntag nach Epiphanias, 25. Januar 2004
Predigt übe
r Römer 1, 14-17, verfaßt von Wolfgang Winter
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Was trägt?

"Griechen wie Barbaren, Gebildeten wie Ungebildeten bin ich verpflichtet.
Daher mein Wunsch, was an mir liegt, auch Euch in Rom das Evangelium zu predigen.
Denn ich schäme mich des Evangeliums von Christus nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, um jeden, der glaubt, zu erretten, den Juden zuerst und genau so auch den Griechen. Denn in ihr wird Gottes Gerechtigkeit kundgemacht – aufgrund des Glaubens und für den Glauben, wie es in der Schrift heißt: wer aus Glauben gerecht ist, wird das Leben haben."

Liebe Gemeinde,

kennen Sie das Gefühl der Scham? Es ist eins der bedrohlichsten Gefühle, die ich kenne. Ich möchte Ihnen ein paar Erfahrungen damit berichten. Vielleicht erkennen Sie Eigenes darin wieder. Anlässe gibt es viele. Ich denke etwa an Gespräche, in denen ich dabei ertappt wurde, dass meine Rede heute nicht mit der überein stimmte, die ich gestern für richtig gehalten habe. Ich denke auch an Situationen, in denen ich mich gegen meine Überzeugungen handelnd vorfand, und ich denke auch an Stunden, in denen mir deutlich wurde, dass ich so, wie ich mich verhielt, nicht dem Bild entsprach, das ich von mir selber hatte.

Ich denke aber vor allem an Situationen des Verlegen-Werdens und Sich–Schämens, wenn ich etwas von meiner innersten Überzeugung zum Ausdruck bringen möchte oder müsste, von dem also, was ich für das Wichtigste in meinem Leben halte. Diese Scham ist nach meiner Überzeugung die tiefgehendste: wenn einer beginnt, sich seiner innersten Überzeugung zu schämen, dessen, was er für das Wichtigste in seinem Leben hält, seines Glaubens. Und wenn er sich dann selbst zu verraten droht.

Was passiert dann?

Wenn ich zu sagen versuche, worauf ich mein Leben baue, wird ja vielleicht etwas dabei herauskommen, was nicht stimmt, was nicht wirklich wahr, vielleicht nur eingebildet oder ungesichert ist, was sich vielleicht als hohl oder als schöner Schein herausstellt. Was einen dann also so beklommen machen kann, ist die Frage an sich selbst: „Kann ich dafür wirklich einstehen?“

Wenn ich von dem zu reden beginne, worauf ich mein Leben baue, kommt weiter zum Vorschein, dass ich trotz aller Leistungen und Verdienste, aber auch trotz allen Versagens und aller Misserfolge offenbare, wie angewiesen ich doch bin. Angewiesen auf die letzte Grundlegung in jedem Leben, die uns lebendig macht und auch erhält und immer wieder ganz und heilt macht, und die uns sagen lässt: „Ich bin, weil Du mich liebst, immer wieder liebst.“ - Menschen können wir dies sicherlich nur zuweilen , und leider nicht immer sagen, weil wir mit ihnen eben auch die anderen Erfahrungen machen, zu Gott aber schon, weil er der Grund der Liebe ist, während bei uns immer nur Spuren von ihr zu finden sind.

Und noch etwas geschieht, wenn ich wegen meines Glaubens verlegen zu werden drohe, wenn ich mich des Evangeliums zu schämen beginne. Dann wird nämlich in meinem Fühlen, Denken und Sprechen recht bald die Gestalt Jesu Christi in ihren Konturen sichtbar werden, vielleicht zunächst nur andeutungsweise und schemenhaft wie von ferne, und dann doch deutlicher – oder aber ganz andere Figuren und Gestalten als Unterpfand und Leitbild meines Glaubens.

Im Bilde Jesu Christi, das vollends zum Ausdruck bringt, wes' Geistes Kind ich bin, wird dann nämlich meine Verletzlichkeit, freilich auch meine Kraft, endgültig deutlich. Er war ja kein großartiger Held auf der Bühne des öffentlichen Lebens. In seinem Bild wird vielmehr die Verletzlichkeit und die Kraft zugleich deutlich, die Zerrissenes und Zerbrochenes, individuelles und gemeinschaftliches Leben immer wieder ganz und heil machen kann. In seinem Bild wird die Verletzlichkeit und die Kraft zugleich deutlich, die uns sagen lässt: „Ich bin Dir wieder gut“; die uns in Gesprächen, hilflos zuweilen, dableiben und aus- und zusammenhalten lässt, was in Stücke zu fliegen oder - geschlagen zu werden droht, und uns Tränen in die Augen treibt, wenn wir Bilder geschundenen Lebens sehen.

Es ist schon eine eigenartige Kraft, die Kraft des Evangeliums, diese Liebe Gottes, die so grundlegend ist, so viel Ruhe ausstrahlt und so lebensfroh und gelassen, aber eben auch verletzlich und mitleidend macht. Und diese Verletzlichkeit ist wohl der letzte Grund dafür, dass man sich schämt. Und dann kommen Furcht und Zweifel und flüstern einem ins Ohr: „Ob das alles wirklich stimmt? Ob das alles wirklich wahr ist?“

Vielleicht haben Sie längst bemerkt, dass ich mich mit meinen Gedanken bereits mitten in den Überlegungen und Sorgen des Autors dieser Briefstelle befinde. Paulus schreibt diese eindrucksvollen Worte über seinen umfassenden Verkündigungsauftrag und deren Kern, die liebende Zuwendung Gottes zu jedem Menschen, ohne jegliche Vorleistung und allein aus Glauben – Paulus schreibt dies in einer Situation, in der er keineswegs gewiss sein konnte, ob diese Botschaft aufgenommen würde. Wie würden die Heidenchristen, wie würden die Judenchristen in Rom reagieren? Leid hatte er schon reichlich von nichtchristlichen Juden und jüdischen Christen, aber auch nichtchristlichen Heiden erfahren. Kurz bevor er an die Römer schrieb, hatte Paulus sich mit anderen Missionaren verglichen. „Ich habe mehr gearbeitet, ich bin öfter gefangen gewesen, ich habe mehr Schläge erlitten, ich bin oft in Todesnöten gewesen ... „(2. Kor. 11, 23)

Was trägt in Krisenzeiten, damals wie heute? Gewiss nicht unser eigenes Verhandlungsgeschick, überhaupt nicht unsere eigenen Leistungen. Es ist umgekehrt. Gott lässt uns teilhaben an seiner Treue, Barmherzigkeit und Liebe. Keine Macht, auch nicht Macht des Zweifels und der Unsicherheit, kann uns trennen von dieser unendlichen Liebe. Nur in der Zuversicht auf sie können wir leben – so wie auch Abraham aus dieser Zuversicht lebte, gegen alle irdische Wahrscheinlichkeit.

Dieser Grund des Lebens vermag uns durch alle persönlichen wie gesellschaftlichen Zerreißproben und über den Tod hinaus zu tragen, wie wir an Jesus Christus sehen können, der dem Tod die Macht genommen hat. Solche Überzeugung, gemeinschaftlich ausgesprochen, ist, wie wenn viele Menschen sich bei den Händen fassen und einen Kreis bilden: das Um- und Übergreifende dieser Wahrheit wird noch einmal sichtbar in symbolischer Weise zum Ausdruck gebracht.

Solcher Glaube hat Wirkungen im täglichen Leben. Paulus spricht öfter von den Früchten des Geistes wie Liebe, Freude, Friede, Geduld. Eine dieser Früchte möchte ich besonders herausheben. Vorhin sprach ich davon, dass die Kraft der Liebe Gottes uns auch verletzlich und mitleidend machen kann. Die Verweigerung von Mit-Leiden und Mit-Fühlen hat meistens damit zu tun, dass wir in der Bedürftigkeit eines anderen Menschen unserer eigenen Bedürftigkeit begegnen. Wir sind dann eher geneigt, den Blick abzuwenden. Dass Gott jedenfalls von keinem Menschen seinen Blick abwendet, das hat Martin Luther einmal so beschrieben: „Menschen wollen in die Tiefe nicht sehen, wo Armut, Schmach, Not, Jammer und Angst ist, da wendet jedermann die Augen ab. Und wo solche Leute sind, das läuft jedermann davon... Gott allein ist solches Hinsehen vorbehalten, das in die Tiefe, die Not, den Jammer sieht, und so ist er allen denen nahe, die in der Tiefe sind. Und je tiefer jemand unter ihm ist, desto besser sieht er ihn“ (Auslegung des Magnificat, zu Luk. 1, 48).

Unsere Blickrichtung muss sich daher umkehren, um Gottes Blick auf den Menschen zu entsprechen. Diesen Wechsel der Perspektive zeigen - das möchte ich zum Schluss noch erzählen - sehr anschaulich die Fotos aus einem Kölner Vorort, die kürzlich in einer Ausstellung zu sehen waren. Zunächst imponierten auf den Bildern die tristen, grauen Kolosse der Hochhäuser. Bei genauerem Hinsehen fiel das Auge des Betrachters auf Kinder, die sich in den seltsamsten Kostümen fotografiert hatten. Beim Tanzen, beim Theaterspielen, beim Grimassenschneiden. So wurden die Bilder lebendig durch den Kontrast zwischen Erstarrung und Bewegung, zwischen Farblosigkeit und Buntheit. Auf diesen Bildern waren die Kinder mehr als bloße Opfer verfehlter Wohnungsbau-Politik. In ihren Bildern war etwas von der Würde selbsttätigen menschlichen Lebens spürbar.

Gott stärke uns darin, die Menschen immer mehr mit solchen Augen ansehen zu lernen.

Amen.

Wolfgang Winter
Studienseminar der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers
stg@gwdg.de

 


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