Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

3. Sonntag nach Epiphanias, 25. Januar 2004
Predigt übe
r Römer 1, 16-17, verfaßt von Dietz Lange
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Die Offenherzigkeit des Glaubens
(Gottesdienst in der Universitätskirche St. Nicolai, Göttingen)

Liebe Gemeinde!

„Ich schäme mich des Evangeliums nicht.“ Das ist ein starkes und imponierendes Bekenntnis. Ein Satz, der des Paulus würdig ist. Nimmt man ihn für sich, so fällt einem gleich der ausführliche Rückblick auf seine Missionsreisen und seine Arbeit in der Gemeinde ein, den er im 11. Kapitel des II. Korintherbriefs gibt. „Ich habe mehr gearbeitet als sie alle“, sagt er dort, und auch mehr um des Glaubens willen erlitten - nicht um damit zu renommieren, sondern um sich gegen unfaire Angriffe zu verteidigen. Niemand wird ihm das Recht zu einem solchen Resümee bestreiten können. Vor 100 Jahren sagte man, er sei ein „Held des Glaubens“ gewesen. Das gleiche Prädikat bekam damals Martin Luther. Man dachte dabei natürlich in erster Linie an dessen mutiges Auftreten auf dem Wormser Reichstag und an die Gefahr für Leib und Leben, der er dabei ausgesetzt war. Das „Heldenhafte“ bekam dann zugleich auch noch einen nationalen Anstrich: der „deutsche Luther“ gegen die römische Ausbeutung. Diese fatalen Nebengeräusche sind bei dem dritten Namen, der einem herkömmlich in diesem Zusammenhang zur Hand ist, bei Dietrich Bonhoeffer, nicht zu vernehmen. Man kann sich freilich fragen, ob dieser Name nicht in unserer Zeit oft genug zur nationalen Ehrenrettung angesichts der im Dritten Reich begangenen Verbrechen und des Versagens so vieler Mitläufer missbraucht wird. Als „Held“ wird er jedenfalls gar nicht selten auch heute verstanden; bisweilen wird aus ihm geradezu an eine Art Kultfigur gemacht.

Immerhin benutzen wir das Wort „Held“ im Zusammenhang des Glaubens heute nicht mehr. Sicher hängt das auch damit zusammen, dass wir nicht in „heroischen“ Zeiten leben. Wir haben gelernt, dass heroische Zeiten alles andere als erstrebenswert sind, weil sie unausweichlich tausendfaches unschuldiges Leiden mit sich bringen. Vielleicht ist es aber auch bloß das fade, farblose Mittelmaß, das unter uns westlichen Christen heute weithin die Szene beherrscht. Was fangen wir da noch mit solchen Gestalten wie Paulus und Luther oder auch Bonhoeffer an? Dienen sie uns vielleicht nur noch zur Kompensation für die offensichtlichen Mängel unseres eigenen Glaubenslebens? Oder sollten wir umgekehrt versuchen, ihre menschlichen Fehler aufzuzeigen, die sie - bei aller ihnen zu Recht geschuldeten Verehrung - natürlich auch gehabt haben? Vielleicht gar in der Hoffnung, sie damit irgendwie auf unser so viel niedrigeres Niveau herunterziehen zu können?

All das ist, wie Sie wissen, nicht erfunden, sondern tatsächlich vielfach in unserer Kirche anzutreffen. Es taugt freilich samt und sonders nicht dazu, das Bekenntnis des Paulus „Ich schäme mich des Evangeliums nicht“ zu verstehen. Der hochgemute Ton, der aus seinen Worten klingt, hat seinen Grund nicht in dem Stolz auf seine Lebensleistung oder auf das Durchhaltevermögen, das es ihm ermöglicht hat, beispielsweise unter der Folter keinen Mitchristen zu verraten. Man würde solchen Stolz ja sogar verstehen. Aber Paulus ist viel zu ehrlich sich selbst gegenüber, um so etwas in sich zuzulassen. „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“, ist für ihn das Grundwort Christi zu uns. Genauso meint er es auch an unserer Stelle im Römerbrief: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn es ist eine Kraft Gottes .“ Macht Gottes, Dynamik Gottes, die in uns und durch uns wirkt, kann man auch sagen. Eine Dynamik, die uns mitreißt und vorwärtstreibt, eine Macht, die uns den Mut verleiht, unseren Glauben offenherzig anderen mitzuteilen, auch wenn uns feindselige oder zynische Stimmung entgegenschlägt, sogar wenn wir selbst von Natur eher scheu und zurückhaltend sind. Es ist Gottes Macht, die Paulus durchdrungen hat, ebenso Luther und Bonhoeffer und all die anderen. Deshalb kann und darf es keinen christlichen Personenkult geben.

Kein Personenkult - aber Gottes Macht nimmt uns als Personen in Anspruch. Uns alle, nicht nur die großen Ausnahmegestalten der Kirchengeschichte. Gottes Macht wirkt dabei nicht wie ein Herzschrittmacher, der automatisch immer dann eingreift, wenn das eigene Herz schlapp macht. Gewiss ist es auch Gott, der dafür sorgt, das unser physisches Herz schlägt und uns am Leben hält. Aber hier geht es um das Herz im Sinne unseres innersten Wesens, der Mitte unserer Person. Gott teilt sich dem Herzen mit, das für ihn offen ist, sich seiner Macht vorbehaltlos öffnet. Das heißt in christlicher Sprache Glaube. Glauben bedeutet also nicht, eine gewisse Summe von Lehrsätzen, vielleicht sogar von unverstandenen Lehrsätzen, für wahr zu halten. Glaube ist die unbedingte Offenheit für Gott, die Bereitschaft, sich ganz und gar von ihm bestimmen zu lassen. Ein offenes Herz ist eines, das nicht Gott gegenüber auf irgendwelche Rechte pocht, sondern sich ihm wehrlos ausliefert. Ein offenes Herz gesteht seinen Unglauben und seine Lieblosigkeit vor Gott ein. Das mag mit Zittern und Zagen geschehen, denn Gott ist heilig; er lässt sich nicht spotten oder wie ein Spielzeug religiöser Laune missbrauchen. Aber das ist dann die große Erfahrung unseres Glaubens, dass Gott unser Herz aus Angst und Gewissensqual befreit. Er räumt die Stacheldrahtrollen weg, die wir um uns herum gezogen haben, damit unsere Desorientierung und die Fehlsteuerung unseres Lebens, unser Mangel an Gottvertrauen und unser Egoismus nur ja nicht ans Licht gezogen werden können. Wir bekommen offenen Zugang zu Gott, das ist die Offenherzigkeit des Glaubens.

Es ist sicher richtig, dass dies kein Dauerzustand ist. Es ist auch richtig, dass wir von solcher Freiheit oft lange Zeit hindurch nicht recht etwas spüren. Wir sollten uns aber von dem Gedanken frei machen, dass dies den so genannten Glaubenshelden anders ergangen wäre. Paulus spricht von einem Pfahl in seinem Fleisch. Was er damit gemeint hat, über diese Frage sind Ströme von theologischer Tinte vergossen worden. Eine körperliche Krankheit? Epilepsie? Eine Psychose? Wir wissen es nicht. Jedenfalls hat er Zeiten der Mutlosigkeit und der Verzweiflung gekannt. So wie ihm ist es den anderen Großen auch ergangen. Wahrscheinlich sind bei ihnen die Täler, die sie zu durchwandern hatten, auch viel tiefer gewesen als bei uns kleineren Geistern. In jedem Fall ist Gottes Kraft und Dynamik nicht etwas, über das wir auf Abruf verfügen könnten. Wir müssen sie stets aufs Neue von ihm erbitten, uns in jeder neuen Situation wieder für sie öffnen.

Aber wir tun das nicht aufs Geratewohl. Unser Glaube hat einen festen Bezugspunkt: Jesus Christus. Von ihm handelt ja das Evangelium, dessen wir uns nicht zu schämen brauchen. Hier ist Gott in einer wirklichen geschichtlichen Person in die Welt eingetreten. In Jesu Worten, in seinem Leiden und Sterben hat Gott seine Liebe irdisch greifbar gemacht. Das geschah, wie wir wissen, im antiken Palästina. Deshalb schreibt Paulus, dass das Heil zuerst zu den Juden gekommen sei. Das gilt natürlich auch in dem Sinn, dass das Christentum geschichtlich aus dem Judentum hervorgewachsen ist. Aber es blieb nicht auf ein Volk und auch nicht auf ein Zeitealter beschränkt. Gottes Liebe in Christus gilt allen Menschen. Es gibt keine Bedingungen nationaler Art, auch keine Bedingungen in Gestalt von zu erbringenden Leistungen, die den Freimut des Glaubens einengen könnten.

Es kann natürlich sein, dass dies Letzte in einem akademischen Gottesdienst gar nicht als vorrangiges Problem empfunden wird. Eher könnte vielleicht mancher denken, all die Überlegungen, die wir bisher angestellt haben, seien doch vielleicht ein wenig zu naiv, zu elementar, zu sehr für einfache Gemüter bestimmt und zu wenig intellektuell ausgefeilt. Aber, liebe Gemeinde, die Freiheit unseres Glaubens ist auch nicht von der Bedingung theologischer Bildung abhängig. Die Theologiestudentinnen und -studenten unter ihnen mögen das nicht als Freibrief für aus dem Ärmel geschüttelte Predigten missverstehen. Schon deshalb nicht, weil ich natürlich nicht gerne mein ganzes Berufsleben an dieser Universität für überflüssig erklären möchte. Aber die Offenheit des Glaubens ist nun einmal etwas anderes als die Freude an theologiegeschichtlicher Bildung oder die Lust an hochabstrakter theologischer Reflexion, so sehr das alles auch sein eigenes Recht hat. Darum ist auch eine Predigt etwas anders als eine wissenschaftliche Vorlesung. Sie braucht zwar für ihre Vorbereitung die Theologie, aber sie selbst soll trotzdem nichts anderes sein als Ausdruck der Offenherzigkeit des Glaubens, für jede und jeden zugänglich. Das Evangelium ist auch nicht die Kraft des menschlichen Intellekts, sondern bleibt allein die Kraft und die Macht Gottes. Es ist eine Macht, die uns nicht in die Esoterik einer akademischen Elite einschließt, sondern im Gegenteil von deren Enge und auch von deren Konkurrenzneid und Dünkel frei macht. Mir scheint, es ist gerade in unseren akademischen Kreisen besonders notwendig, diese völlige Offenheit des Glaubens zu betonen. Denn die heute weit verbreitete Scheu, von religiösen Dingen zu reden, ist, wenn nicht alles täuscht, gerade an solchen Institutionen wie Universitäten besonders ausgeprägt. Aber es gibt weder eine Notwendigkeit noch ein Recht, das Evangelium zu verstecken. Denn es ist nicht Eigentum der Theologen, sondern eine Kraft Gottes. Darum wollen auch wir uns seiner nicht schämen.

Amen.

Prof. Dr. Dietz Lange, Göttingen
Dietzlange@aol.com


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