Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Septuagesimae, 8. Februar 2004
Predigt über Hiob 9,1-2 und Matthäus 25, 14-30 (dänische Perikopenordnung)
verfaßt von Poul Henning Bartholin (Dänemark)
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Unsere Welt ist seit einigen Jahren durch ein Phänomen geprägt, das wir Fundamentalismus nennen. Das Wort hat mehrere Bedeutungen, Ausgangspunkt aber ist das Wort Fundament oder Grundlage. Fundamentalismus beschäftigt sich mit dem, was grundlegend und unverrückbar ist. Der Fundamentalismus geht von dem aus und baut auf dem auf, was sich nicht bezweifeln läßt.

Der Fundamentalismus, um den es hier geht, ist ein religiöser oder politischer Fundamentalismus, zuweilen beides. Dieser Fundamentalismus findet, daß es nur eine Wahrheit in der Welt gibt, auf der alles andere beruht. Diese findet ihren Ausdruck in einem bestimmten Text oder einer Sammlung von Texten, die buchstäblich und eindeutig zu verstehen sind. So kann man z.B. von einem jüdischen, einem christlichen oder einem muslimischen Fundamentalismus sprechen.

Der Fundamentalismus nimmt in unserem Weltbild einen großen Raum ein, auch wenn es sich um eine kleine Minderheit handelt in allen drei Religionen, die zur fundamentalistischen Auffassung neigen, wo man also einen Text zur Grundlage und Norm allen Verstehens macht.

Der Gegensatz zu Fundamentalismus ist Relativismus, der - wieder in einem kleineren oder größeren Maßstab - dadurch gekennzeichnet ist, daß man sagt, daß der Ausgangspunkt zwar der sein kann, daß es nur eine Wahrheit gibt, daß aber diese Wahrheit auszulegen und zu deuten ist und daß dies in vielfältiger Weise geschehen kann. Der Relativismus erlaubt, daß man über Gott von den verschiedenen Voraussetzungen her denken kann, die man z.B. zu Beginn des 19. Jahrhunderts oder heute hat.

Für einen Fundamentalisten ist der Relativismus im Grunde zersetzend, denn alle anderen als der Fundamentalist sehen z.B. einen biblischen Text und versuchen ihn zu verstehen, indem sie z.B. fragen, in welchem Zusammenhang er geschrieben ist, welche historischen Ereignisse er widerspiegelt. Der Text wird als ein heiliger Text verstanden, aber auch als ein historischer Text, der im Laufe der Zeit entstanden ist. Wir müssen also die Texte als offen für mehrere unterschiedliche Auslegungen sehen. Und was sind Auslegungen? Ja, das sind verschiedene Arten, den Text zu hören und seine Botschaft und dieses Botschaft anzuwenden.

Das aber führt zu der selbstverständlich wichtigen Frage, wo die Wahrheit bleibt, denn es gibt ja nur eine Wahrheit. Oder gibt es mehrere Wahrheiten? Was ist am meisten wahr, der Text oder die Auslegung?

Jesus geriet in einen ernsten Gegensatz zu den jüdischen Auslegern der Heiligen Schrift, weil er an ihrer durch Generationen ererbten Auslegung der Schriften rüttelte, die wir als Das Alte Testament kennen. Ein roter Faden ist hier bekanntlich, daß man auf einen Messias hofft und wartet, der als ein König kommen soll und das jüdische Volk von Unterdrückung und Ungerechtigkeit befreien und ein Reich wieder aufrichten soll, das sich in Ausmaß und Reichtum mit dem Reich von König David messen kann, ein ewiges Friedensreich.

Denn er sagte etwas anderes. Er war einig in dem Ausgangspunkt, daß die Welt von Gott dem Vater geschaffen ist und daß sich die Welt von Gott abgewendet hat in Eigenmächtigkeit. Er ist auch einig in der Auffassung, daß das Gesetz (des Mose) ein Ausdruck für das wechselseitige Verhältnis zwischen Gott und Mensch ist. Aber nicht darin, daß eine Einhaltung des Gesetzes automatisch das Heil mit sich bringt.

Deshalb war es für sie eine enorme Provokation zu hören, daß es sich um ein Reich Gottes handelt in der Weise, wie wir es heute gehört haben. Das stellt auch unser Verständnis auf den Kopf, denn ist das Reich Gottes nicht etwas, das erst nach dem Tode auf uns wartet?

Mit dem Gleichnis, das ja seinen Stoff einem Alltag entnimmt, den wir nicht teilen, der aber dennoch sehr dem unsrigen gleicht, erzählt Jesus in Bildern, daß das Reich Gottes schon da ist. Nicht in seiner Fülle, aber es ist da. Es ist entscheidend, denn die Art, wie wir uns zu ihm verhalten, richtet uns.

Das Gleichnis ist oft dazu verwandt worden, uns zu erzählen, wie wir unsere Fähigkeiten gebrauchen sollen. Davon aber handelt es in erster Linie kaum. Ein Talent ist eine Münze, und den drei Knechten wird ein Vermögen anvertraut.

Das Wichtige ist, daß etwas anvertraut wird. Der Ausgangspunkt für das Menschenleben ist, daß Gott uns Vertrauen erweist. Das ist also eine andere Art und Weise, das Verhältnis zwischen Gott und Mensch zu sehen, als der Fundamentalismus. Was kommt erst? Die Hinwendung Gottes zum Menschen oder die Hinwendung des Menschen zu Gott oder sein Suchen nach Gott? Hier geht es ja um die Hinwendung Gottes zum Menschen und die Annahme und Verwaltung dieser Hinwendung durch den Menschen.

Grundlegend für das Zusammensein der Menschen ist, daß wir Vertrauen zueinander haben. Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch wird davon bestimmt, daß Gott sich vertrauensvoll an den Menschen wendet. Er ist vertrauenswürdig, und deshalb können wir das hören und annehmen, was er bringt. Er vertraut uns etwas an. Er sagt nicht nur etwas im Vorbeigehen. Es handelt sich nicht um kluge Worte oder Lebensweisheit, ausgedrückt in geflügelten Worten. Es handelt sich um das ganz Grundlegende, daß uns das Leben selbst anvertraut ist als eine Gabe und ein Vermögen, das wir verwalten sollen. Es wird oft behauptet, daß wir Menschen das Leben als ein Recht auffassen. Mit dieser Behauptung sollte man meiner Meinung nach vorsichtig sein. Die allermeisten verstehen das Leben wohl noch immer als eine Gabe, denn wir wissen alle sehr wohl, daß wir dieses Leben nicht selbst geschaffen haben.

Es ist uns anvertraut, und wir haben ein besonderes Verhältnis zu dem, der uns etwas anvertraut hat. Das ist, als wäre man in ein Geheimnis eingeweiht oder in eine Wahrheit, die uns bis dahin verborgen war. Das ist wohl eine Erkenntnis, die mit den Jahren wächst. Wir werden immer demütiger gegenüber dem Leben, das uns gegeben ist, je älter wir werden und je mehr wir entdecken, daß es wahrlich keine Selbstverständlichkeit war und daß es auch nicht immer leicht war. Aber dann freuen wir uns um so mehr über das, was uns zuteil wurde.

Hiermit habe ich beschrieben, daß wir in gewisser Weise wachsen können, indem uns etwas anvertraut wird. Wir entdecken, daß es jemanden oder einige gibt, die uns Vertrauen entgegen­bringen. Wir werden etwas, indem uns dieses Vertrauen entgegengebracht wird. Wir entdecken in unserem Leben mit immer größerer Klarheit, daß wir jemand sind, ja daß wir das sind, was uns in der Taufe gesagt wurde, daß wir Kinder Gottes sind.

Wir entdecken auch, daß Vertrauen und der Umstand, daß einem etwas anvertraut wird, auch eine andere Seite haben können. Ein Beispiel dafür ist der dritte Knecht. Er leidet unter dem Vertrauen. Er wird dadurch schwach, denn er hat Angst. Er kann das Vertrauen nicht ertragen oder er versteht es als eine Last. Oder vielleicht ist es so, daß er gar nicht sehen kann, daß ihm etwas anvertraut ist.

Das Gleichnis ist heute also ein Bild dafür, daß das Reich Gottes nicht ein ferner Ort ist oder etwas einmal nach diesem Leben. Das Gleichnis erzählt uns, daß das Reich Gottes etwas ist, das uns anvertraut ist und von uns verwaltet werden soll. Uns wird Vertrauen erwiesen, und das fordert von uns Verantwortung.

Was ist das eigentlich, was uns anvertraut ist? In erster Linie wird uns unser Leben geschenkt. Die Generationen vor uns sind Träger des Lebens, wir haben ein Leben erhalten, und wir führen es weiter. Das tun wir, wenn wir das Glück haben, das Geschlecht weiterzuführen, und indem wir das weitergeben, was uns überliefert ist. Seien es nun Einsichten, Auslegungen, Traditionen und nicht zuletzt die Freiheit, das Leben in Verantwortung gegenüber dem zu leben, der das Leben geschenkt hat, nämlich Gott, und gegenüber unserem Nächsten.

Unsere ganze Welt ist uns anvertraut. Die vielen Menschen, denen wir täglich begegnen, sind uns anvertraut. Die Arbeit, die wir haben oder gehabt haben, ist und war uns anvertraut. Der, der uns angestellt hat, hatte das Vertrauen, daß wir diese Arbeit zum Nutzen für andere verwalten und nicht nur eigenen Vorteil darin suchen. Wir sind verantwortlich dafür, wie die Welt aussieht und was in ihr geschieht. Jede Stimme ist wichtig, um die Welt zu gestalten und sie zu einem guten und sicheren Ort für das Leben zu machen, wo der einzelne Mensch als ein Vermögen betrachtet wird und nicht als ein Stein in einem Spiel, der sich durch einen anderen ersetzen läßt.

Dir ist mit anderen Worten dein Nächster anvertraut. Du sollst ihm mit Vertrauen begegnen und ihm Vertrauen entgegen­bringen. Du sollst stets daran denken, daß auch ihm das Leben von Gott geschenkt wurde. Dir sind deine eigene Geschichte und die Geschichte deiner Familie und deines Volkes anvertraut. Das ist ein Teil von dir. Du sollst auf diese Geschichte achten, sie verwalten und auslegen und dich darin wiederkennen, denn sie erzählt dir wiederum davon, welch ein Vertrauen und welch eine Liebe dich umgeben.

Dir ist das Wort vom der Erlösung von Sünde und Tod anvertraut. Das begegnete dir kraftvoll zum ersten Mal in der Taufe. Wir erleben heute das Wunder, daß Kinder zur Taufe getragen werden, daß sich Familien um sie sammeln und in dieser Weise die Aufgabe wahrnehmen, den Kleinen all das anzuvertrauen, was das Leben ist. Darin ist das Wort von Gott entscheidend. Es ist die Grundlage für das Leben, dafür daß man sein Leben als ein anvertrautes Vermögen sehen kann.

Aber das Gleichnis erzählt ja in einer ganz entscheidenden Weise, daß es nicht genügt, zu empfangen. Das Empfangene muß auch angewendet werden. Zwei von den drei Knechten taten das auch. Sie akzeptierten das Risiko, das natürlich darin liegt, daß einem etwas anvertraut wird, das Risiko, das sogleich die Verantwortung in uns weckt. Den das Anvertraute kann ja verlorengehen. Dann stehen wir mit einer Verantwortung dem gegenüber, der es uns anvertraut hat. Wir laufen Gefahr, das Anvertraute ersetzen zu müssen.

Zwei von den drei Knechten nahmen das anvertraute Vermögen an und vergrößerten es. Das ist kein Bild für ihre Geschäftstüch­tigkeit, sondern dafür, daß das von Gott anvertraute Pfund gebraucht werden soll. Das Leben läßt sich nicht unter einer Käseglocke leben. Das Leben, die Geschichte, der Ort, die wir empfangen haben, lassen sich nicht krampfhaft beschützen, denn dann gehen sie verloren.

Andere können von mir aus gerne ihre Ansichten und Einstellungen haben. Es besteht aber guter Grund, darauf hinzuweisen, daß der Fundamentalismus in diesen Jahren viele Gesichter hat. Eines davon ist dies, daß wir uns gegen all das schützen, was von außen kommt und was neu ist.

Nicht alles, was von außen kommt, ist gut. Nicht alles, was neu ist, ist gut. Keineswegs. Aber es geht nicht darum, daß wir dem dritten Knecht folgen und unser Vermögen eingraben in der Hoffnung, überleben zu können bis zu dem Tag, an dem abgerechnet wird.

Nein, es geht darum, das Anvertraute dazu zu verwenden, das zu fördern, was die Intention des Gebers war, nämlich das Wort von Jesu Tod und Auferstehung allen Lebenden zu bringen, damit sie ihr Leben in diesem Licht sehen können.

Was geschieht, wenn wir es nicht wagen, unser Leben anzuwenden? Wenn wir es nicht wagen, es aufs Spiel zu setzen im Leben mit dem Nachbarn, dem Kollegen, der Familie? Wir verkommen als Menschen! Was geschieht, wenn wir es nicht wagen, das Wort und die Institution der Kirche zu gebrauchen und sie in vieler Weise auszulegen? Sie verkommen und werden völlig gleichgültig!

Das Gleichnis erzählt uns, daß man das Leben leben muß, das man das Wort immer wieder sagen muß und hören muß. Wo das geschieht, ist das Reich Gottes.

Als Jesus dem Fundamentalismus seiner Zeit widersprach, endete das in einer Verurteilung, in Leiden und Tod und Auferstehung. Damit war es aus mit allen Formen von Fundamentalismus. Das Leben soll gelebt werden, das Wort verkündigt und gehört werden, es soll in neue Zusammenhänge und neue Zeiten gesprochen werden. Nicht wie es einmal gesagt wurde, sondern so, daß es das Leben und die Lebensmöglichkeiten weiterreicht und diese im Lichte dessen erscheinen läßt, daß das grundlegende Vertrauen Gottes unser Leben trägt. Amen.

Propst Poul Henning Bartholin
Selskovvej 42
DK-3400 Hillerød
Tel.: ++ 45 - 48 24 90 50
e-mail: phb@km.dk


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