Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Sexagesimae, 15. Februar 2004
Predigt über Hebräer 4,12-13, verfaßt von Hans-Gottlieb Wesenick
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

Am Sonntag Sexagesimae, 60 Tage vor Ostern, haben alle Lesungen des Gottesdienstes ein Thema, nämlich das Wort Gottes. Wir haben das soeben in der Lesung aus dem Alten Testament (1) gehört. Gott läßt durch seinen Propheten verkünden: „Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt und nicht wieder dahin zurückkehrt, ... so soll das Wort, das aus meinem Munde kommt, auch sein: Es wird nicht wieder leer zu mir zurückkommen, sondern wird tun, was mir gefällt, und wird ihm gelingen, wozu ich es sende.“

Auch das heutige Evangelium, Jesu Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld, handelt vom Worte Gottes, obwohl der Begriff „Wort Gottes“ im Gleichnis selbst nicht vorkommt, sondern erst in der Deutung, die schon sehr früh diesem Gleichnis mitgegeben worden ist und die sehr direkt sagt: „Der Same ist das Wort Gottes.“ Jesus selbst allerdings wollte wohl mit seinem Gleichnis viel umfassender ein Bild dafür geben, daß Gottes Reich unaufhaltsam wächst, daß es ein Werden gibt zwischen klein und groß, daß aus allem noch etwas werden kann, erscheine es zunächst auch hoffnungslos.

Die Kirchen der Reformation, Lutheraner wie Reformierte, haben sich immer viel darauf zugute gehalten, „Kirchen des Wortes“ zu sein. Nicht Traditionen und menschliche Autoritäten und erst recht keine Lehrentscheidungen eines Papstes haben Geltung in der Kirche, sondern allein Gottes Wort. Das ist einzige Regel und Richtschnur für Glauben und Leben der Kirche. Allein durch Gottes Wort, allein durch den Glauben, allein durch Christus – das ist gleichsam das Grundgesetz evangelischen Glaubens.

Noch in der Theologischen Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen im Mai 1934 wird unmißverständlich festgestellt: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkün­digung außer und neben diesem einen Wort Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“ Deutlicher kann man das kaum sagen. Übrigens ist diese Theol. Erklärung im neuen Ev. Gesangbuch unter Nr. 810 nachzulesen – ich finde es sehr hilfreich, daß diese und andere Bekenntnisse dort abgedruckt sind.

Weithin wird die Bibel mit dem „Wort Gottes“ gleichgesetzt, obwohl die Reformatoren das nicht getan haben. Wenn das „Wort Gottes“ aber so wesentlich und maßgeblich ist für evangelische Christen, dann müßten sie fleißig ihre Bibel benutzen, sie lesen und das Gelesene im Leben praktizieren. In der Tat ist die Bibel ein konkurrenzloser Beststeller, aber leider ist sie weithin „ein Bestseller ohne Leser“ (2): nach einer Umfrage, die vor etlichen Jahren gemacht wurde, lesen von den Protestanten die Bibel 5 % häufiger, 13 % hin und wieder, 26 % selten, 55 % nie. Da stimmt also bei uns etwas nicht mit der Geltung von „Gottes Wort“. Die Bibel wird hoch geachtet, aber wenig beachtet und noch weniger gekannt.

Unser Predigttext, die Epistel dieses Sonntags aus dem 4. Kapitel des Hebräerbriefes, handelt auch vom „Wort Gottes“. Hier meint dieser Begriff „Wort Gottes“ zwar auch die Bücher unseres Alten Testamentes. Für die frühen Christengemeinden gegen Ende des 1. Jahrhunderts waren sie genauso „heilige Schriften“ wie für die Juden und für Jesus selbst. Aber der Hebräerbrief meint darüber hinaus und mehr noch das lebendige Wort des Evangeliums, die viva vox evangelii, die den Menschen anredet, trifft, in Bewegung bringt. Aus den heiligen Schriften starren uns nicht tote Buchstaben an, sondern wann immer Menschen sie lesen und hören und bedenken, sind es Worte des Lebens, Worte, die „unseres Fußes Leuchte“ sind, wie es z. B. in Psalm 119 heißt, oder gar „Speise“ , wie der Prophet Jeremia sagt (3), also Lebensmittel, Mittel zum Leben. Hören wir diesen Abschnitt (Hebr. 4,12.13):

„Das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen.“

Das sind zunächst einmal erschreckende Worte, eine aufschreckende Zumutung von durchdringender Schärfe, radikal, zweischneidig, um nicht zu sagen: zwiespältig. Wir müssen das zunächst auch einfach so aushalten, liebe Gemeinde. Was nicht unter die Haut geht, kann auch nicht zu Herzen gehen! Und dabei geht es nicht ohne Schmerzen und Widerstand ab.

Das Wort Gottes als Richter der Gedanken und Sinne des Herzens, vor dem niemand verborgen und alles bloß und aufgedeckt ist – diese Perspektive läßt mich innerlich erst einmal einen Schritt zurückweichen. Heute ist es doch überlebenswichtig, daß ich eben nicht so leicht und überall „durchschaubar“ bin, denke ich spontan. Meine Schwächen offen ans Licht gebracht – das muß ja in unserer Zeit, die nun ausdrücklich auf Stärke, auf Durchsetzungsvermögen und Leistung baut, geradezu tödlich sein. Wenn andere wüßten, was in meinem Inneren vor sich geht, wenn sie meine geheimen Gedanken, Gefühle, Meinungen kennten – nicht auszudenken! Bis in die tiefsten Tiefen meines Herzens aufgedeckt, demaskiert und ohne Geheimnisse, jeglicher Manipulation und Demütigung schutzlos ausgesetzt zu sein – ist das nicht eine schreckliche Vision? „Big brother is watching you“, der große Lauschangriff Tag und Nacht, solche Befürchtungen kommen hoch.

Auf der einen Seite sind sie nicht von der Hand zu weisen. Auf der anderen Seite ist dieser Satz aber ganz eindeutig einzig und allein von Gott gesagt und nicht von Menschen. Er spricht eine ziemlich alte Einsicht aus, den Menschen des Hebräerbriefes durchaus vertraut, eine im Alten Testament selbstverständliche Einsicht. Sie begegnet uns zum Beispiel im 139. Psalm (4):

„HERR, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht schon wüßtest. Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.“

Oder der Prophet Jeremia (5) weiß zu sagen: „ Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding; wer kann es ergründen? Ich, der HERR, kann das Herz ergründen und die Nieren prüfen ...“

Wir haben keinen Anlaß, diese biblische Einsicht heute in irgendeiner Weise zu entschärfen und uns womöglich Preisermäßigungen zu erlauben. Übrigens sind wir ja keineswegs die ersten, die diese Sätze hören, sondern wir stehen in einer langen Tradition! Wie die Generationen von Gläubigen vor uns müssen auch wir es aushalten und uns sagen lassen: Gott sieht uns, wie wir in Wirklichkeit sind. Vor ihm kann nur rückhaltlose Ehrlichkeit und Offenheit bestehen, auch wenn das weh tut.

Allerdings sind diese Sätze nun nicht aufgeschrieben, um zu schrecken und zu drohen, sondern sie sind auf Leben aus: „lebendig“ ist buchstäblich das erste Wort hier, und das Wort Gottes ist lebendig und kräftig, weil es das Wort des lebendigen Gottes ist, der will, „daß allen Menschen geholfen werde“ (6). Wenn wir dazu auch die voraufgehenden Verse lesen, dann wird dieses Ziel, diese Absicht noch deutlicher. Der Verfasser erinnert an die Wanderung des alten Gottesvolkes durch die Wüste und sagt: so wie die Menschen damals Hörende waren, sind wir das heute auch. Wir können Gott und seinem lebendigen Wort unser Herz öffnen und so intensiv auf Gott hören, wie es einst Mose tat. Aber wir können unser Herz auch vor ihm verschließen, verhärten. Damals waren es nicht wenige, die das taten.

Die durchdringende, unterscheidende Kraft des Wortes Gottes zielt auf das Leben, auf mein Leben. Gottes Wort ist nicht in erster Linie eine Waffe, die gegen mich oder andere Menschen gerichtet ist, sondern es ist eine Waffe gegen alles, was mich am Leben hindert, gegen alle Lüge, alle Selbstsucht, gegen Gier und Unrecht, gegen leere Worte, die nicht halten, was sie versprechen, gegen Worte, die verletzen und schmerzen. Das Wort Gottes selbst wirkt, nicht ich muß wirken. Es wirkt in mir und unterscheidet in mir Gut und Böse, unterscheidet, was dem Leben verpflichtet ist oder dem Tod, und zwar so, daß ich das selbst dann auch von Gottes Wort her zu unterscheiden lerne. Was Gottes Wort an den Menschen tut, ist Dienst, ist jedoch keine Gewalttat. Es ist ein Dienst seines Wortes, daß mein Herz erkannt werden kann von ihm, daß meine durcheinander geratenen Orientierungspunkte und Maßstäbe für mein Leben in die richtige, lebensvolle Ordnung kommen durch seine klärende Scharfsicht.

Und das ist nötig. Denn eigentlich können wir durchaus unterscheiden zwischen Ja und Nein. Und doch sagen wir immer wieder an der falschen Stelle Nein und an der falschen Stelle Ja und bringen uns selbst damit in Widerspruch zu Gott und so vom Leben zum Tod. Das alles soll jedoch ein Ende haben angesichts der aufdeckenden, durchdringenden Klarheit des Wortes Gottes. Und das ist die gute Botschaft dieses biblischen Textes für uns heute, liebe Gemeinde.

Das erste Wort des Abschnittes hieß „lebendig“. Sein letztes Wort heißt „logos“, eben „Wort“. Was ist Gottes Wort anderes als der Sohn, der Christus, der uns beim Vater vertritt! „Gott erkennen heißt, seine Wohltaten erkennen.“ So hat es Bernhard von Clairveaux formuliert. In der Tat ist das ja der Gipfel der Wohltaten Gottes, daß er Jesus Christus in unsere Welt gesandt hat. Der Hebräerbrief spricht das gleich am Anfang unmißverständlich aus: „Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch den Sohn.“ (7) Zuerst gibt Gott, und dann erst fordert er uns. Und das ist dann ganz gewiß keine Überforderung. Denn wir alle sollen teilhaben an der Auferstehung Jesu Christi von den Toten – nicht erst nach unserem Tod, sondern schon mitten im Leben vor unserem Tod.

So gesehen, liebe Gemeinde, können wir eigentlich nicht anders, als wirklich darauf aus zu sein, Gottes Wort zu hören – immer wieder neu in seiner ganzen Vielfältigkeit, auch und nun erst recht in den Worten, mit denen die Bibel dieses lebendige Wort bezeugt. Ein afrikanischer Christ sagte: „Eine aufgeschlagene Bibel ist der offene Himmel, eine zugeschlagene Bibel ist ein verschlossener Himmel.“ Das ist wahr.

Ich möchte mit einem Gebet (8) schließen:

Gott, segne meine Ohren,
daß sie deine Stimme zu erhorchen vermögen,
daß sie hellhörig seien für den Lärm und das Geschwätz,
daß sie das Unbequeme nicht überhören.

Gott, segne meinen Mund,
daß er dich bezeuge,
daß nichts von ihm ausgehe, was verletzt und zerstört,
daß er heilende Worte spreche,
daß er Anvertrautes bewahre.

Gott, segne mein Herz,
daß es Wohnstatt sei deinem Geist,
daß es Wärme schenken und bergen kann,
daß es reich sei an Verzeihung,
daß es Leid und Freude teilen kann.

Amen.

Anmerkungen:

Als Predigthilfen wurden verwendet:
Predigtstudien II 1, 1991 und 1997
Gottesdienstpraxis Serie A, Bd. II 2, 1998

(1) Jes. 55,10.11

(2) Siegfried Meurer, Dt. Bibelgesellschaft, Stuttgart

(3) Jer. 15,10

(4) Psalm 139, 1–4; 7–8

(5) Jer. 17, 9. 10

(6) 1. Tim. 2, 4

(7) Hebr. 1, 1–2

(8) Th. Bohlen in: Gottesdienstpraxis A, Bd. II 2, 1998, S. 22

Hans–Gottlieb Wesenick
Pastor i. R.
Stauffenbergring 33, 37075 Göttingen
H.G.Wesenick@t-online.de


(zurück zum Seitenanfang)