Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Estomihi, 22. Februar 2004
Predigt über 1. Korinther 13, verfaßt von Rainer Stahl
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Leserin, lieber Leser,
liebe Schwestern und Brüder,

Ihnen allen mag das Märchen vom „steinernen Herzen“ ein Begriff sein. Es stammt von Wilhelm Hauff, der es kurz vor seinem Tode 24jährig in seiner Märchensammlung im Jahr 1826 veröffentlichte. Vielleicht gibt es Beziehungen zur Erzählung „Das steinerne Herz“ von E.T.A. Hoffmann von 1817. Aber da bin ich mir nicht sicher. Viel eher vermute ich, dass der Theologe Wilhelm Hauff bei seinem Märchen auch an das „Hohelied der Liebe“ des Paulus gedacht haben könnte. Ist es nicht so etwas wie eine Auslegung unserer Verse?

Der Köhler Peter tauscht beim Holländer-Michel sein menschliches Herz in ein steinernes ein und hat von Stund an „Glück“ und Erfolg. Alles wird ihm in seinen Händen zu Geld und Reichtum. Sein Unternehmen prosperiert. Er kann expandieren. Er, der vormals arme Sohn einer Köhler-Witwe, kann sich ein neues und großes Anwesen bauen. Die materiellen Grundlagen für eine gute Zukunft zusammen mit seiner Liebsten und Ehefrau sind gelegt.

Aber: Der Preis ist hoch. Das Wort „Glück“ eben hatte ich nur in Anführungsstrichen verwendet. Harmonie und Verständnis mit seiner Frau zerbrechen. Denn nur die Gier nach mehr, nach Umsatz, nach Profit bestimmt sein Leben. Ja: Er verbietet seiner Frau, sich der Armen und Bedürftigen anzunehmen. Er kann Barmherzigkeit und Solidarität nicht mehr dulden, denn auch mit ihm ist ja niemand barmherzig und solidarisch. Sein neues Herz zwingt ihn, hart zu sein. Und im selben Maße lässt es ihn von anderen nur Härte erwarten.

Ist das nicht so etwas wie eine negative Auslegung dieses großen Textes des Paulus? Peter ist ungeduldig und harsch. Er ereifert sich wegen der Unfähigkeit anderer und treibt Mutwillen wegen deren Schulden. Er sucht nichts als das Seine und rechnet natürlich alles Negative bis auf den letzten Cent nach. Peter erträgt nichts. Er glaubt eigentlich an nichts. Er hofft auf nichts. Und er duldet nichts.

Ist dieses Märchen nicht auch aktueller, als auf den ersten Blick zu vermuten wäre? Beschreibt es nicht den harten Kampf unserer Zeit auf dem Geldmarkt, im Bankengeschäft, zwischen den Wirtschaftsunternehmungen? Ja: Bietet es nicht eine erzählerische Gestalt der vielfältigen Konkurrenz unserer Zeit, in der nur Menschen mit „steinernen Herzen“ Bestand zu haben scheinen? Beim Kampf um Arbeitsplätze? Bei der Auseinandersetzung um Karriere und Ansehen?

Und damit holt diese Auslegung des „Hohenliedes der Liebe“ den alten Text des Paulus noch direkter und unmittelbarer in unsere Zeit hinein. Wir erkennen:
Unser Lied ist ein Protesttext gegen alle Effizienz, gegen alle Herzlosigkeit.
Unser Lied ist ein Werbetext für die Solidarität mit den Mitmenschen, für die Zuwendung zu den Benachteiligten und Bedürftigen.
Unser Lied ist eine einzige Einladung zur Liebe, zur Liebe im Sinne eines fleischernen, eines menschlichen Herzens.

An dieser Stelle unseres Nachdenkens fällt uns vielleicht auf, dass sich Paulus aber gar nicht mit herzloser Wirtschaftlichkeit, mit kaltem Rechnen, mit liebloser Konkurrenz auseinandersetzt. Paulus benennt ganz große, ja: „heilige“ Ereignisse in der Welt des Glaubens:
das Reden mit Menschenzungen und Engelszungen, also: das Predigen des Glaubens;
die prophetische Äußerung und die Einsicht in die letzten Geheimnisse, also: die Aufdeckung der Wahrheit;
das Weggeben und sich selbst Opfern für andere, also: die Kreuzesnachfolge.
All das – was wollten wir mehr erreichen bei uns, in unseren Gemeinden und Kirchen? –, all das bedarf noch etwas anderem, etwas zusätzlichem! Paulus benennt dies: Es bedarf eines fleischernen Herzens, es bedarf der Liebe.

Wir sollen also nicht nur in unsere Umwelt schauen. Die Probleme, die wir dort finden, sollen schon gemeistert werden. Aber: Auch bei uns selbst, auch in der Mitte unseres Christseins, auch im Zentrum unserer Kirche droht dieselbe Gefahr.

Ich will es einmal so sagen: Solange wir auf der rein sachlichen Ebene bleiben, solange wir nur um Effizienz und Korrektheit bemüht sind, solange wir ausschließlich die inhaltliche Seite des Glaubens sehen, solange greifen wir zu kurz. Wir müssen immer auch den direkten Menschen sehen, mit dem wir es zu tun haben. Die Person, der wir den Glauben nahe bringen. Die Gruppe, mit der wir zusammen praktische Konsequenzen des Glaubens leben wollen.

Jetzt möchte ich von meiner direkten Berufserfahrung ausgehen:
Ich arbeite für das Diasporawerk der evangelisch-lutherischen Kirchen, für den Martin-Luther-Bund. Wir engagieren uns für evangelisch-lutherische Minderheitskirchen z.B. in Osteuropa.
Selbstverständlicher Bestandteil der täglichen Arbeit ist die eindeutige Rechenschaft über die Verwendung jedes einzelnen Euros. Wir selbst müssen vor uns und vor unseren Partnern eindeutig und klar sein. Und wir müssen unsere Partnerkirchen bitten, genauso klar und transparent zu berichten:
Über den Erhalt eines Unterstützungsbetrages,
über die genaue Verwendung in einem Projekt zusammen mit den anderen Hilfen und den eigenen Leistungen,
über den Abschluss aller Arbeiten und Investitionen.
Aber: Wo und wenn nur in diesem Sinne miteinander umgegangen wird, fehlt etwas. Es bedarf der geistlichen Gemeinschaft, es bedarf des persönlichen Bekanntwerdens, es bedarf des gegenseitigen Vertrauens. Es bedarf – um das von Paulus verwendete Wort aufzugreifen – der „Liebe“. Wo sie fehlt, verliert das größte Projekt an Wert.

Paulus gibt gerade für die Diasporaarbeit ganz großartige Hilfestellungen, indem er umschreibt, was er meint, wenn er von „Liebe“ redet:
Trotz aller der genannten technischen Notwendigkeiten – wenn ich das mal so sagen darf – braucht es die freundliche Toleranz im Umgang miteinander,
braucht es die Kraft, von sich und den eigenen Interessen abzusehen und wirklich das zu ge-stalten helfen, was die Partner benötigen,
braucht es die Freude über das, was die Partner selbständig schaffen.
Mit anderen Worten:
„Die Liebe ist langmütig und freundlich,
die Liebe … sucht nicht das Ihre…,
sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit.“

Bei Wilhelm Hauff gelingt es letztlich dem Peter, sein eigenes Herz wieder zu erlangen. Am Ende ist er wieder ein Mensch, ein Mensch mit einem fleischernen Herzen, ein Mensch mit der Fähigkeit zur Liebe. Möge dieses große Lied des Paulus in uns die Erinnerung an die Kraft der Liebe, an die Gestaltungsfähigkeit des Menschlichen erneuern und bewahren. Wir brauchen dieses Wissen auch als kirchliche Gemeinschaft. Denn selbst bei uns drohen die Gefahren der Herzlosigkeit.

Gehen wir in diese neue Woche mit dem – ich darf es vielleicht so sagen – „Pfahl in unserem Fleisch“, dass alle Effizienz, alle Korrektheit, alles Machen die „Liebe“ brauchen, dasjenige benötigen, was ein Herz aus Fleisch ist:
„Liebe, die du Kraft und Leben, Licht und Wahrheit, Geist und Wort…
Liebe, die mich hat gebunden an ihr Joch mit Leib und Sinn…
Liebe, dir ergeb ich mich, dein zu bleiben ewiglich.“ Amen.

Lied: EG 401,1-5.

Dr. Rainer Stahl
Generalsekretaer des Martin-Luther-Bundes
E-Mail: gensek@martin-luther-bund.de


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