Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Invokavit, 29. Februar 2004
Predigt über Lukas 22, 24-32, verfaßt von Eva Tøjner Götke (Dänemark)
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(Lukas 22,24-32 - dänische Perikopenordnung)

In der Leitung von Betrieben spricht man heutzutage von "flachen Strukturen". Damit ist gemeint, daß die altmodische Hierarchie zwischen Leiter, Mittelbau und Unterbau und den gewöhnlichen Beschäftigten aufgehoben ist und damit auch die Hierarchie zwischen den verschiedenen Fachgruppen.

Um einen guten und modernen Betriebsgeist zu schaffen, müssen alle das fachliche Können der anderen respektieren, heißt es, und erkennen, daß alle an ein und derselben Sache arbeiten, nämlich der Konkurrenzfähigkeit des Unternehmens auf dem freien Markt.

Wenn es das einzige Ziel der Fachgruppen wäre, mit den Gewerkschaften an der Spitze für ihr eigenes Recht zu kämpfen, dann würde darunter das gemeinsame Projekt, nämlich der Betrieb, Schaden erleiden.

Wenn man in flachen Strukturen, wie man dies nennt, denkt, so aus der Erkenntnis heraus, daß jeder etwas Wichtiges beizutragen hat und dies in einer höheren Einheit aufgeht, nämlich der Produktivität.

Nun sind wir in die Kirche gekommen und nicht zu einem Vortrag über Betriebskultur - aber das heutige Evangelium handelt davon, in flachen Strukturen zu leben . Auf Macht und Rechte zu verzichten und statt dessen einander Diener sein, kurz und gut.

Deshalb frage ich nun: Man denke sich, daß diese Einstellung zu den gegenseitigen Fachgebieten innerhalb der modernen Betriebskultur sich auf das alltägliche Dasein übertragen ließe: gegenüber dem Fremden unter uns, dem Ehepartner, unseren Eltern und all den anderen.

Daß wir offenbar nicht in solchen flachen Strukturen leben, das bezeugt die Notwendigkeit des Gesetzes. Und dabei denke ich an das Gesetz im Alten Testament.

Hier steht immer wieder, daß das Volk sich des Fremden annehmen soll innerhalb der Stadtmauer, und das wird mit der Erinnerung verbunden: Denkt daran, daß Ihr selbst einmal Fremde wart in Ägypten.

Und unter den zehn Geboten heißt das vierte: "Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren", etwas, was offenbar gesagt werden muß, damit es auch befolgt wird.

Und schließlich werden sich einige auch daran erinnern, was sie bei ihrer Hochzeit versprochen haben: Daß wir unseren Ehepartner lieben und ehren sollen und mit ihm leben sollen in guten wie in schlechten Tagen, bis daß der Tod uns scheidet.

Auch das muß uns offenbar gesagt werden und als Versprechen abgegeben werden, denn es kommt nicht von selbst.

Warum kommt es nicht von selbst? Warum geschieht es nicht von selbst, daß wir den Fremden annehmen und unsere Eltern respektieren und unseren Ehepartner lieben und ehren? Warum muß uns das gesagt werden?

Warum muß man auf einen Leitungskurs, um zu lernen, die anderen im Betrieb zu respektieren, und warum muß man in die Kirche gehen und in der Bibel lesen, um zu lernen, daß wir Hüter unseres Bruders sein sollen?

Aus dem einfachen Grund, den wir auch in der Bibel finden: Die Wahrheit über den Menschen ist, daß in uns eine grundlegende und fundamentale Begierde liegt, uns selbst in den Mittelpunkt zu stellen und der Größte, der Beste zu sein - gern auf Kosten anderer.

Und nun sind wir schon mitten im heutigen Evangelium und den übrigen Texten, die heute an diesem ersten Sonntag der Passionszeit gelesen worden sind: Die Jünger streiten sich darüber, wer von ihnen der Größte ist. Und Kain erschlägt seinen Bruder Abel aus Neid darüber, weil der Herr dessen Opfer angenommen hat - und schließlich wird im Jakobusbrief festgestellt, daß wir durch unsere eigene Begierde versucht, verlockt und hingezogen werden. Und diese Begierde bringt die Sünde in die Welt, sagt der Apostel Jakobus, und wenn die Sünde aufgewachsen ist, gebiert sie Tod!

Die Passionszeit beschäftigt sich mit dem, was Macht über uns gewinnt. Und die traditionelle Aufforderung der Passions- und Fastenzeit war früher - als Vorbereitung des bevorstehenden Osterfestes, auf die Macht und die Begierde zu verzichten, die uns gerade daran hindern, einander zu dienen, wie Christus uns gedient hat und wie er es uns im Ostergeschehen gezeigt hat.

Wir werden - besonders in der Passionszeit - dazu auf­gefordert, dagegen zu kämpfen, daß wir die Macht wollen . Es geht wie gesagt um die flachen Strukturen.

Und wir müssen uns in der Fastenzeit auch bewußt machen, daß wir uns nicht von der Macht unterdrücken lassen .

Fasten, also konkret auf Fleisch verzichten, tat man ja, um zu manifestieren, daß die grundlegende Begierde nach Essen nicht das Leben bestimmen soll.

Vielleicht sollten wir, die wir nicht mehr in der alten mittelalterlichen Weise fasten, den Anlaß wahrnehmen, um darüber nachzudenken, was Macht über unser Leben hat, was unser Leben bestimmt, und wir sollten dann einen ganz stillen Versuch machen, sich davon nicht leiten, unterdrücken und versuchen zu lassen.

Das braucht ja nicht das Essen zu sein oder der Rotwein oder der Lebensgenuß. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist freilich groß. Aber es könnte in unserer arbeitswütigen Kultur ja auch eben der Arbeitsdruck sein, der Leistungsdruck, der Streß, die Gier nach Statussymbolen und Materialität und all dem, was daraus folgt - vielleicht ist es eben dies, was unser Leben heute bestimmt.

Lasterkataloge kann man wohl immer schreiben. Versuchungen gibt es viele. Heute aber sagt uns Jesus direkt im Evangelium, daß wir uns gegen diese begehrliche Weise, das Leben bestimmen zu wollen, schützen sollen.

"So soll es unter euch nicht sein", sagt er, "ihr sollt euch nicht von etwas unterdrücken lassen, ihr habe keinen Grund, euch von eurer Begierde leiten zu lassen" - die Jünger sollen kurz und gut einander Diener sein.

Und wir können hinzufügen: So soll es auch zwischen uns sein. Wir sollen uns selbst und einander als Diener verstehen. Wir sollen jemand sein, der gibt.

Und eben das wollen wir ja eigentlich auch im Innersten: Geben. Kain wollte Gott ein Opfer bringen. Deshalb war er enttäuscht, als Gott es nicht annahm aus einem Grund, den wir nicht kennen.

Und die Jünger wollten Jesus gern das geben, daß sie wirklich an ihn glaubten und deshalb gerne bei ihm bleiben wollten, so nahe wie möglich, am liebsten an seiner rechten und linken Seite.

Das Christentum hebt die Dienerrolle hervor, weil sie das Gleichnis der Liebe Gottes ist. Der Diener ist der, der den anderen erfreut, der die Bedürfnisse des anderen befriedigt, der das Leben gut macht für den anderen.

Wer aber die Schwachheit verhöhnt, der wird wohl miß­trauisch fragen, warum man sich in dieser verkehrten Weise stark machen soll - so daß man die Begierde in sich dämpfen kann - um schwach zu werden, um ein schwacher Diener zu werden. Kann das wirklich die rechte Weise sein, ein Mensch zu sein?

Ja, das behauptet das Christentum! Einander Diener sein ist das wahre Menschsein. Warum? Weil die Lebenseinstellung, die in den flachen Strukturen ihren Ausdruck findet, Leben mit sich bringt. Sie ist ergiebig, produktiv, schöpferisch, dynamisch, erlösend, erneuernd. Sie schafft Zukunft. Offenheit. Hoffnung. Der Diener will das Gute. Will nicht sich selbst und sein eigenes Recht, sondern das Gute um des anderen willen.

Das hier ist keine Utopie. Das Christentum ist nicht Utopie und fern der Wirklichkeit, auch wenn wir manchmal daran zweifeln, ob es sich praktizieren läßt - vielleicht weil wir uns selbst kennen, wie wir sind.

Das Christentum gibt seine klare Antwort und sagt, daß die Voraussetzung dafür, daß dieses Sein möglich ist in der Welt und im Miteinander, die Liebe ist. Und dafür ist Gott der Garant.

Nur mit der Liebe im Rücken können wir geben und dienen und tragen und nachsehen und nicht an unser Recht denken. Und diese Liebe ist nicht etwas, was wir einfach haben. Sie setzt sich durch, wenn wir an sie glauben. Oder wenn wir glauben, dann setzt sie sich durch.

Sie ist die Kraft, die Glauben wirkt. Nicht als etwas Statisches, das wir entweder haben oder nicht haben. Denn es ist ja kein Zufall, daß Jesus zu Simon Petrus sagt: "Wenn du dich einmal bekehrst, dann stärke deine Brüder!" Also: Wenn du eines Tages, oder an dem Tage oder in dem Augenblick, wo du daran glaubst, daß ich die Liebe bin, die für dich gebetet hat und dir den Weg bereitet hat, dann sollst du Diener sein und deine Brüder stärken.

Das Christentum behauptet, daß die Liebe, die in der Schwachheit stark ist, Gott ist. Gott ist identisch mit der Liebe, die Ihre Kraft in der Schwachheit zeigt.

Und Gott hatte offenbar eine Schwäche für uns Menschen, wo er doch so viel für uns opferte. Eine Schwäche, die ihn eben dazu veranlaßte, sich selbst aufzugeben und ein Diener zu werden.

Und durch diese Umkehr, vom erhabenen Gott zum gedemütigten Sohn Gottes, setzte sich die Kraft der Liebe durch und siegte über all das, was mit Tod und Vernichtung endet, mit Schließung, Bankrott und Konkurs.

Die Geschichte Jesu, sein Leben und sein Tod und seine Auferstehung sind ein Gleichnis für den Sieg der Schwachheit. Das endete nicht mit Kreuz und verschlossenem Grab, sondern mit Auferstehung und Licht und Leben und Hoffnung für alle.

Das hören die Jünger auch heute. Sie wollen zwar Diener in der Welt sein, aber eines Tages werden sie mit zu Tische sitzen als die, die sich bedienen lassen. Sie werden auf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten. Sie werden siegen.

Das ist gewiß ein mythisches Bild, das uns heute nicht viel sagen kann - aber wir sollen uns auf die Erhöhung selbst freuen.

Das ist der "Siegeskranz des Lebens", von dem der Apostel Jakobus sprach, wir werden ihn empfangen, wenn wir die Prüfungen bestehen.

Die Schwachheit vernichtet nicht sich selbst, sie wird nicht zunichte - sie wird alles in allem.

Es endet mit Erfüllung und Sattheit und Genuß und Freude. Es endet mit einem großen Festmahl, wo wir obenan sitzen.

Bis es so weit ist, dürfen wir uns über den Tisch freuen, der uns hier gedeckt wird, und uns stärken lassen durch das Brot und den Wein, so daß wir durch die Kraft seiner Liebe glauben können und umkehren und versuchen können, in flachen Strukturen zu leben als Diener für einander. Amen

Pastorin Eva Tøjner Götke
Platanvej 10
DK-5230 Odense M
Tel.: ++ 45 - 66 12 56 78
email: etg@km.dk


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