Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Invokavit, 29. Februar 2004
Predigt über Hebräer 4, 14-16, verfaßt von Jan Greso (Slowakei)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


"Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so laßt uns festhalten an dem Bekenntnis. Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde. Darum laßt uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben."

In diesen Tagen beginnt die Passionszeit. Unsere Gedanken werden sich auf den Herrn Jesus Christus konzentrieren und auf die Lösung des schwierigsten Problems der Menschheit, die er zustande gebracht hat. Er ist zu uns gekommen. Kurz und inhaltsvoll ist das im ersten Kapitel des Johannesevangeliums ausgedrückt: „ Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.“ Der ewige Sohn Gottes ist Mensch geworden. Das bedeutet nicht nur, dass er die menschliche Gestalt auf sich genommen hat, sondern auch, dass er vollständig in die Bedingungen unseren menschlichen Existenz gekommen ist.

Die Evangelien, die von seinem irdischen Leben erzählen, bestätigen das. Aus eigener Erfahrung hat er gewusst, was Hunger, Durst, Müdigkeit ist. Er hat Feindschaft, Unverständnis Fallstricke erlebt. Er hat Angst, Leiden, extreme Qual gekannt.

Er hat gewusst, was Versuchung, Verführung ist, Verführung zum Kult des Reichtums, Macht, Selbstdurchsetzung, zur sensationsvollen Popularität. Er hat die Anziehungskraft aller dieser Dinge empfunden. Nichts Menschliches war ihm fremd. Die Situation, in der wir Menschen uns befinden, konnte er nicht nur theoretisch beschreiben, sondern er hat sie aus eigener Erfahrung gekannt.

Dies ist einer der Gründe, für den wir ihn sehr ernst nehmen sollen. Wer aus der ewigen Welt kommt, von dem gilt, dass er unsere Situation versteht, und zwar nicht oberflächlich, sondern in der Tiefe, wer all das erlebt hat, was wir erleben, der kann uns gewiss etwas Wichtiges sagen, was uns bereichert, der kann uns helfen.

Alles, was gerade gesagt wurde, ist in unserem Text aus dem Hebräerbrief kurz und bündig ausgedrückt: „ Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir“. Ein wichtiger Unterschied von entscheidender Wichtigkeit ist aber da: „doch ohne Sünde“. Wenn er auch in unsere Lebensbedingungen gekommen ist, wenn er sie auch völlig auf sich genommen hat, er verhielt sich in ihnen ganz anders als Adam im Paradies in der Versuchung, ganz anders als in Adams Fusstapfen verhalten wir uns.

Die Versuchungen sind dämonische Versuche, den Menschen zu verunstalten, den Menschen, den Gott zu seinem Bilde schuf. Wer der Versuchung unterliegt, wird entstellt. Jesus Christus hat alle verlockende Versuche abgewiesen, er liess sich in keiner Hinsicht deformieren. Darin ist er ganz einzigartig, ohnegleichen. Er lebte zwar völlig in unseren Bedingungen, ist aber in ihnen nicht im wenigsten deformiert worden. Er lebte inmitten der Menschen, die sich auf verschiedene Weisen bemühten, von Gott zu fliehen, aber er hat seinem himmlischen Vater gegenüber völlige Treue bewahrt. Er bewegte sich unter unsittlichen Menschen, aber er selbst ist vollkommen rein geblieben. Mit selbstsüchtigen, egoistischen Menschen hatte er zu tun, aber er war von jedem Egoismus absolut rein. Lüge, Betrug, Unwahrheit sah er um sich herum, aber sein ganzes Leben war Leben in der Wahrheit. Wenn wir sein Leben betrachten, müssen wir mit Überraschung feststellen: Auch so etwas ist möglich!

Man kann sich angeblich an alles oder fast alles gewöhnen. So haben wir Menschen uns an unsere abnormale Situation der sündhaften Deformiertheit gewöhnt als an etwas, was uns schon als normal, geläufig, selbstverständlich erscheint, womit wir uns schon abgefunden haben. Aber wenn Jesus Christus in unsere menschliche Welt gekommen ist, ist er mit einem unverdorbenen, wahren Einblick gekommen. Was krumm an den Menschen ist, das hat er als krumm gesehen, was deformiert ist, das hat er als deformiert gesehen. Er ist auch dazu gekommen, um uns einen solchen wahren Einblick zu geben. Das ist etwas sehr Wichtiges. Er ist gekommen, um uns zu einem klaren, richtigen Sehen zu erwecken, um uns Augen zu öffnen.

Uns Menschen öffnet er die Augen mit seinen Worten, seiner Lehre und Botschaft. In seiner Lehre weist er klar auf viele Dinge hin, die uns zwar als normal erscheinen, die aber in Wirklichkeit ganz unnormal, ganz verkehrt sind. Er öffnet uns die Augen durch seine Lebensweise. Wer sein Leben aufmerksam beobachtet, der wird den Unterschied zwischen seinem Leben und unserer üblichen Lebensweise schnell entdecken. Auch in der Situation, wo er nichts gesagt hatte, ist er ein lebendiges Ausrufezeichen gewesen. Auch wenn er nichts gesagt hatte, viele haben gespürt, dass seine Lebesnweise eine scharfe Kritik des üblichen menschlichen Lebens ist. Dasselbe sollten auch wir jederzeit verspüren, wenn wir uns in die Evangelien vertiefen und das Vorbild seines reinen Lebens auf uns wirken lassen.

Diese ganze Wirksamkeit ist ein Erweis seines grossen Interesses für uns. Er war auch in dem Sinne nicht egoistisch, dass er sich an seiner sittlichen Reinheit ergötzen sollte und das wir ihm nur als ein dunkler Hintergrund dienen sollten, auf dem seine Reinheit und Heiligkeit besser hervortreten würde. Wenn er zu uns, den tragisch sündhaften Menschen, kommt, ist er durch Liebe und Barmherzigkeit motiviert. Er will uns zu einem solchen reinen Leben verhelfen, wie das seine ist. In seinen Absichten mit uns ist er nicht engherzig. Das, was er uns anbietet, ist etwas grossartiges. An einigen Stellen des Neuen Testaments ist dieser Gedanke klar ausgedrückt. Zum Beispiel im Ersten Johannesbrief lesen wir Folgendes: „ Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“ Von unserer jetzigen zu jener reinen Existenz zu übergehen – darin können wir den Sinn des menschlichen Lebens sehen. Jesus Christus ist dazu unter uns gekommen, um uns zu helfen, diese grosse Veränderung zu verwirklichen.

Wir selbst haben keine völlige Vorstellung darüber, wie gross und schwierig dieser Weg ist. Der menschliche Sündenfall hat wohl einen Hintergrund, den wir bis in die Wurzel nicht klar kennen und verstehen. Es kann sein, dass es für uns eine zu grosse Erschütterung wäre, wenn wir jetzt die ganze Wahrheit erkennen sollten. Aber trotzdem muss sich gerade in der Wurzel, in der Tiefe etwas grundsätzlich verändern, wenn uns der Weg von der unnormalen zu der normalen Existenz ermöglicht sein soll. Gerade damit hängt das Opfer von Jesus Christus am Kreuz zusammen. Im Neuen Testament ist Jesus Christus mit verschiedenen Titeln charakterisiert. Damit ist auf den Reichtum seines Wesens und Werkes hingewiesen. In unserem Text ist er als der große Hohenpriester bezeichnet. Für uns ist dieser Titel nicht gerade leicht verständlich, da wir nicht im Bereich des jüdischen Opfernkultes leben. Aber einige biblische Abschnitte informieren uns schnell, worum es geht. Die eigentlichste Aufgabe des Hohenpriesters war, am grossen Versöhnungstag in das Allerheiligste zu gehen und dort das Opfer für die Sünden des ganzen Volkes zu bringen.

Das Opfer, das der jüdische Hohenpriester brachte, war ein Opfertier. Wenn Jesus Christus hier als der grosse Hohenpriester benannt wird, ist dieses Wort in einem einzigartigen, unwiederholbaren, nur auf ihn sich beziehenden Sinne gebraucht. Im Unterschied zu den jüdischen Hohenpriestern hat er nicht ein Tier, sondern sich selbst als Opfer gebracht. Er selbst hat gesagt, dass niemand grössere Liebe hat als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde. Wer seinen dramatischen Gebetskampf in Gethsemane kennt, wer imstande ist, sich wenigstens einigermassen in sein Leiden am Kreuz hineinzufühlen, der ahnt, wie schmerzvoll diese Selbstopferung des grossen Hohenpriesters Jesus Christus war. Der jüdische Hohenpriester hat die Versöhnungsopfer jedes Jahr von neuem gebracht. Der grosse Hohenpriester Jesus Christus hat sich selbst ein für allemal geopfert. Sein Opfer ist endgültig, und es darf durch keine Wiederholung geringgeachtet werden. Der jüdische Hohenpriester brachte das Versöhnungsopfer für das jüdische Volk. Der grosse Hohenpriester Jesus Christus hat das Versöhnungsopfer für alle Menschen gebracht. Wir alle brauchen ihn unbedingt, wenn wir aus der Knechtschaft der Sünde befreit werden sollen. Der grosse Hohenpriester Jesus Christus ist durch seinen Ursprung einzigartig: er ist zu uns aus der ewigen Welt gekommen. Einzigartig ist er durch das Ziel seines Weges: er ist in die himmlische Welt zurückgekehrt, wo er unser Fürsprecher bei dem Vater ist. Unser Text sagt darüber: „Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so laßt uns festhalten an dem Bekenntnis.“ So gross war und ist unsere Not, dass wir eine so grosse Hilfe nötig haben.

Ein völliges Verständnis der Bedeutung des Todes von Jesus Christus ist nicht leicht. Aber es genügt uns zu wissen: Durch dieses höchste Opfer ist uns möglich geworden, dass wir von unserem durch die Sünde gezeichneten, unnormalen Sein zu einem neuen, normalen Leben übergehen, zu einem Leben, für welches uns Gott geschaffen hat. Darum ist in unserem Text eine ernste Aufforderung, dass wir das grosse, von Jesus Christus auch für uns verwirklichte Erlösungswerk nicht missachten, sondern dass wir es im möglichst vollem Mass annehmen: „Darum laßt uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.“

Auch von uns wird bei der Verwirklichung des neuen Lebens in unserem täglichen Leben eine rege Aktivität gefordert. Da Jesus Christus die Hauptbedingung der Erneuerung unseres Lebens erfüllt hat, kann es auch von uns erwartet werden, dass wir alle unsere Kräfte in dieser Richtung einsetzen. Eine Möglichkeit des neuen Lebens geschenkt bekommen und sie ignorieren, nicht ausnutzen, das wäre eine Beleidigung dessen, der in der Selbstopferung einen so grossen Schmerz erlitten hat. Andererseits wäre das eine tragische Vernachlässigung der einzigen wirklichen Möglichkeit der Rettung. Im Kampf um die Realisierung des geschenkten neuen Lebens will uns unser Hohepriester mit seinem Vorbild, mit der Gabe des Heiligen Geistes helfen. Amen.

Dr. Jan Greso
greso@fevth.uniba.sk


(zurück zum Seitenanfang)