Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Reminiszere, 7. März 2004
Predigt über Römer 5, 1-11, verfaßt von Lothar Grigat
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„Unendliche Verantwortung ruiniert einen Menschen, weil er nur Mensch ist und nicht Gott. Ich denke, es ist das Lachen, das zwischen der Unbegrenztheit der Aufgabe und der Begrenztheit der Kräfte vermitteln kann.“ Noch einmal: es ist das Lachen, das zwischen der Unbegrenztheit der Aufgabe und der Begrenztheit der Kräfte vermitteln kann.

Dieser Satz des Theologen Jürgen Moltmann, liebe Gemeinde, geht mir nach! Und er könnte quasi als Motto für meine Predigt dienen, weil er eine ganze Menge von dem enthält, was unseren eben gehörten heutigen Predigttext auszeichnet.

Trotzdem will ich nun nicht damit beginnen, sondern mit einer Jahreszahl: der Zahl 1619! Sie wird Ihnen wahrscheinlich nicht sehr viel sagen; sie hat auch mir nichts gesagt, bis ich zufällig durch eine Predigt auf sie aufmerksam gemacht wurde. Diese Zahl markiert ein Datum, das man eigentlich erinnern sollte: im Jahre 1619 wurden die ersten Negersklaven in Jamestown, Virginia, von einem holländischen Schiff aus an Land gebracht. 385 Jahre ist das nun her. Damit das aber nicht abstrakt bleibt, rasch ein Bild: das Bild eines Sklavenmarktes! Wie Vieh hat man die Nigger zusammengetrieben, wie Ochsen mit glühenden Eisen gestempelt; sie müssen sich begaffen und betasten lassen, müssen ihre Muskeln zeigen oder ihr Gebiss; ein Nigger war, wie ein Gesetz des Jahres 1787 feststellte, nur zu 3/5 ein Mensch und zu 2/5 ein Tier. Man schlug ihn wie ein Tier, hielt ihn unwissend wie ein Tier, fütterte ihn, damit er Leistung bringen konnte, trennte ihn von seinen Angehörigen, weil der das ja sowieso nicht spürte! Man bot ihn feil, feilschte um ihn und sein Wert stieg oder fiel nach den Gesetzen des Marktes: etwa 200 Dollar um 1700, zwischen 1000 und 2000 Dollar einhundert Jahre später. Kinder natürlich immer mit mehr als 50% Ermäßigung!

Ich breche hier ab und frage: Warum empört es uns heute, so etwas zu hören? Weil das grausam, unmenschlich, unbegreiflich ist? Was ist daran so unmenschlich? Ich meine, dieses: dass da Menschen auf den Markt gebracht und eingeschätzt wurden, dass man sie zu Dingen erniedrigte, deren Wert darin bestand, was sie nützten! Alles andere ergab sich dann daraus wie von selbst!

Heute ist die Sklaverei aufgehoben. Offiziell schon längst! Inoffiziell aber gibt es sie noch immer bis in unsere Tage hinein – wenn auf deutschen Baustellen und in deutscher Schwerindustrie ausländische Arbeiter verhökert werden oder – wie wir ja immer wieder aus den Nachrichten hören – wenn Flüchtlinge aus Afghanistan oder anderswoher in heimlichen Transporten wie Vieh über die Grenzen geschmuggelt werden sollen.

Vom Unrecht, das solchen Menschen immer wieder widerfährt, ist ja öfter mal die Rede; davon muss auch immer wieder gesprochen werden. Aber dennoch wird allzu oft dabei etwas übersehen, das weniger deutlich in Erscheinung tritt, aber dennoch nicht weniger wichtig ist: ich meine die Mentalität, die Einstellung des Sklavenmarktes. Sie ist erschreckend weit verbreitet. Im Grunde findet sie sich ja fast überall – die Vorstellung von der Ware Mensch, auch an Stellen, wo sie keiner vermutet, weil sie mit dem Beispiel, von dem ich ausging, scheinbar nichts zu tun haben. Davon soll nun die Rede sein!

Ein Mensch ist das wert, was er erbringt! Um diese Behauptung geht es! Und ich fürchte, dass wir alle auf die eine oder andere Weise von ihr beeinflusst sind! Zur Zeit gibt es furchtbar viel Enttäuschung und Ermüdung, Resignation unter uns! Das geistige Klima ist von Müdigkeit und Gefühlen der Minderwertigkeit gekennzeichnet. Auch davon, dass ganz viele einfach aussteigen aus dem Zwang, etwas leisten zu müssen. Sie suchen nach dem, was ihnen Spaß macht; nicht mehr Forderung und Leistung spielen für sie eine Rolle, sondern Lustgewinn als Reaktion darauf, dass man ständig überfordert wurde. Übrigens: das gilt auch für die moralische Forderung, jeder sei für alles verantwortlich. Vielleicht haben wir uns in der Vergangenheit damit ja tatsächlich zu viel zugemutet. Das Gesetz tötet, hat Paulus einmal geschrieben; und statt Gesetz könnte man auch sagen: die Norm, der einer genügen muss, um recht zu sein, um auf den Märkten dieser Welt etwas zu gelten. Und wer unter diesem ständigen Zwang lebt, der muss sich entweder belügen über das, was an ihm selbst der Norm widerspricht, um umso heftiger andere dabei zu kritisieren; oder er muss mutlos werden, resignieren. Es sei denn, er würde aufbegehren und sich weigern mitzumachen. Aber wer schafft das denn schon wirklich?

So etwa, liebe Gemeinde, sind die Gedanken, die Paulus in den Kapiteln des Römerbriefs vor unserer Textstelle heute behandelt. Und er knüpft daran an, indem er von einer vierten Möglichkeit spricht: er spricht davon, dass Menschen aus der Sklaverei des Gesetzes befreit werden können, weil sie erfahren, dass ihr Wert sich von ganz anderen Maßstäben her ergibt als sie die geltende Marktordnung vorschreibt; er meint die Maßstäbe, die in Jesus sichtbar wurden!

Vielleicht erinnern Sie sich: da ist die stadtbekannte Hure, die Jesus mit ihren Tränen die Füße wascht. Und er jagt sie nicht davon, als die Pharisäer, jene Bankiers Gottes, darüber murren. Oder er kehrt in Jericho bei dem mindestens ebenso stadtbekannten Ausbeuter Zachäus ein; und er tut dies, um deutlich zu machen, dass Gott den Zusammenhang von Leistung, Lohn und Wert des Menschen sprengt. Und die Empörung der Rechtschaffenen damals war groß. Sie dürfte auch heute wohl kaum geringer sein. Was Jesus tat, brachte tatsächlich die zwischenmenschliche Tarifordnung ins Wanken. Aber genau darum geht es im Evangelium: dass Gott mit keinem nach seinem Marktwert verkehrt; vor ihm gelten sie alle! Weil er sie nach der Liebe beurteilt, die darin sichtbar wurde, dass Jesus bereit war, sein Leben hin zu geben. Wenn Paulus davon redet, dann gebraucht er – wie in unserem Text – die Worte Liebe und Gnade. Und nach dem Sprachgebrauch seiner Zeit meint er in diesen Worten, dass da einer sich dem anderen zuwendet, weil er ihm etwas bedeutet über das hinaus, was seine positiven Eigenschaften sind.

Das alles – so fügt der Apostel sofort hinzu – ist freilich keine Sache bloß der Vergangenheit, sondern es geht um das, was heute geschieht. „Gott hat die Liebe in unsere Herzen ausgegossen durch seinen Geist!“ heißt es hier, und was Paulus damit meint, ist, finde ich, einfach zu verstehen – auch wenn die Worte aus dem Römerbrief zunächst so beschwerlich klingen. Er meint nämlich, dass Gott sich nicht nur irgendwann einmal der Menschheit zugewandt hat, sondern er tut dies immer noch. Und das kann überall dort erfahren werden, wo einer in den Einflussbereich der noch immer gegenwärtig wirksamen Liebe Christi gerät. Denn wo das geschieht, das einer merkt, er sei Gott wirklich recht, da kann er aufatmen und frei sein. Wir erhalten Frieden mit Gott, sagt der Apostel. Gemeint ist mit diesem Wort freilich keine bloße Abwesenheit von Streit und ebenso wenig die Behaglichkeit einer Sofaecke; Friede ist in unserer ganzen Bibel immer die Möglichkeit, wirklich zu gedeihen. Möglich wird das, wo eine Gemeinschaft wieder heil geworden ist. Und nun wird sicherlich auch klar, warum Paulus am Ende unseres Textes von der rühmenden Gewissheit spricht! Denn da hat dann tatsächlich das Lachen seinen Platz, von dem ich zu Beginn sprach: das Lachen der Befreiten! Und ich glaube schon, dass wir das in besonderer Weise brauchen: die lächelnde Zähigkeit und den freudigen langen Atem des Glaubens! Eines Glaubens, der damit rechnet, dass nicht unsere Enttäuschungen das letzte Wort haben und nicht die Unmöglichkeiten, die wir um uns herum erleben, sondern eben dieser Gott!

Wenn ich recht sehe, dann stehen sich heute in unserer Gesellschaft zwei Extreme gegenüber: ungeduldiger Aktivismus und dauernder Veränderungswille auf der einen, resignierende Müdigkeit auf der anderen Seite. Was fehlt, ist die Fähigkeit, durch zu halten, die Geduld mit Energie verbindet. Vielleicht haben wir Christen an dieser Stelle eine besondere Aufgabe! Aber was heißt hier eigentlich „vielleicht“? Ich bin davon überzeugt, dass wir diese Aufgabe haben und dass dazu die Botschaft der Bibel, der Glaube, die Hoffnung, die Liebe – dieser unser Text – Wesentliches beiträgt!

Und der Friede Gottes, der oft genug so anders verstanden wird als er gemeint ist, der bewahre unsere Gedanken und Taten der Liebe in Jesus Christus, unserem Herrn. Amen.

Lothar Grigat
Pfarrstr. 12
34576 Homberg (Efze)


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