Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Okuli, 14. März 2004
Predigt über Epheser 5, 1-8a, verfaßt von Frank Mühring
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„Lebt in der Liebe“

Werdet also Nachahmer Gottes als geliebte Kinder und lebt in der Liebe, wie auch Christus euch geliebt hat. Er hat sich selbst für uns hingegeben als Gabe und Opfer für Gott zu einem lieblichen Wohlgeruch. Von Unzucht aber und Schamlosigkeit aller Art soll bei euch nicht einmal die Rede sein, wie es sich für Heilige gehört. Auch schandbare, närrische oder lose Reden stehen euch nicht an, sondern vielmehr Danksagung. Denn das sollt ihr wissen, dass kein Unzüchtiger oder Unreiner oder Habsüchtiger - das sind Götzendiener - ein Erbteil hat im Reich Christi und Gottes. Lasst euch von niemandem verführen mit leeren Worten; denn um dieser Dinge willen kommt der Zorn Gottes über die Kinder des Ungehorsams. Macht euch nicht mit ihnen gemein. Denn ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. (Epheser 5, 1 - 8a)

Liebe Gemeinde!

Eines Tages war Andreas nicht mehr da. Der Platz unseres Mitschülers blieb an jenem Montagmorgen leer. An dem Tisch, wo er immer saß, befand sich ein Blumenstrauß. Die Englischlehrerin erklärte uns – die wir Schlimmes ahnten - mit brüchiger Stimme: Andreas ist vorgestern freiwillig aus dem Leben geschieden. Wie, das sagte sie uns nicht. Nur eines dürfe sie erzählen. Es gäbe einen Abschiedsbrief, in welchem sinngemäß stünde: „Ohne Liebe kann ich nicht leben.“ Andreas war ein fröhlicher, beliebter Schüler. Er war ein guter Sportler, hatte ein Motorrad und seit langer Zeit eine feste Freundin. Seine Noten waren, ohne dass er sich viel anstrengen musste, über dem Durchschnitt. Er war einer, den viele Jungen und Mädchen insgeheim beneidet haben. Dass Andreas so etwas macht, darauf wären wir, sein Englischleistungskurs, im Traum nicht gekommen. Rätselhaft. Das kann doch nicht wahr sein. So redeten alle an der Schule und schüttelten den Kopf. Wir machten uns Vorwürfe. Haben wir ihn zu wenig beachtet, seinen geheimen Kummer nicht gesehen? Wer hätte sein Herz erreichen können? Die Mitschüler, die Eltern, die Freundin. War Andreas einer, der schon immer „schwarze“ Gedanken hatte? Das alles ist jetzt viele Jahre her. Den Satz der Pastorin bei der Trauerfeier in der Aula habe ich noch heute im Ohr: „Andreas konnte ohne Liebe nicht leben.“

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„Lebt in der Liebe, wie auch Christus euch geliebt hat.“ Das sagt sich so leicht. Das klingt wie ein schöner Spruch für das Poesiealbum. Und ist doch so unendlich schwer, wie Andreas mir gezeigt hat. Wie macht man das, in der Liebe leben? Gibt es dafür eine Gebrauchsanweisung? Einen „Bauplan“ für gelingendes Leben? Natürlich nicht. Man kann auch als Gottes geliebtes Kind scheitern. In Ephesus hat man Erfahrungen mit dem Scheitern gemacht. Der Schwung der ersten Jahre der Christenheit ist dahin. Der Traum, jedes Jahr weiter zu wachsen, ist für die junge Kirche ausgeträumt. Die junge Kirche ist älter geworden. Man tritt auf der Stelle. Es scheint keine Vision für die kommenden Jahre zu geben. Die Jüngeren wenden sich ab, hin zu anderen, attraktiveren Religionen. Was sagt man Menschen in der Situation, wo es „Spitz auf Knopf“ steht? Welches Wort hilft aus den Verkrampfungen?

„Lebt in der Liebe, wie Christus euch geliebt hat.“ Auch auf die Gefahr hin, das alles, was gesagt wird, sich „moralisch“ anhört. Es muss jedem ins Herz gesagt werden. Man kann als Mensch an allem im Leben scheitern, die Kirche mag kleiner werden, mögen alle eigenen Träume platzen. Eines geht nicht: Ein Leben ohne Liebe.

Es geht um eine Liebe, ohne die wir nicht sein, nicht existieren können. Um eine Liebe, die auch noch in Momenten großer Verlassenheit da ist. Eine Liebe, die Dich noch trägt, auch wenn Dir das das Leben den Boden unter den Füßen weggerissen hat. Um die Liebe zum Leben, die bleibt, selbst wenn der Job weg ist, die Ehe unerträglich geworden oder wenn das Alter den Körper fest im Griff hat. „Lebt in der Liebe, mit der Christus euch geliebt hat!“ Denn ohne das Wissen, unbedingt geliebt zu sein, kannst Du nicht leben. Das ist die tiefe Sehnsucht jedes Menschen: Dass es Liebe gibt, die uns trägt. Ohne Liebe sind wir „Finsternis“. Ein dunkler Schatten, aber kein Mensch mehr.

Was tun, wenn die Finsternis übermächtig wird im Leben? Alle 45 Minuten geschieht in Deutschland ein Selbstmord. 11.100 Menschen nehmen sich pro Jahr in Deutschland das Leben. Jeder vierte davon ist unter 30 Jahren wie Andreas. 11.100 Menschen, denen etwas Elementares im Leben gefehlt hat. Auf jeden erfolgten Suizid kommen 15 Versuche. Wer macht so etwas? So fragt man hinterher oft. Es sind Menschen, denen für den Augenblick der Grund des Lebens abhanden gekommen ist. Die Zurückbleibenden fragen sich oft: Warum? Die Eltern von Andreas beteuerten: Wir haben doch alles für ihn getan, ihm all unsere Liebe geschenkt! Das Motorrad, die Reisen mit der Schule – er bekam alles, was er nur wollte. Hätten wir Mitschüler ihm doch nur zugehört, als er einmal ziemlich wütend sagte: „Ihr seid manchmal alle so komisch zu mir. Euch ist es völlig egal, ob ich da bin oder nicht.“

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Liebe ist offenbar mehr als jemandem alle Wünsche zu erfüllen. Echte Liebe will nicht festhalten. Sie kann lange Zeit zuhören und spüren, wie es dem anderen geht. Vielleicht ist es auch das, was viele Menschen heute an der „Institution“ Kirche stört. Dass sie kaum lange genug den Menschen zuhört und scheinbar schon immer weiß, was für den anderen gut ist. Das sie sich anmaßt, anderen Menschen quasi allwissend Wege aufzuzeigen. Und dass sie so leicht „moralisch“ wird. Zum Glück gibt es auch Gegenbeispiele! In der Telefonseelsorge haben Ehrenamtliche Tag für Tag mit Menschen wie Andreas zu tun. Sie müssen mit offenen Ohren und viel Fingerspitzengefühl auf Sätze reagieren wie: „Ich will nicht mehr, ich mach jetzt Schluss.“ Oder Leuten etwas antworten, die mit festem Ton sagen: „Mir wird das alles zu viel!“ Was sagt man dann? Oft sind einem dann die üblichen Sprüche nicht zuhanden, weil sie nicht passen würden. Welches Wort, welche Reaktion hilft aus der Sackgasse heraus?

Für den Epheserbrief gibt es nur eine Liebe, die aus der Sackgasse herausführt. Es ist die Liebe, die Jesus Christus gelebt hat. Eine Liebe, die er mit „Hingabe“ und „Opfer“ beschreibt. Echte Liebe will den anderen nicht besitzen oder festhalten. Nicht einmal den, der Selbstmord verüben will. Es gibt Theologen, die wagen in der Telefonseelsorge mit Suizidkandidaten den Satz: „Wenn sie jetzt Tabletten nehmen wollen, kann ich sie nicht daran hindern.“ Ich finde das sehr mutig und stark. Liebe lässt Freiraum, den eigenen Weg zu gehen. Liebe engt nicht ein. Liebe eröffnet – positiv – neue Handlungsmöglichkeiten.

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„Lebt in der Liebe, mit der Christus euch geliebt hat.“ Wir sind geliebte Kinder Gottes. Wir stehen in seinem Licht. Auch wenn wir manchmal blind sind für dieses Licht. Auch wenn wir Gott nicht spüren in unserem Leben. Die Liebe ist also nicht das, was wir verloren haben. Sie ist auch nicht das, was wir wie eine Sache besitzen können. Sie ist das, was uns geschenkt ist - geschenkt in Christus. Trauen wir uns seine Liebe zu, die uns zur Liebe bewegt! Auch sein Leben war wie das von Andreas früh, viel zu früh zu Ende. Aber es hat zu einem Ziel geführt: Zu Liebe und Hingabe, die im Kreuz die ganze Welt umspannt. Das Kreuz umfasst alle Menschen, auch noch den Selbstmörder, der sich selbst auslöschen will. Es umfasst die Depressiven, die nicht leben und nicht sterben können. Es umfasst die Kranken auf dem Weg in den OP, wenn sie Angst vor dem Aufwachen haben. Jesus am Kreuz umfasst mit seinen ausgebreiteten Armen alle Dunkelheiten, in die wir nur geworfen werden können.

Eben das will der Epheserbrief sagen, wenn er von der Liebe spricht und uns die Nähe der Liebe Christi zuspricht. Du kennst Lieblosigkeiten, Angst und Selbstzweifel - jede Menge. Aber das Geheimnis des Lebens, die Liebe, Christus hat Dir den Kopf immer wieder erhoben, hat Dir wieder aufrechten Gang gegeben. Auf dem Grund deines Ichs wärmt Dich die Gewissheit: Da ist eine Liebe, die bleibt, die sich nie verbraucht, die Dich braucht. Auch wenn Du keine Liebe hast - die Liebe hat Dich. Nenne sie Gott, nenne sie Christus oder behalte den Namen, die sie für Dich hat, ganz für Dich. Doch schöpfe aus dieser Quelle die Zuversicht: Du taugst zur Liebe, Du wirst gebraucht mit deiner Liebe im Meer der Liebe Gottes - für heute und auf immer und ewig. Das hätte ich Andreas gern gesagt.

Amen.

Pastor Frank Mühring
Vereinigte Protestantische Gemeinde zur
Bürgermeister-Smidt-Gedächtniskirche
Bürgermeister-Smidt-Str. 45a
27568 Bremerhaven


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