Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Judika, 28. März 2004
Predigt über Hebräer 5, 7-9, verfaßt von Dorothea Zager
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Und er (sc. Jesus) hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte; und er ist auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt.
So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt.
Und als er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber des ewigen Heils geworden.

I. Ruhe suchen

Liebe Gemeinde,

was ist es eigentlich, wonach wir Menschen am allermeisten suchen? Uns am allermeisten sehnen?

Es ist – auch wenn es nach außen hin anders aussieht – nicht der Reichtum und der Luxus, nicht das Selbstwertgefühl und die Selbstverwirklichung, nicht der Urlaub in der Karibik und auch nicht der Sportwagen in Silbermetallic. Wenn wir in unserem Herzen eine Sehnsucht tragen, einmal so richtig auf der Gewinnerseite zu stehen, abzustauben, den Millionen-Koffer voller Scheine unser Eigen zu nennen, dann ist es – davon bin ich fest überzeugt – nicht die Sehnsucht nach der Erfüllung aller unserer Wünsche, nach Ernennungsurkunden und Börsenerfolgen. Ganz sicher nicht.

Was wir, liebe Gemeinde, im Tiefsten unseres Herzens herbeisehnen ist, Ruhe zu finden. Ruhe für unsere Seele.

Es gibt nichts Schöneres als ein Tag ohne Termine. Ein Tag ohne Streit. Ein Tag ohne schlechtes Gewissen. Einfach nur in Harmonie mit denen leben, die wir lieben. Einfach nur in Ruhe da sein dürfen, ohne dass jemand etwas von mir will.

Dazu gehört natürlich der Wunsch, nicht mehr arbeiten zu müssen. Sich das nicht mehr antun zu müssen mit dem täglichen Frühaufstehen, dem Stehen im Stau, dem Ärger mit Kollegen oder Mitarbeitern. Lebenslange Sofort-Rente wird uns von Lotterien angepriesen – ja, so was wäre schon schön! Schön allein deshalb, weil es uns Ruhe schenken würde. Ruhe vor dem täglichen Fordernmüssen und Gefordertwerden.

Und der Wunsch einmal shoppen zu gehen, bis uns die Füße weh tun, das ist der Wunsch, einmal restlos und rundherum zufrieden zu sein. Nichts mehr zu wünschen, nichts mehr herbeizusehnen. Glücklich zu sein. Ruhe zu haben vor den Sehnsüchten und den Träumen, die die Auslagen in den Schaufenstern in einem jedem von uns wecken, der seine Geldbörse gut festhalten und rechnen muss.

Wenn wir den Fernseher ausschalten, weil die Nachrichten wieder nur schreckliche Bilder und Meldungen bringen von Krieg und Gewalt, von Hunger und Umweltzerstörung – dann verschließen wir nicht nur die Augen vor dem Leid der Menschheit, sondern auch vor der Schuld der Menschheit – und möchten einfach dieses quälende Feuer in uns löschen, das unser Gewissen in uns wach hält. Wir suchen die Ruhe, ein reines Gewissen, das uns sagt: Du bist ja nicht dran schuld. Du kleiner Mensch kannst ja doch nichts ändern. – Und wenn solche Ruhe auch trügerisch ist, wir suchen selbst sie.

Die Sehnsucht nach Ruhe führt uns übrigens auch hierher in die Kirche. Wir hören es gerne, wenn die Orgel spielt. Wir denken und beten gerne mit, wenn Gebete gesprochen oder Texte gelesen werden. Natürlich hören wir auch den Worten der Predigt aufmerksam zu, aber kaum einer von uns, liebe Gemeinde, tut es, um sich aufrütteln und anspornen zu lassen. Wir wünschen uns Ermutigung, Trost vielleicht sogar Heilung an den Stellen, an denen uns das Leben schmerzt und Mühe macht. Die meisten von uns sind hier, weil ihnen die Ruhe gut tut. Ruhe vom Alltag, Ruhe vom Zeitdruck, Ruhe von Klingel und Telefon, Ruhe vor den Konflikten, die uns quälen, Ruhe vor den unerledigten Dingen, die zuhause auf uns warten, Ruhe vor Schuld, die wir auf unserer Seele tragen und die uns belastet. Wir sind hier um Ruhe zu finden für unsere Seele.

Wer zu Gottes Ruhe gekommen ist, der ruht auch von seinen Werken, so wie Gott von den seinen. (Hebr 4,10)

II. Auf dem Weg zur Ruhe

Als das Volk Israel sich durch die Wüste quälte – mit Hunger und Durst, mit Glaubenszweifeln und Ängsten – da sehnte es sich auch nur nach Einem: Ruhe finden. Nicht mehr wandern müssen, sondern ein Zuhause haben. Nicht mehr Fremde, nicht mehr Ausländer sein, sondern sagen können: dies hier ist unser Land, unser gelobtes Land. Nicht mehr Wege suchen und Umwege erkennen, sondern angekommen sein, da, wo wir zu Hause sein dürfen.

So war der Weg Israels durch die Wüste ein Weg der Sehnsucht nach der großen Ruhe, nach einer Heimat für alle.

Derjenige, der den Hebräerbrief geschrieben hat, hat genau dieses Bild vom wandernden Gottesvolk aufgegriffen. Und er sagt uns: Auch Ihr, Ihr Christen, seid ein solches Gottesvolk. Ihr seid noch auf dem Weg. Noch seid Ihr nicht angekommen. Noch sehnt Ihr Euch nach der Ruhe, bei Gott sein zu dürfen und dort eine Heimat zu haben. Aber einer ist Euch vorangegangen, der Euch den Weg gebahnt hat: Jesus Christus.

Er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte; und er ist auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt.

So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt, Gehorsam gelernt.

Und als er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber des ewigen Heils geworden, genannt von Gott ein Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks. (Hebr 5,7-10)

  III. Zur Ruhe finden

Der leidende Christus also, liebe Gemeinde, ist derjenige, der den Weg vorangegangen ist und uns zeigen kann, wie wir wirklich zur Ruhe finden können.

Hören wir, wie der Hebräerbrief diesen Weg Jesu beschreibt:

  1. Jesus hat gelitten

Wir müssen uns nicht den umstrittenen neuen Jesusfilm von Mel Gibson anschauen und uns über dessen übertrieben-blutrünstige Szenen und die doch hinlänglich bekannten amerikanischen Übertreibungsstrategien ereifern – wir wissen es auch so: Jesu Weg ans Kreuz war ein bitterer und schwerer Weg. Nicht nur wegen der Wunden, nicht nur wegen der Peitschenhiebe und des schweren Kreuzesbalkens, den Jesus nach Golgatha tragen musste – sondern gerade auch wegen der Worte, die Jesus hörte, den Hohn der Menge, die Enttäuschung seiner Anhänger, die man ihm entgegenschmetterte, das Schweigen und die Flucht seiner Jünger und schließlich der erniedrigende Spott, er möge doch – wenn er wirklich ein Gottessohn wäre – herabsteigen vom Kreuz und allen zeigen, was er kann. – Nein, er tat es nicht. Sondern er litt.

Uns Christen nagelt niemand ans Kreuz, wenn wir für unseren Glauben einstehen. Aber Spott bekommen wir schon des öfteren zu hören, beißende Ironie oder die immer wieder so gerne erzählten Geschichten von Pfarrern, die nichts taugen, und Kirchensteuermitteln, die vergeudet werden. Von den Inhalten unseres Glaubens ganz zu schweigen. Ich kenne Kinder, die im Schulbus bloßgestellt wurden, nur weil sie zum Kindergottesdienst gehen, oder die öffentlich beten sollten, nur weil sie Pfarrerskinder waren. Der Weg des Gottesvolks durch diese Welt ist ein schwieriger Weg. Und es erfordert oft viel Mut und viel Durchhaltevermögen, eben nicht aufzugeben wie so viele, sondern seinem Glauben treu zu bleiben.

  2. Jesus war gehorsam

Warum ist Jesus eigentlich nicht herabgestiegen vom Kreuz und hat es allen gezeigt? Er hätte es einfacher gehabt – und wir hätten es einfacher gehabt – als Christen heute! Einen mächtigen Herrn zu verkündigen ist viel einfacher als einen gedemütigten, einen hingerichteten. Warum musste das so sein? Warum litt er bis in den Tod?

„Er lernte den Gehorsam.“ – so heißt es hier im Hebräerbrief. Was eine grausame Schule, die am Kreuz den Gehorsam lehrt! Will Gott einen solchen Kadavergehorsam? Den Gehorsam Abrahams, der seinen einzigen Sohn schlachten soll? Den Gehorsam eines 36-Jährigen, der gegen seinen Willen, doch lieber am Leben zu bleiben, klaglos ans Kreuz geht? Ist das ein Gehorsam, den Gott von uns erwartet?

Nein, es geht hier nicht um Kadavergehorsam, sondern darum, zu erkennen, dass Gottes Gesicht nicht ein Gesicht der Macht und der Gewalt ist, sondern ein Gesicht der Liebe und der Demut. Und dazu gehört eben auch, sich nicht zu wehren, sondern den Weg ins Leiden zu gehen. „Wer sein Leben erhalten will, der wird's verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden.“ (Mt 16,25) – Darum steht hier auch – fast in einem Nebensatz versteckt – das Wort: „ und er ist auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt.“ Es ist das helle Licht des Ostermorgens, das hier den Leidensweg Jesu überstrahlt. Ja, Jesus musste leiden und sterben – sein Bitten und Flehen, sein lautes Schreien und seine Tränen retteten ihn nicht vor dem Tod. Aber sein Gehorsam und sein Vertrauen wurden nicht enttäuscht: Gott brach die Macht des Todes und setzte Jesus vor aller Welt ins Recht.

3. Jesus schenkt uns das ewige Heil

Warum Jesus hier im Hebräerbrief so gerne „Hoherpriester“ genannt wird, wird uns nun immer mehr deutlich. Wir Christen sind ein wanderndes Gottesvolk, und sehnen uns genauso wie das Volk Israel nach einer Heimat, nach einer Ruhe, nach einem Ort, wo es keine Zweifel und keine Fragen mehr gibt.

Für das Volk Israel war dieser Traum der Traum vom Land Kanaan und dem Tempel in Jerusalem, wo der Hoherpriester der Vermittler war zwischen Gott und seinem geliebten Volk.

Für uns nun ist diese Heimat, nach der wir uns sehnen, das Reich Gottes. Und Christus ist dieser Vermittler, dieser „Hoherpriester“ geworden, von dem das Alte Testament erzählt. Wenn wir Christen wandern und uns nach einem Ort der Ruhe und der Kraft sehnen, nach einem Ort, wo wir ohne Zweifel und ohne Schuld Gott gegenüberstehen und ihm begegnen können, wenn wir uns danach sehnen, dann sehnen wir uns nach dem Reich Gottes und dann ist Jesus Christus der richtige Weg dorthin. Wie ein vermittelnder Hoherpriester ist er hier dargestellt, für uns vielleicht besser vorstellbar als eine Brücke ins Land des Friedens und der inneren Ruhe:

Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis.

Lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben. (Hebr 4,14.16).

Größer und schöner können wir uns den Ort des ewigen Friedens und der Ruhe für unsere Seele nicht vorstellen: Freiheit von aller Schuld und die Liebe Christi immer an unserer Seite.

Amen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn. Amen.

Vorschlag für den Psalm

Psalm 4 (EG 703) oder Psalm 13 (EG 706)

Vorschlag für die Schriftlesung:

Anstelle der vorgeschriebenen Lesung Mk 10,35-45 (Vom Herrschen und vom Dienen) kann zum besseren Verständnis des Predigttextes Mt 26,36-46 (Jesu Gebet in Gethsemane) verlesen werden. Ich mache aber darauf aufmerksam, dass – rein exegetisch gesehen – im Hebräerbrief nicht auf dieses Geschehen Bezug genommen wird.

Liedvorschläge:

Eingangslied: EG 79: Wir danken dir, Herr Jesu Christ
Lied nach der Lesung: EG 586: Herr, der du einst gekommen bist
Wochenlied: EG 76: O Mensch, bewein dein Sünde groß
Lied nach der Predigt: EG 625: Wir strecken uns nach dir
EG 93: Nun gehören unsre Herzen
Schlusslied: EG 385: Mir nach, spricht Christus, unser Held

Pfarrerin Dorothea Zager
Alzeyer Straße 118
67549 Worms
E-Mail: dwzager@t-online.de


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