Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Gründonnerstag, 8. April 2004
Predigt über 1. Korinther 11, 23-26, verfaßt von Jochen Cornelius-Bundschuh
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23 Denn ich habe von dem Herrn empfangen, was ich euch weitergegeben habe: Der Herr Jesus, in der Nacht, da er verraten ward, nahm er das Brot,
24 dankte und brach's und sprach: Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedächtnis.
25 Desgleichen nahm er auch den Kelch nach dem Mahl und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut; das tut, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis.
26 Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.

I

Fünfzig oder sechzig Personen sind gekommen. Die jüngste ist kaum über zwanzig, der älteste um die siebzig. Eine Frau kurvt mit ihrem elektrischen Rollstuhl herein und sucht sich zwischen den Stühlen einen guten Platz. Ein spastisch gelähmter Mann wird halb liegend in den Raum geschoben. Vor wenigen Wochen hat er eine Kollegin um eine Andacht zum vierzigsten Jahrestag seiner Konfirmation gebeten. „Er feiert so gern!“, sagt die Leiterin seiner Wohngruppe.

Betreuerinnen sind da, der Hausleiter, Menschen aus dem Ort, die regelmäßig Besuche in dieser Einrichtung für behinderte Menschen machen. Ein Musiker, der einen Chor und eine Band leitet, deren Auftritte längst weit über die Grenzen der Wohn- und Werkstätten hinaus bekannt sind, packt seine Gitarre aus. Er ist verantwortlich für die Musik und die Lieder, die wir beim Abendmahlsgottesdienst am Gründonnerstag singen.

II

Alles ist bereit: der Raum ist geschmückt, der Tisch gedeckt, Brot und Wein sind vorbereitet. Vor allem: die Menschen sind bereit. Sie begrüßen sich. Manche gehen auf diejenigen zu, die aus dem Ort kommen und den Gottesdienst vorbereitet haben. Sie freuen sich. Sie warten. Ungeduldig.

Noch bevor der Gottesdienst beginnt, kommt eine Frau nach vorne zum Altar. Sie nimmt ein Stück von dem Brot. Ein Mitarbeiter versucht ihr klar zu machen, dass sie noch einen Moment warten soll. Es geht doch um ein besonderes Essen! Aber sie lockt das Elementare. Sie will essen. Sie genießt es, jetzt ein Stück Weißbrot zu essen. Jetzt, in dieser Gemeinschaft, voller Erwartung. Sie ist froh, das es ihr niemand verwehrt und sagt: ‚danke'.

Die Situation ist anders als in Korinth, so deutlich anders, dass Paulus seine Freude daran gehabt hätte. Denn: wer hier zu früh isst, tut dies aus Freude am geschenkten Brot, am geschenkten Leben und in Vorfreude auf den Gottesdienst in dieser Gemeinschaft. In dieser Gründonnerstagsgemeinde hat sich der Geist Gottes ausgebreitet, noch bevor gesagt ist, dass wir den Gottesdienst in seinem Namen feiern.

Heiter sind die einen, andere ernst. Sie spüren die Wertschätzung, die ihnen hier begegnet; eine Wertschätzung, in der etwas spürbar wird von der unbedingten Anerkennung, mit der Jesus sich für uns gegeben hat: ‚das ist mein Leib - für Euch'. Jesus gibt, ohne zu fragen, was er bekommt. Er schenkt, verschenkt sich, ohne eine Gegengabe zu erwarten. Er durchbricht den Zirkel von Geben und Nehmen, weil sich in diesem Kreislauf nicht leben lässt. Denn wer kann dabei mithalten? Die meisten von den Menschen, die hier versammelt sind, auf den ersten Blick jedenfalls nicht. Sie lassen sich beschenken. Die junge Frau, die an Down-Syndrom leidet, sitzt auf ihrem Stuhl und lehnt sich an eine Besucherin. Sie spürt die Anerkennung und genießt sie. Denjenigen aber, die hier regelmäßig zu Besuch kommen, auch denen, die hier arbeiten, spürt man ab, dass Geben und Nehmen dann doch nicht so eindeutig verteilt sind. Auch die Frau, an die sich die junge Frau anlehnt, scheint es zu genießen. Und der Musiker kann lange erzählen, wie schön es ist, hier zu singen und Musik zu machen. Weil es so viel unmittelbare Resonanz, so viel Freude und Herzlichkeit, manchmal natürlich auch Ärger gibt.

Natürlich: auch diese Abendmahlsgemeinde ist keine ideale Gemeinde. Auch in ihr droht der Verrat, so wie damals als Judas mit am Tisch saß. Oder wie in Korinth, wo die Reichen die Armen einfach ignorierten und vergaßen, dass Lebensmittel zum Teilen da sind. Wer sich dem Tisch des Herrn nähert, wird die Gefahren des Verrats und des Versagens nicht los. Vielleicht ist es hier im Aufenthaltstraum der Einrichtung für behinderte Menschen der Streit um die besten Plätze, vielleicht das Buhlen um die Gunst der Betreuerin.

III

Auf jeden Fall gibt es in dieser Gemeinde viele Resonanzen, auf das was ihnen geschenkt wird. Die einzelnen reagieren auf den Gottesdienst: Manche mit Zwischenrufen, andere sprechen überlieferte Gebetstexte mit, viele rufen am Ende der Gebete ‚Amen'. Ein Mann wiederholt immer meine letzten Worte. Und wenn von Jesu Leiden die Rede ist oder von seinem Ton, beginnen einige zu klagen oder zu jammern.

Die Aufmerksamkeit gilt nicht nur dem Gottesdienstablauf. Hier wird aufeinander geachtet. Was der oder die andere tut, wird von manchen lauthals kommentiert, wird kritisiert, in einer Geste aufgenommen und weitergeführt. Bei der Austeilung werde ich von Nachbarn darauf hingewiesen, wer Wein trinken darf und wer nur Saft verträgt. Ein älterer Bewohner hilft einem spastisch gelähmten jungen Mann, den Becher an den Mund zu führen. Eine Frau spricht mich an: der Klaus hat noch kein Brot gehabt. Ein zierlicher junger Mann wendet mir sein Gesicht nicht zu, als ich die Spendeformel sprechen will, sondern sagt zu seinem Betreuer: „Erst Du!“ Das Herrenmahl ist ein gemeinsames Essen. Ein besonderes, ein eindrückliches Essen, aber doch ein Essen, für das die Grundregel des Lebens gilt: alle müssen zu ihrem Recht kommen, alle sollen satt werden. In dem sich zeigen soll: wir gehören zusammen. Jetzt und hier!

Auch das ist anders als in Korinth. Da kommen die Gemeindeglieder zusammen und achten nicht aufeinander. Die christliche Gemeinde besteht überwiegend aus sozial Schwachen. Sie müssen sich regelrecht von ihrer Arbeit davon schleichen, wenn sie am Abend zum Gottesdienst kommen wollen. So kommen sie oft zu spät. Die Wohlhabenden stört das nicht; sie sind rechtzeitig da. Und essen, soviel sie haben, und trinken, soviel sie können. Sie genießen rücksichtslos, was da ist und kommen schon vor dem Herrenmahl in eine himmlische Stimmung. Denen aber, die zu spät kommen, knurrt der Magen. Wo eigentlich ein Liebesmahl gefeiert werden soll, bei dem diejenigen, die wenig oder nichts hatten und deshalb tagsüber hungern mussten, nun auf Kosten der Reichen verpflegt werden sollen, da pflegen die Wohlhabenden und Mächtigen ihre eigene Clique und die Missachtung der anderen. Die einen sind voll des guten Essens und auch des Weines; die anderen nicht satt. Sie zweifeln angesichts leergegessener Teller und leergetrunkener Becher an der Wahrheit und dem Ernst des Herrenmahles, das im Anschluss gefeiert wird: Das Mahl der Danksagung, der Freude über den gemeinsamen Herrn.

IV

Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid! Die Gemeinde dieser Einrichtung für behinderte Menschen hat sich rufen lassen. Nun sitzen sie da und singen: Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt, damit ich lebe. Sie freuen sich an der Begegnung, an dem Besonderen dieses Gottesdienstes.

Als ich die Einsetzungsworte spreche, sprechen viele mit, so wie nachher auch beim Vaterunser. Die Worte sind ihnen gegenwärtig. „Das ist mein Leib, der für euch gegeben ist.“ „Dieser Kelch ist das neue Testament in meinem Blut.“

So, in Brot und Wein und in diesen Worten ist Jesus mitten unter uns gegenwärtig. In der Gemeinde, die darüber jubelt, dass der Gekreuzigte lebt und dass sie mit ihm und von ihm lebt. Jesus ist da, ist für uns da. Für uns als Gemeinde, in der unterschiedliche Menschen, auch Menschen, die sich fern und fremd sind und die sich nicht leiden mögen, zusammen gehören.

Für uns als Gemeinde, aber dann eben auch für jeden und jede einzelne: nimm hin und iss, nimm hin und trink. Dir gilt dieses Wort, du sollst satt werden vom Brot, der Wein soll dein Herz erfreuen. Du brauchst nichts zu geben, um dieses Lebensmittel zu dir zu nehmen. Du brauchst nichts dafür tun und leisten, damit du dieses „elementarste Lebensmittel“ (E. Jüngel) empfängst.

Wer sonst immer gefordert und oft genug überfordert ist, hier wird ihm etwas geschenkt: Nimm hin und iss! Am Tisch des Herrn findet die Leistungsgesellschaft ihre Grenze. Am Tisch des Herrn gelten andere Kriterien im Blick auf den Wert von Menschen. Beim Abendmahl werden diejenigen froh, die es nach meinen normalen Vorstellungen besonders schwer haben. Das wird mir in dieser Gemeinde besonders deutlich.

Dass es nicht leicht ist, diese Gabe anzunehmen, ist offensichtlich. Die junge Frau hat ihre Hände vor das Gesicht gelegt, nachdem sie das Brot empfangen hat. Sie nimmt sie nicht fort. Aber die anderen haben Zeit. Sie sind interessiert, aber sie warten, so wie ich.

In der Welt setzen wir uns unter Druck. „Die Welt wird von Imperativen und Optativen beherrscht!“ (E. Jüngel) Hier im Abendmahl haben wir Zeit. Denn „sooft wir von diesem Brot essen und aus diesem Kelch trinken, verkündigen wir den Tod des Herrn, bis er kommt.“ Seit Gründonnerstag gilt eine neue Zeitordnung. Schon jetzt, hier und heute. Eine, die uns und den anderen Zeit lässt.

Die junge Frau nimmt ihre Hände vom Gesicht, schlägt ein Kreuz, schaut mich strahlend an und streckt ihre Hand nach dem Becher aus: „Nimm hin und trink, Christi Blut für dich vergossen.“ Amen.

Direktor Priv.-Doz. Dr. Jochen Cornelius-Bundschuh
Evangelisches Predigerseminar
der Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck
Gesundbrunnen 10
34369 Hofgeismar
05671-881271
e-mail: cornelius-bundschuh@ekkw.de


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