Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Rogate, 16. Mai 2004
Predigt über 1. Timotheus 2, 1-6a, verfaßt von Klaus Bäumlin
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„So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit. So ist es ist gut und wohlgefällig vor Gott, unserem Heiland, welcher will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat für alle zur Erlösung.“

Ich füge noch die – sehr freie – Übersetzung von Klaus Berger hinzu:

„Meine erste Bitte: Für alle Menschen sollt ihr bitten, beten, flehen und Gott danken. Betet für die Könige und alle, die Macht und Verantwortung haben, dass unser Leben in eine Friedenszeit fallen möge, in der wir frei sind von Angst und keiner uns verbietet, an Gott zu glauben und ihn allein anzubeten. So ist es der Wille Gottes, unseres Erlösers. Er will, dass alle Menschen dadurch erlöst werden, dass sie ihn als die wahre Wirklichkeit kennen lernen. Denn es gibt nur einen Gott und nur einen Mittler zwischen Gott und den Menschen, den Menschen Jesus Christus. Er hat sein ganzes Leben für alle Menschen eingesetzt, um ihre Sündenschuld durch seine Gerechtigkeit aufzuheben.“

Liebe Gemeinde! Das Beten in Fürbitte und Dank sei der erste, der wichtigste Dienst, den Christen und Christinnen zu erfüllen haben, mahnt der Apostel, wichtiger noch als jedes Tun. Beten ist also so etwas wie der Grundstrom, der Herzschlag, der unser ganzes Leben bestimmt und erfüllt. „Betet ohne Unterlass“ hat Paulus geschrieben (1. Thess. 5,17). Wir werden noch darauf zurückkommen, was das heissen kann: „ohne Unterlass“. Zunächst heisst Beten ganz einfach: mit unserem Gott in einem ständigen Gespräch sein, ihm alles anvertrauen, alles vor ihm zur Sprache – auch zur stummen Sprache –, zur Sprache des Herzens bringen, was uns bewegt und beschäftigt.

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„Für alle Menschen!“ betont der Apostel. Das Beten verbindet uns mit allen Menschen, führt uns in eine tiefe Solidarität mit ihnen: nicht nur mit den uns Nahen, den Angehörigen, den Christen, den Nachbarn, sondern auch den Fernen, den uns ganz und gar Unbekannten, auch mit denen, vor denen wir uns fürchten und deren Tun und Lassen wir verurteilen. Diese innere Solidarität und Verbundenheit ist die Voraussetzung für jedes solidarische Tun, für jeden Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit auf der Erde. Ihren Grund hat sie in Gott selber. Er will, dass allen Menschen geholfen werde. Und so hat denn auch Jesus Christus sein Leben für alle hingegeben. Gottes Erlösungswille ist universal. Niemand ist davon ausgeschlossen. Was Christen von andern Menschen unterscheidet ist nur die Erkenntnis, dass ihr Gott der Gott aller Menschen ist und dass das, was Christus vollbracht hat, für alle gilt. „Es ist nur ein Gott und nur ein Mittler zwischen Gott und den Menschen.“ Das ist keine Kampfparole gegen andere Religionen und Weltanschauungen, keine Devise, mit der wir Christen in den Kampf der Religionen und Kulturen ziehen – erst recht nicht in Zeiten wie der unsrigen, wo das Verhältnis zwischen den Religionen in vielen Teilen der Welt von alten und neuen Konflikten belastet ist. Ich denke, die Mahnung des Apostels, für alle Menschen zu beten, erhält vor diesem aktuellen Hintergrund ein besonderes Gewicht. Wir lassen uns nicht aufwiegeln gegen Menschen, die anders glauben und leben als wir. Wir schlagen ihnen unseren Glauben an den einen Gott und Mittler nicht um den Kopf. Aber wir lassen ihn lebendig werden in unserem Gebet zum einen Gott.

Für alle Menschen beten – das prägt unser Denken und Leben, es beeinflusst unsere innere Einstellung. Wer das Schicksal aller Menschen im Gebet vor Gott bringt, der ist nicht mehr anfällig für die Versuchung des Fremdenhasses und des Rassismus. Ja, er verliert vielleicht gar ein wenig die Furcht vor andern und kann ihnen in der konkreten Begegnung entgegen gehen, bekommt den Mut und die Kraft zu ersten Schritten der Verständigung und Versöhnung.

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Der Apostel nennt vier verschiedene Arten des Betens. In der Übersetzung Luthers heissen sie „Bitte, Gebet, Fürbitte, Danksagung“. Gebet, Danksagung und Fürbitte sind ein elementarer Teil des Gottesdienstes der Gemeinde. Einen Gottesdienst ohne Predigt kann man sich vorstellen, einen ohne Gebet nicht. Man denke nur an die Stundengebete in den Klöstern. Auch die Lieder, die wir singen, sind ja nichts anderes als mit gehobener Stimme vorgetragene Gebete. Ja, der ganze Gottesdienst ist im Grunde eine einziges Gebet. Bitte, Gebet, Flehen, Danksagung: Die Bedeutung der griechischen Worte im originalen Text ist nicht in jedem Fall genau abzugrenzen. Das Wort „Flehen“ gibt dem Gebet eine grosse Dringlichkeit und Intensität. Es schliesst auch die Klage ein. Wir dürfen vor Gott unsere beschwerten Herzen ausschütten. Der Gottesdienst ist die Gelegenheit, wo wir gemeinsam vor Gott klagen – nicht anklagen! – über das Unrecht und die Gewalt, über so manches, was schief läuft und kaputt geht auf unserer Erde und in unserem eigenen Leben, und der Trauer das Wort lassen über Verlorenes und Zerbrochenes, auch über unser Unvermögen, unsere Schwachheit und Herzensträgheit.

Aber der Gottesdienst ist auch der Ort des gemeinsamen Dankes für so viel Gutes, das uns zuteil wird, für die Schönheit und Güte der Schöpfung, für die Treue und unverbrüchliche Zuwendung Gottes in seinem Wort und in der Hingabe seines Sohnes, für jedes Glück, das uns geschenkt wird, für jedes noch so kleine Zeichen von Frieden und Gerechtigkeit, das wir sehen und erleben. Auch in dieser Hinsicht sind uns die Lieder des Gesangbuchs ein wunderbares Vorbild.

In der Fürbitte wird es konkret. Das griechische Wort, das man am ehesten mit „Fürbitte“ übersetzt, hat auch die Bedeutung von „Eingabe“ oder „Petition“. In der Fürbitte geht es um das Einstehen vor Gott für konkrete Menschen, für konkrete Nöte unserer Gegenwart. Hier werden Namen genannt, Namen von uns bekannten Menschen, von Leuten, die in Staat und Politik und Wirtschaft Macht und Verantwortung haben; Namen von Menschen, die in besonderer Weise zu den Leidenden gehören, Kranke, Hungernde, Vertriebene, Opfer von Unrecht und Gewalt. Konflikte werden beim Namen genannt. In der Fürbitte des Gottesdienstes übergeben wir Gott unsere „Petitionen“ mit den dringenden Anliegen, die uns auf dem Herzen brennen.

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Doch das Gebet beschränkt sich natürlich nicht auf den Gottesdienst der Gemeinde. Es ist der Grundstrom, der Herzschlag unseres Lebens. „Betet ohne Unterlass!“. Ist das nicht völlig unrealistisch und würde uns völlig überfordern? Wir können ja nicht den ganzen Tag die Hände falten und Gebete sprechen. Es hat seinen guten Sinn, wenn wir im Gottesdienst der Gemeinde zum Beten eine bestimmte Haltung einnehmen, die Hände falten, die Augen schliessen, aufstehen oder knien. Das kann eine bestimmte innere Haltung zum Ausdruck bringen, eine Gebärde der Demut, der Freude oder des Protestes zum Beispiel, und es kann der Konzentration dienlich sein. Aber Beten kann auch ganz ohne solche äussere Merkmale geschehen. Die morgendliche Zeitungslektüre, das Hören der Nachrichten am Radio, das Ansehen der Tagesschau am Fernsehen kann uns zum Gebet werden, wenn wir das Berichtete nicht bloss innerlich mit unseren Kommentaren versehen, Enttäuschung, Zorn, Trauer und Resignation nicht bei uns selber behalten oder mit andern in Schimpfen, Jammern und Fluchen kommunizieren, sondern darüber mit Gott ins Gespräch kommen, mit ihm das tägliche Geschen kommunizieren. Dazu braucht es keine gefalteten Hände.

Auch der tägliche Weg zur Arbeit, das Fahren im Bus oder in der Eisenbahn kann uns unvermittelt ins Gebet treiben. Wenn wir den vielen jungen und alten Menschen mit ihren fröhlichen oder teilnahmslosen und verschlossenen Gesichtern, ihren uns unbekannten Lebensgeschichten und Sorgen begegnen oder wenn wir unbeschäftigte, orientierungslose Jugendliche sehen oder die Drogenabhängigen auf ihrer rastlosen Suche nach Stoff, dann mag uns der Seufzer “Ach Gott!“ aus dem Herzen und über die Lippen kommen. Er ist, wenn er nicht schierer Resignation entspringt, wohl das kürzeste Gebet: „Ach Gott vom Himmel sieh darein und lass dich des erbarmen!“ Aber wie sollte es nicht auch da Anlass zur Dankbarkeit geben, wenn wir sehen, wie ein junger Mensch einer gebrechlichen Frau in den Bus hilft oder wenn ein Strassenmusikant dem grauen Alltag mit seinem beschwingten Spiel einen kleinen Glanz aufsetzt. So viele kleine Zeichen von Gottes Menschenfreundlichkeit! Zum Beten braucht es offene Augen und wache Sinnen.

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Doch nun mahnt uns der Apostel, im besonderen „für die Könige und alle Obrigkeit“ zu beten, oder, wie es in der modernen Übersetzung heisst: „für alle, die Macht und Verantwortung haben“. Und hier beginnen nun die Fragen, die die Worte aus dem ersten Timotheusbrief bei mir auslösen. Sie waren für Leute bestimmt, die wie die Empfänger des Briefes nicht den geringsten Einfluss auf die Politik, auf das öffentlichen Geschehen hatten. Was der Kaiser in Rom, seine Statthalter in den Provinzen und die lokalen Potentaten anordneten, dem hatte man sich zu fügen, und es entschied über das Schicksal von Völkern und Menschen. Das ist in unseren demokratischen Gesellschaften anders. Die Bürgerinnen und Bürger sind am öffentlichen Geschehen mitbeteilt und können es durch ihr Wahl- und Stimmverhalten beeinflussen. Also müsste unser Gebet auch sie einschliessen.

Und hier steigen weitere Frage in mir auf. Worum sollen wir denn in diesem Zusammenhang konkret beten? Gewiss, wir können darum bitten, dass Gott den Regierenden und den Bürgern und Bürgerinnen Weisheit und Verantwortungsbewusstsein schenkt. Doch worin besteht diese Weisheit denn konkret? Bezogen auf die Schweiz zum Beispiel: Soll Gott unsern Bürgern und unseren Politikern die Weishit geben, baldmöglichst der Europäischen Union beizutreten oder am Alleingang festzuhalten? Oder bezogen auf den Israel-Palästina-Konflikt: Soll der Gott Israels, der doch auch unser Gott ist, die Israeli dazu bewegen, den Gazastreifen und das Westjordanland den Palästinensern zurückzugeben oder an der Idee eines Grossisraels festzuhalten? In beiden Beispielen gehen die Meinungen, auch unter Christen, diametral auseinander. Laut Matth. 18,19 aber hat Jesus gesagt: „Wenn zwei unter euch eins werden auf Erden, worum sie bitten wollen, so soll es ihnen widerfahren von meinem Vater im Himmel.“ An dieser Einigkeit aber mangelt es. Könnte es sein, dass, solange die Christenheit in den grossen Fragen des Friedens und der weltweiten Gerechtigkeit nicht einig ist, sondern nur die kontroversen Meinungen ihrer jeweiligen Gesellschaft widerspiegelt, das Gebet „für die Könige und alle Obrigkeit“ ins Leere zielt? Mir kommt da ein Aphorismus von Jo Krummacher in den Sinn: „Auf beiden Seiten der Front riefen die Feldprediger: ‚Gott mit uns!’ Später beklagten sie die allgemeine Orientierungslosigkeit.“ Oder ist es vielleicht so, wie es in einem jüdischen Gebet zum Monatsanfang heisst, das die Bitte enthält, Gott möge die Wünsche der Bittenden „le-tow“, zum Guten, erfüllen, also sozusagen die an ihn gerichtete Petitionen mit seiner Weisheit überprüfen und beurteilen?

Und da steigt eine noch radikalere, mich noch mehr bedrängende Frage in mir auf. Seit Jahrhunderten beten Christen für die Regierenden, beten um Frieden und gerechte Zustände. Aber unsere Welt ist weit entfernt von der Erfüllung dieser Bitte. So viel ernsthaftes, gut gemeintes und selbstloses Beten und Bitten bleibt scheinbar ohne Erhörung und Erfüllung. Ich weiss auf diese mich bedrängende Frage keine einfache Antwort, erst recht keine, die mich beruhigen könnte. Die Frage bringt mich aus der Ruhe.

Genau diese Unruhe wird für mich zur Motivation, es mit dem Beten ernst und genau zu nehmen. Sie treibt mich erst recht ins Gebet. In meiner Unruhe angesichts der Unerfülltheit so mancher Gebete hilft mir der Apostel Paulus, der diese Unruhe auch gekannt hat: „Wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? Wenn wir aber auf das hoffen, das wir nicht sehen, so warten wir mit Geduld. So hilft auch der Geist unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; aber der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen.“ (Röm. 8,24-26)

Und schliesslich sollen wir unser Beten und Bitten stets von neuem ausrichten nach den Worten, mit denen Jesus selbst uns beten gelehrt hat: „Unser Vater im Himmel!“ Dann wird aus der Unruhe über dem noch nicht Erfüllten die brennende Hoffnung, die uns lebendig und tätig macht: „Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden¨!“ Amen.

Klaus Bäumlin, Pfarrer i.R.
klaus.baeumlin@bluewin.ch


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