Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

1. Sonntag nach Trinitatis, 13. Juni 2004
Predigt über 1. Johannes 4, 16b-21, verfaßt von Rudolf Grote
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

Liebe Verfasserin, lieber Verfasser, des 1. Joh-Briefes, ich weiß nicht, was für ein Mensch du gewesen bist. Aber darf ich dir eine Frage stellen?
Warst du einmal wirklich verliebt? Hast du dieses Hochgefühl kennen gelernt? Auf einen Menschen zu treffen, den du nur zu sehen brauchst, und du bekommst Herzklopfen und freust dich? Bei der ersten Berührung fangen die Finger zu glühen an, und ein riesengroßes Glücksgefühl setzt ein. Ihr redet miteinander, stundenlang – du musst doch schließlich wissen, was sie denkt, was er denkt. Ihr seid nicht überall einer Meinung, aber das ist nicht entscheidend. Hauptsache, du hast das Empfinden: Da ist ein Mensch, und der will dich! Der hält zu dir! Alle anderen sind ihm nicht so wichtig wie du, und umgekehrt gilt das auch.
Kennst du das Gefühl? Du kannst die ganze Welt umarmen und Bäume ausreißen!

Liebe Verfasserin, lieber Verfasser des 1. Joh-Briefes, entschuldige bitte, wenn ich das sage: Ich habe den Eindruck: Dieses Verliebtsein hast du nicht kennen gelernt. Sonst hättest du anders von der Liebe geschrieben. Nicht so distanziert, so gesetzlich.
Oder meinst du, du darfst in deinem Schreiben an Christenmenschen keinen emotionalen Überschwang zeigen, sondern musst nüchterner von der Liebe reden? Mehr intellektuell und formelhaft?

Der Anfang des Briefabschnitts klingt so:
„Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“
Der Ausgangspunkt ist die Liebe Gottes, und dann gilt:„...wer bleibt, der bleibt...“

Ich weiß, dass du damit umschrieben hast, was im Joh-Ev in die Worte gefasst ist: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ (Joh 3,16)
Dass von Gott der Impuls ausging und Jesus Christus Mensch wurde - mit allen Konsequenzen, und dass seitdem für uns alle Verbindungen zu Gott offen stehen.
Dass sich so Gott auf uns zu bewegt hat; nicht auf eine riesige Masse Mensch, sondern auf jeden Einzelnen von uns. So wie Jesus von Nazareth auf die Menschen zugegangen ist, sie mit Namen anredete, sie – wenn nötig - geheilt hat und sie zu neuen, lebensfrohen Menschen gemacht hat, so kommt Gott auch heute auf uns zu! Er spricht jeden von uns an, mit dem eigenen Namen und versichert uns: Egal, was du für ein Mensch bist, warst: mit dem, was dich freut und belastet, mit dem, was du an guten und an schlechten Seiten hast - egal, was andere von dir halten, ich halte zu dir!

Wenn das einer wirklich hört - nicht so wie nebenbei eine Radiosendung, sondern richtig hört und für sich annimmt, kann der dann noch ruhig sitzen bleiben?
Kannst du dann noch so nüchtern darüber schreiben?

Überall werde ich beurteilt, eingestuft. Nach meinen Leistungen, nach meinem Alter, nach meiner Gesundheit, nach meiner Schönheit, nach dem, was ich darstelle. Aber da ist einer, der sieht mein Herz an! Auch meine dunklen Flecken darin. Doch das ist ihm nicht so wichtig wie mein tiefstes Ich. Das sieht ER an und sagt zu mir „Ja! Du“ nun nennt er meinen Namen, und jeder von uns kann jetzt seinen Namen einsetzen... „Du, Du bist mir unendlich wichtig! Ich möchte mit dir durch Dick und Dünn gehen, ich möchte mit dir all das durchstehen, was für dich noch kommt. Wenn irgend möglich, möchte ich dich dabei vor Schaden bewahren und deinen Wegen eine Richtung geben!“

Liebe Verfasserin, lieber Verfasser des Joh-Briefes, hast du das gehört? So oder ähnlich? Dieses Angebot Gottes?
Ich hätte mir gewünscht, dass du mit mehr Freude darauf reagiert hättest. Und nicht mit so einer Formel: „Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt...“
Du verbindest dieses wunderbare Angebot Gottes gleich mit einer Forderung: „Nur wer bleibt, der bleibt!“
Ich hätte mir gewünscht, dass da etwas von dankbarer Freude gestanden hätte: Gott sei Dank, dass du mich willst, dass du mich so liebst! Ein überschwängliches Halleluja, aus vollem Herzen, ein Loblied!

Können Sie, liebe Gemeinde, mich verstehen? Dann möchte ich Sie bitten, mit mir einfach jetzt zu singen: „Ich lobe meinen Gott, von ganzen Herzen...“ Lied Nr. 272 in unserem Gesangbuch.
...

Verliebte sind erst einmal ganz bei sich. Alles andere ist zweitrangig. Die beiden brauchen Zeit füreinander. Um sich kennen zu lernen, um zu entdecken, was sie aneinander haben: Ein Glück, das kaum zu fassen ist!

Liebe Verfasserin, lieber Verfasser des 1. Joh-Briefes, kennst du diese Zeit nicht?
Du sprichst von Liebe und gleichzeitig vom drohenden zukünftigen Gericht. Lieben wir denn um eines Vorteils willen? Um dann besser dazustehen? Was wäre das für eine Liebe? Keine Liebe um ihrer selbst Willen, um des Anderen Willen, sondern um damit einen Zweck zu erfüllen?
So, liebe Verfasserin, lieber Verfasser, kann ich dir nicht folgen.

Ich denke lieber wieder an die Verliebten. Und an den Lebensmut, der durch diese Liebe freigesetzt wird. Da kann die Welt noch so düster aussehen, aber der Liebende sieht doch nur die gewonnene Stärke! Keine Angst, keine Furcht sondern Zuversicht: „Wir beide zusammen, wir packen es!“
Die Liebe treibt die Furcht aus! Dieses unzerstörbare Band zwischen den Liebenden.

Das ist für mich das Besondere an dieser Liebe zwischen Gott und jedem von uns:
Wir stoßen mit unserer Liebe an unsere Grenzen. Immer wieder. Gerade im zwischenmenschlichen Verliebtsein erfahren wir dies sehr schmerzlich. Es tut weh, wenn so eine Beziehung erkaltet, zerbricht. Dann sind wir wund, und brauchen lange, bis wir uns wieder etwas trauen.
Doch von Gottes Seite bleibt diese Beziehung fest. Seine Liebe erkaltet nicht. Darauf ist Verlass. Darauf kann ich immer bauen. Deshalb Lebenszuversicht und keine Furcht. Hellt sich da nicht alles auf, wenn wir das in unserer Liebesbeziehung zu Gott entdecken?
„Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen...“ Nicht im Schlaraffenland sondern jetzt. Was auch geschieht.
- Gott sei Dank für dieses von deiner Seite unzerstörbare Band!

Es kommt beinahe wie von selbst: Verliebte brauchen ihre Zeit für sich, das soll ihnen niemand streitig machen. Doch irgendwann öffnen sie sich. Entdecken ihre Welt wieder. Sehen ihre Mitmenschen, die Not und die Probleme, die ungelebter Liebe entspringen.
Viele Verliebte möchten dann ihre liebesgestörte Mitwelt liebevoll gestalten. Aus der Kraft ihrer Liebe. Da soll etwas übertragen werden. Ausstrahlen: Ihr sollt mitbekommen, wes Geistes Kinder wir sind!

Liebe Verfasserin, lieber Verfasser des 1. Joh-Briefes, so möchte ich die Auswirkungen unserer Liebesbeziehung zu Gott auf unsere Mitmenschen sehen:
Ohne erhobenen Zeigefinger: Du bist ein Lügner, wenn du Gott liebst und deinen Bruder hasst!
Sondern als Ausdruck der überschäumenden Freude: Danke, Gott, dass ich unsere Liebesbeziehung anderen mitteilen darf. Dass ich sie mit anderen teilen darf. Ich entdecke dich in meinen Mitmenschen, da kann unsere Liebe sichtbar Gestalt gewinnen.

Gott erlaubt uns so, seinen Willen in dieser Welt umzusetzen. Seine Gebote, seine Lebensvorstellungen ernst zu nehmen und zu überlegen, wie sie unser Zusammenleben prägen können. Dass unsere Welt sich nach ganz anderen Gesetzmäßigkeiten richten will, wissen wir. Aber steckt uns die Gottesliebe nicht an, unsere Mitmenschen so zu sehen, wie Er uns sieht, und daher zu versuchen, unser Zusammenleben im Sinne Gottes zu gestalten?

Gottesliebe und Nächstenliebe als erlebte Einheit. Wie oft vertauschen sich da die Richtungen. Ich bin nicht nur Gebender, sondern auch Empfangender.
Ein Glückskind in der Weltfamilie der Kinder Gottes.
Ich lobe meinen Gott von ganzem Herzen!
Amen.

Rudolf Grote, Pastor an St. Johannis in Göttingen
Stargarder Weg 3
37083 Göttingen
Mail: www.rudolf-grote@web.de


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