Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

1. Sonntag nach Trinitatis, 13. Juni 2004
Predigt über 1. Johannes 4, 16b-21, verfaßt von Franz-Heinrich Beyer
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

in der Bibel gibt es Texte, die wirken wie ein Begleiter im Alltag. Ohne die Erinnerung an solche Worte möchte ich nicht sein. Und ich bin sicher, jeder und jede unter uns hat solche Begleiter, weiß sich ein Stück weit gehalten und ermutigt von solchen Worten der Bibel. Oft hängen solche Worte und Texte mit konkreten Ereignissen und Erlebnissen zusammen; Schön, dass wir so etwas haben.

Und dann gibt es Texte in der Bibel, die gleichsam „Sonntags-Texte“ sind. Es ist schön, auf solche Texte zu hören; vertraute Worte und Empfindungen in ihnen wiederzuerkennen. Aber es sind eben Texte, von denen ich mir nicht in jeder Situation vorstellen kann, auf sie wirklich hören zu können oder sie gar anderen Menschen hörbar werden zu lassen.

Der heutige Predigttext ist für mich ein solcher Sonntags-Text. Er steht im Neuen Testament, im 1. Johannesbrief im 4. Kapitel:
-Predigttext-

Es sind sechs Verse, die wir gehört haben. In diesen sechs Versen begegnet das Wort LIEBE allein 12 x- und zwar als Substantiv oder als Verb.
Von Liebe zu sprechen ist gemeinhin etwas Besonderes, etwas Nicht-Alltägliches. Und es scheint eine natürliche Hemmung zu bestehen, das Wort Liebe zu häufig im Munde zu führen. Und noch etwas kommt wohl hinzu. Wir können uns vielleicht vorstellen, von Liebe zu sprechen, aber über Liebe sprechen, das können wir weniger gut. Wer das Verb „lieben“ ausspricht, der gibt nicht einfach eine Beschreibung von etwas. Von Liebe zu sprechen - dem ist immer etwas Transzendierendes eigen, Bereicherndes, Beglückendes, etwas Nicht-Verrechenbares. Darum sind wir wohl auch so sparsam mit der Verwendung des Wortes
.
Vor diesem Hintergrund wird der Textabschnitt aus dem 1. Johannesbrief interessant. Das Wort Liebe in seiner häufigen Verwendung prägt sich beim Hören und Lesen des Textes sofort ein. Es ist jedoch nicht „die Liebe“, die zu beschreiben wir uns abmühen, das Entscheidende, auf das alles hinläuft. Vielmehr ist sie es, die etwas wirkt, etwas bewirkt. Im Griechischen steht hier der Begriff „parreesia“. Das Wort beschreibt den Zustand eines Menschen, in dem er frei, ohne Scheu und Angst reden kann. Liebe bewirkt Offenheit, Freimut, Unerschrockenheit, Zuversicht.

Wir sind geneigt, das als etwas Selbstverständliches hinzunehmen, sind wir doch gleichsam darin aufgewachsen. Dass es beileibe nichts Selbstverständliches ist, zeigen uns die täglichen Nachrichten. Und ein nachdenkliches Innehalten kann uns daran erinnern, dass eine ganze Zahl von Mitbürgern solchen Freimut lange Zeit nicht leben konnte. Und die Erfahrung hat gezeigt, dass die Gestaltung von Verhältnissen, die Freimut und Zuversicht ermöglichen, nicht gleich dazu führen, sie auch zu leben. Wie muss eine Situation gestaltet sein, damit Menschen das auch leben können und wollen?

Solche bei dem Begriff parreesia sich einstellenden politisch-historischen Assoziationen – sie waren nicht das Thema des 1. Johannesbriefs. Der Zustand eines Menschen, in dem er frei und ohne Scheu reden kann, in dem er Zuversicht leben kann – er wird hier beschrieben als Situation des Gegenübers zu Gott. Gott gegenüber der Mensch – mit Freimut und Zuversicht, ohne Furcht.
Gott ist Liebe – so haben wir es in dem Predigttext gehört. Gott ist Liebe – und daneben höre ich die Frage des Dichters Wolfgang Borchert, damals, gleich nach dem zweiten Weltkrieg: „Wann bist du eigentlich lieb, lieber Gott?“
.
„Lasset uns einander lieben, denn er, Gott, hat uns zuerst geliebt“. So lesen wir es im ersten Johannesbrief. Der Zusammenhang ist uns klar und verständlich. Lieben kann nur der, der Liebe erfahren hat; vertrauen kann nur die wagen, der Vertrauen zuteil wurde; jemanden annehmen kann nur der, der selbst angenommen wurde.
Viele Menschen können auf Ereignisse hinweisen, wo es schwer für sie war, wo es für sie unmöglich war, von Gottes Liebe zu sprechen. Es ist gut, dann darauf aufmerksam gemacht zu werden, dass manchmal unsere eigenen augenblicklichen Erfahrungen uns ganz in Beschlag nehmen, dass es daneben und zugleich aber auch die Erfahrungen anderer Menschen gibt. Darauf zu verweisen, auch das macht den Reichtum der Bibel aus.

„Lasset uns einander lieben, denn er, Gott, hat uns zuerst geliebt“. Beides gehört untrennbar zusammen. Die ganze Bibel ist davon durchzogen und geprägt. Gott lieben und den Nächsten lieben, das kann nicht voneinander getrennt werden. Liebe Deinen Nächsten, denn - er ist wie du; vor allem anderen ist der Nächste so, wie du, von Gott geliebt. Darum kann es hier nicht um Almosen gehen, nicht nur um Barmherzigkeit. Die erfahrene Liebe, die Freimut und Zuversicht ermöglicht, sie befähigt dazu, dass wir Hoffnung für die Hoffnungslosen bewahren, Frieden für die Friedlosen erhoffen, Gerechtigkeit für die Menschen am Rand nicht allein fordern, nicht allein schaffen wollen, sondern Gerechtigkeit für sie vor allem erwarten.

Hier ist noch einmal von der Furcht zu reden. „Furcht ist nicht in der Liebe. ... Wer sich aber fürchtet, der ist nicht völlig in der Liebe“. Wer sich fürchtet, der wird von den konkreten Erwartungen, die ein Mensch meint haben zu können, allein bestimmt. Die Furcht bestimmt, was ich mir vorstellen kann, was geschehen kann und was nicht. Nicht eine irgendwie geartete Ängstlichkeit oder Feigheit ist hier im Blick; sondern es geht um den festgefügten Erwartungshorizont, der so schwer zu durchbrechen ist. Und oft genug wird dadurch das Leben und das Verhalten von Menschen bestimmt.

Der Verwendung des Wortes Liebe ist etwas Transzendierendes eigen, Bereicherndes, ja Beglückendes. Uns daran erinnern zu lassen durch die Worte aus dem 1. Johannesbrief, es erinnern zu lassen – es konnte nicht nur schön für uns, es könnte für viele Menschen lebenswichtig sein. .

Prof. Dr. Franz-Heinrich Beyer
Franz-Heinrich.Beyer@ruhr-uni-bochum.de


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