Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

3. Sonntag nach Trinitatis, 27. Juni 2004
Predigt über 1. Timotheus 1, 12-17, verfaßt von Maria Widl
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Der eigenen Berufung auf der Spur

Im ersten Timotheusbrief lesen wir:

"Ich danke dem, der mir Kraft gegeben hat: Christus Jesus, unserem Herrn. Er hat mich für treu gehalten und in seinen Dienst genommen, obwohl ich ihn früher lästerte, verfolgte und verhöhnte. Aber ich habe Erbarmen gefunden, denn ich wusste in meinem Unglauben nicht, was ich tat. So übergroß war die Gnade unseres Herrn, die mir in Christus Jesus den Glauben und die Liebe schenkte.

Das Wort ist glaubwürdig und wert, dass man es beherzigt: Christus Jesus ist in die Welt gekommen, um die Sünder zu retten. Von ihnen bin ich der Erste. Aber ich habe Erbarmen gefunden, damit Christus Jesus an mir als Erstem seine ganze Langmut beweisen konnte, zum Vorbild für alle, die in Zukunft an ihn glauben, um das ewige Leben zu erlangen.

Dem König der Ewigkeit, dem unvergänglichen, unsichtbaren, einzigen Gott, sei Ehre und Herrlichkeit in alle Ewigkeit. Amen"

In der Einheitsübersetzung ist dieser Textabschnitt überschrieben mit „ Dank für die Berufung zum Apostel“. Er kann uns zum Anlass werden, über unsere eigene Berufung nachzudenken. Das ist nicht nur ein Thema für Priester und Ordensleute. Das ganze Volk Gottes, wir alle Getauften, also auch die Laien, haben eine Berufung. Worin liegt also meine Berufung? Habe ich sie überhaupt schon gefunden? Oder weiß ich zwar um sie, sehe aber keine Möglichkeit, sie zu leben?

Es gibt eine Grundberufung zum Christsein; sie ist die Berufung zur Nachfolge Christi und zum Aufbau des Reiches Gottes mitten unter uns. Was heißt das konkret? Wir sind aufgerufen, nach den Spielregeln des Reiches Gottes zu leben statt nach denen, die uns nach dem paradiesischen Sündenfall „ganz normal“ erscheinen. Das Reich Gottes ist, so lesen wir Röm 14,17, „Gerechtigkeit, Frieden und Freude im Heiligen Geist“. Was uns dagegen als „ganz normal“ erscheint, sind Selbstdarstellung, Eigennutz und Bequemlichkeit.

Das Schlüsselthema der christlichen Berufung ist die Gerechtigkeit. Sie bedeutet dafür zu sorgen, dass die anderen um mich herum, jene mit denen ich im persönlichen wie weltweiten (Handels-)Austausch stehe, ebenso wie die nachfolgenden Generationen mit dem gleichen Recht wie ich aus den Ressourcen der Schöpfung leben und ihre je eigenen Lebensvorstellungen verwirklichen können. Ein Lebensstil, der die sozialen, ökologischen und spirituellen Ressourcen zerstört, um sich selbst jeweils neu in heile, kraftvolle und schöne Lebensumstände weiterzubewegen, ist ungerecht. Umkehr tut not.

Ein wesentlicher Grund für diese Ungerechtigkeit ist Bequemlichkeit, das zweite Merkmal unserer „ganz normalen“ Ansprüche an das Leben, die wir dem Sündenfall verdanken. Sie verführt uns dazu, alles für uns selbst haben zu wollen, statt es mit anderen zu teilen; die meisten Haushalte sind voll mit Konsumgütern, die wir nur selten brauchen. Sie verführt uns dazu, die Wege zwischen unseren schönen ruhigen Wohngegenden, unserem Arbeitsplatz, unseren Freitzeitaktivitäten, unserem Urlaub, mit dem bequemen Auto oder dem billigen, schnellen Flugzeug zurückzulegen. Zugleich zerstören wir die Lebensräume derer, die dort wohnen, wo die Autos vorbeirollen und die Flugzeuge drüberdröhnen. Die Bequemlichkeit verführt uns auch dazu, uns über all die Zerstörung und Verwüstung, die unsere Konsumwelt verursacht (von der Meeresverpestung durch Rohöl über die Ausbeutung der Arbeitskräfte in den südlichen Billiglohnländern bis zum Raub an Lebenszeit und Kindheit bei uns) möglichst aus den Augen zu schaffen. Nur wer die Augen vor dem Elend verschließt, das seine Bequemlichkeit tagtäglich verursacht, kann ohne Reue genießen. Umkehr tut not.

Dass wir uns an der Religion des Geldes und des Profits beteiligen statt nach der Schöpfungslogik des Reiches Gottes zu leben, liegt nicht zuletzt daran, dass uns Selbstdarstellung – das dritte Merkmal – als „ganz normal“ erscheint. Wir statten uns mit Mode, Macht oder Reichtum aus, um etwas darzustellen, etwas zu gelten. Doch hinter dieser Fassade bleibt unser Leben hohl, solang wir unsere Berufung nicht gefunden haben. Und wenn wir sie gefunden haben, brauchen wir die Fassade nicht mehr.

Paulus stellt in unserem Text fest, dass er nicht deshalb seine Berufung erlangt hat, weil er so vollkommen und gottgefällig gelebt hätte. Im Gegenteil: Er hatte aufs falsche Pferd gesetzt, hatte die Christen sogar verfolgt. Wo auch immer wir aufs falsche Pferd setzen; wo wir uns ein feines Leben gegen die Reich-Gottes-Logik gestatten; wo wir selbstgerecht einen Anspruch auf ein bequemes und sorgenfreies Leben erheben – gerade da kann uns Gott wie Paulus in seinen Dienst nehmen, „weil Jesus Christus gekommen ist, um die Sünder zu retten“.

Wo immer wir erschreckt erkennen, dass wir uns die Logik des bequemen Lebens angeeignet haben, ist das Erbarmen Gottes nicht weit. Nicht jeder ist zum Apostel berufen; aber vielleicht ja zum Lehrerin, zum Propheten, zur gastfreundlichen Helferin oder zum Musikanten, der den Lobpreis Gottes anzustimmen vermag.

Wie erkenne ich, dass ich meine Berufung gefunden habe? Wenn ich nicht mehr selbstsüchtig um mich kreise in der dauernden Angst zu kurz zu kommen, sondern leicht auf andere und ein gutes Leben für sie schauen kann, weil ich mich überreich beschenkt erfahre. Wenn ich nicht mehr besorgt darum bin, ob ich gut aussehe, ob ich meine Vorstellungen durchsetzen kann, was andere über mich denken und von mir halten werden, weil ich weiß, dass Gott mich liebt und erfahre, dass mein Strahlen auf andere ansteckend wirkt. Wenn mir Bequemlichkeit nichts mehr bedeutet, weil ich so viel Wichtigeres gefunden habe, für das es sich lohnt, sich einzusetzen; allen Widrigkeiten zum Trotz.

Der 1. Timotheusbrief warnt vor falschen Lehren, die im Umlauf sind. Auch heute gibt es Götzen, denen Menschen aus voller Berufungsüberzeugung dienen: Geld, Profit, Erfolg, Fortschritt, Spaß. Vielerlei Süchte zeigen, dass man mit der „Berufung“ auf einer falschen Spur ist. Deshalb kann uns der Schluss unseres Textes zum Maßstab werden: Wem erweisen wir alle Ehre? Was ist unser höchstes Gut, das wir feierlich hochleben lassen? Wer ist unser einziger Gott, dem wir in Ewigkeit huldigen wollen?

Keine Angst: Auch wer sich lange auf der falschen Spur befindet, ist bei Gott nicht vergessen. Vielleicht sind ihm gerade die engagierten Streiter für eine Sache, sei es auch die falsche, willkommener als jene, die es sich in seiner Nähe bequem gemacht haben Jesus ist gekommen, die Sünder zu retten, auch wenn sie „in ihrem Unglauben nicht wissen, was sie tun“. Sie werden Erbarmen finden. Werden wir uns dafür als dankbar erweisen?

Doz. Dr.habil. Maria Widl
Tel/Fax +43/ 1/ 869 57 09
Färbermühlg. 13/3/21
A-1230 Wien
Mail: maria.widl@univie.ac.at

 


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