Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

5. Sonntag nach Trinitatis, 11. Juli 2004
Predigt über
1. Korinther 1, 18-25, verfaßt von Reiner Kalmbach (Argentinien)

(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde:

Was sollen wir verkündigen?, was ist uns aufgetragen?, uns, die wir “evangelisch” predigen wollen? Die Antwort ist gar nicht so einfach. Da ist die Erwartung der Zuhörer, also Sie, liebe Schwestern und Brüder: Ihre Gefühle, Ihre Hoffnungen und Nöte; da bin ich, die Summe meiner Lebenserfahrungen und dann ist da das Wort und “der sich dahinter verbirgt”…

Dankbar denke ich zurück an die Zeit im Seminar. Einer unserer Lehrer, einer der grossen “Alten” und “Weisen”, der uns vom Kirchenkampf der 30-iger Jahre erzählte und von seinem Glauben der sich im Konzentrationslager bewährte, er sagte uns immer wieder: “Brüder, was ihr zu predigen habt, ist das Wort vom Kreuz und nur das Wort vom Kreuz!”

Das wollen wir heute tun, das sollen wir heute tun.

(Textlesung)

Am Kreuz führt kein Weg vorbei!

Kann man überhaubt auf dem Gesicht eines Gekreuzigten etwas anderes erkennen als das unsägliche Leiden des Opfers oder die ganze Bosheit der Täter? Man muss nicht erst ins Kino gehen, um sich dieser Frage auszusetzen. Wer wirklich lebt, wer mit beiden Beinen auf der Erde steht, dessen Blick wird immer wieder auf das Kreuz treffen.

Bei uns in Südamerika haben die Armen das Kreuz schon längst aus der Kirche hinaus auf die Strassen und Plätze, hinein in die Elendsviertel getragen. Für sie ist das Kreuz ein Teil ihrer Lebenswirklichkeit. In meinem Büro hängt ein Christus mit dem Gesicht eines Guarani-Indianers und daneben, auf einem Aquarell, ein bolivianischer Minenarbeiter dessen Haltung ein Kreuz darstellt.

Ich staune immer wieder, wie selbstverständlich diese Menschen die Botschaft vom Kreuz glauben…, oder sollte man besser sagen: leben? Und noch mehr staune ich, wenn diese Geschlagenen die Kraft zur Solidarität mit anderen aufbringen, wenn sie, die ja selbst nichts haben, plötzlich eine Suppenküche einrichten, damit die Kinder eines ganzen Viertels wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag zu sich nehmen. Als Europäer stehe ich, angesichts des Elends und der (scheinbaren) Ausweglosigkeit, oft genug zwischen Resignation und Zorn. Dann sehe ich nur noch die ganze Sinnlosigkeit des Kreuzes, ich versuche zu verstehen und in meinen Gedanken kreist immer nur dieses eine Wort: warum?

An der Wirklichkeit des Kreuzes führt also kein Weg vorbei. Und wir Christen haben es sogar ins Zentrum unseres Glaubens gestellt. Und gerade hier scheiden sich die Geister: wer wird denn gekreuzigt?, ein guter Mensch namens Jesus?, einer unter Tausenden, wie es damals üblich war…?, wer kann schon im Angesicht des Gekreuzigten und Geschundenen den Glanz des Allmächtigen erkennen…?

Wenn man es recht bedenkt, ich meine – mit den menschlichen Masstäben,- dann ist die Botschaft vom gekreuzigten Gott tatsächlich eine “Torheit”, oder wie mir einmal eine Philosophiestudentin sagte: “…eine Dummheit”.

Was uns am glauben hindert…

In meiner Gemeinde gibt es einen Mann der als Wissenschaftler (er ist Chemiker) an der Universität lehrt. Er kommt zu unseren Gottesdiensten, weil er “…die Predigten so interessant” findet. Da geht es ja oft um den Sinn des Lebens, um philosophische, oder ethische Fragen und andere nützliche Dinge. Aber ich bin sicher, dass er, wenns ums Kreuz geht, also, ums Eigentliche,- innerlich lächelt. Nach seinen Masstäben, die sich nach seinem Wissen richten, kann das gar nicht sein, es widerspricht aller wissenschaftlicher Vernunft. Für ihn ist alles Weltgeschehen berechenbar, entspricht einer wissenschaftlichen Logik. Dieser Mensch bezweifelt nicht den Kreuzestod Jesu, das ist Teil der Realität dieser Welt. Aber das mit Gott in Zusammenhang bringen, das wäre eine Dummheit. Schliesslich ist in der Natur alles auf das überleben des Stärkeren ausgerichtet, eben die “natürliche Auslese”…; dass der Schöpfer dieser Welt den umgekehrten Weg geht, das steht jenseits unseres Denkvermögens.

Und dann spricht Paulus von jenen die von den Zeichen leben, die sichtbare und konkrete Beweise benötigen…Und auch in diesem Punkt hat sich nichts geändert. In den Ländern des südamerikanischen Kontinents wachsen die neuen Kirchen und Bewegungen wie die Pilze aus dem Boden und ihre Tempel füllen sich, weil dort Zeichen und Wunder geschehen…Gott wird sogar regelrecht gezwungen “jetzt und hier” einzugreifen: “…wenn es dich wirklich gibt, wenn du der Allmächtige bist, dann heile diesen Mann, diese Frau, dieses Kind…, bring diese zerbrochene Ehe wieder zusammen…!”

In ihren Gottesdiensten kommt das Kreuz gar nicht vor. Es “passt” einfach nicht in ihre Art der Verkündigung, in ihren Glauben.

Die Einen klammern aus, reduzieren alles auf das menschlich fassbare, auf die Vernunft, sie rechnen schon gar nicht mehr mit einem Schöpfer und Erhalter, er ist ausgeklammert und vergessen, deshalb gibt es auch keine Ehrfurcht vor der Schöpfung, sie hat keine eigene Würde…Für ein solches Denken ist das Kreuz, ein gekreuzigter Gott natürlich eine Torheit, das Kreuz steht jenseits aller menschlicher Vernunft. Für die Anderen offenbart sich die Existens Gottes in sichtbaren Taten, Zeichen, so wie Jesus sie tat: er heilte, er richtete auf, er besiegte den Tod, er ist der Sieger. Für einen solchen Glauben ist das Kreuz mit all seiner Wirklichkeit ein Ärgernis.

Aber wir sollen wissen (und es ist das was Paulus uns sagt): dieses Kreuz hat mit dem Wesen Gottes zu tun!

Die Einen können im Kreuz kein Wesenszeichen Gottes erkennen, weil für sie das göttliche über allem steht,- jenseits der irdischen, traurigen und dunklen Wirklichkeit…und “göttlich” heisst für sie die höchste Stufe der menschlichen Vernunft…, über allem stehen, alles unter Kontrolle, alles erklärbar…

Die Anderen können, obwohl ihr Glaube von Zeichen lebt, im Kreuz ebenfalls kein Gotteszeichen sehen, weil Gott am Kreuz ein “Unzeichen” ist.

Beide “Gruppen” stellen die Bedingungen und weil Gott sich nicht an sie hält, können sie das Kreuz nur als Torheit oder Ärgernis erkennen. Deshalb kann ihr Glaube ohne das Kreuz auskommen.

Sie setzen in ihrem Denken immer den Gott voraus, der sich ihnen gegenüber verpflichtet (gib ein Zeichen!). In beiden Fällen ist es der Mensch, der den Glauben in “der Hand” hat: er steht und fällt auch mit den menschlichen Möglichkeiten, die sich oft genug als Irrtümer herausstellen…Im Kreuz entzieht sich Gott,- und jetzt sage ich bewusst: unseren Vorstellungen, Wünschen und Forderungen: er wird den Sündern zum Sünder und den Verlorenen ein Verlorener!

…wo Gottes Schwachheit stärker ist…

Das Kreuz ist für Jesus nur die Konsequenz, das Ziel seines Weges den er ganz bewusst gewählt hat. Es ist ein Umweg, er gerät auf “Abwege” die ihn zu den Kranken, den Armen und Ausgestossenen führen.

Ein europäischer Tourist besuchte uns, nachdem er einige Tage in Buenos Aires verbracht hatte: “…man sieht ja gar nichts von der Armut, überall gibt es Wolkenkratzer, teure Restaurants, Shoppings, gepflegte Parks und Wohnviertel…”, erzählte er.

Jesus suchte die andere Wirklichkeit, er fand sie nicht “zufällig”, sondern er suchte sie, ging auf sie zu: das hat mit dem Wesen Gottes zu tun und das Kreuz ist das sichtbare Zeichen dieses Wesens: wer es bis jetzt noch nicht glauben kann: so ist Gott!

Die Christusbotschaft “leutet nicht ein”, sie schockiert, befremdet, erregt Widerwillen. Deshalb ist die Jesusnachfolge auch kein einfaches “kopieren”, nach seinem Beispiel handeln, sondern sie ist eine besondere Art der Verkündigung: hier, wo der Herr der Herrlichkeit aufs tiefste gedemütigt, preisgegeben, verachtet, gequält, umgebracht…, ausgelöscht wurde: hier ist Gott zu finden!

Alle Menschen, ob gläubig oder nicht, ob Christen oder Atheisten, alle machen sich irgendwelche Gedanken über Gott, wir haben eben unsere Theorien über Gott. Im allgemeinen leben wir ganz gut damit.

Aber der Glaube an den gekreuzigten Gott offenbart sich im Abgrund, wenn wir an unsere Grenzen stossen, wenn wirklich nur noch Gott helfen kann. Dann sehen wir das Licht des Auferstandenen das auf den Gekreuzigten fällt. Es ist eben dieses Licht, das jenen die angesichts des Elends und der Ungerechtigkeit in stumme Trauer oder Resignation verfallen, eine neue Sprache verleiht. Es ist die Sprache des Evangeliums, man könnte auch sagen: die Sprache der Gnade. Das ist der Glaube der nicht von uns abhängt, er wird uns von “aussen” geschenkt.

Und noch einmal denke ich in tiefer Dankbarkeit an meinen Lehrer: er war schon längst im Ruhestand. Jeden Mittwoch sind wir, eine kleine Gruppe von fünf Studenten, mit dem Auto zu ihm gefahren, wir wollten ihn hören, von seiner Weisheit, seinem Wissen etwas aufnehmen. Und ich muss zugeben, dass ich damals stolz war, Teil dieser “Elite” zu sein. An einem dieser Mittwochnachmittage war er nicht da. Wir warteten über eine Stunde, bis eine Nachbarin kam und uns sagte, wir würden ihn im Krankenhaus finden. So fuhren wir hin. Eine Schwester führte uns in den zweiten Stock, in die Kinderabteilung. Er sah uns nicht, wie er da auf dem Boden sass, umringt von kleinen Kindern, denen er Geschichten erzählte. Alle diese Kleinen hatten Aids und manche schon ihre Eltern verloren. Selten habe ich solch eine Freude und solch tiefen Frieden gespührt. Hier wirkte die Liebe Gottes ganz rein und unverfällscht.

Sein einziger Kommentar, als er uns erblickte: “..ach, euch habe ich ganz vergessen.”

An jenem Tag konnte ich meinen Glauben ganz einfach und bedingungslos annehmen. Mein ganzes Leben versuchte ich “zu verstehen”, Beweise zu entdecken, meinen Glauben in Zeichen und Situationen bestätigt zu finden. Beim Anblick dieser Kinder und der grosse Lehrer am Boden sitzend in ihrer Mitte, gingen mir Herz und Augen auf: Das Kreuz will nicht begriffen oder verstanden werden, der Glaube an den Gekreuzigten ist eine neue Art zu leben.

Ihnen allen wünsche ich diesen Glauben der nichts erwartet, der aber alles in Freude annimmt.

Amen.

Reiner Kalmbach
reikal@neunet.com.ar


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