Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

5. Sonntag nach Trinitatis, 11. Juli 2004
Predigt über
1. Korinther 1, 18-25, verfaßt von Matthias Rein

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Liebe Schwestern und Brüder,

herrlich blühen die Blumen in dieser Jahreszeit: die Rosen, die Geranien, der Jasmin.
Herrlich blühende Blumen auch auf dem Friedhof in unserer Nachbarschaft: manche Gräber quellen geradezu über vor Farbe. Auf den frischen Gräbern sieht es noch provisorisch aus. Aber bald kommt der Grabstein und die Umfassung. Und sie reihen sich ein, die neuen Gräber, und nehmen den Wettstreit auf, den Wettstreit der Farben: Welches Rot leuchtet am meisten? Welches Blau ist das Tiefste? Welches Gelb strahlt am hellsten?
Ich entdecke einen neuen Grabstein auf dem Friedhof. Der Verstorbene wurde vor einem halben Jahr kirchlich beerdigt. Nun stehen der Name und die Daten da - wie üblich. Namen und Daten sind in den Grabstein eingraviert, sonst nichts: kein Kreuz, kein Symbol.
Kreuze auf Grabsteinen verschwinden. Andere Symbole erscheinen: die Rose, zwei Ringe, ineinander verschlungen, eine Kornähre. Oft aber entscheiden die Angehörigen: nur der Name und die Daten sollen auf dem Grabstein stehen.
Verschwindet das Kreuz aus der Öffentlichkeit? Können immer weniger Menschen mit diesem Zeichen etwas anfangen? Verliert das Kreuz seine Kraft, erschließt es sich nicht mehr, bleibt es stumm?

Kreuze hielten Einzug in Ostdeutschland nach 1989. Nicht in den Klassenzimmern und Gerichtssälen. Kreuze tauchten an den Straßenrändern auf. Aufgestellt von Familienangehörigen und Freunden an Orten, wo Menschen, oft Jugendliche, bei einem Verkehrsunfall zu Tode kamen. Die Trauernden stellten ein kleines Holzkreuz auf, Ausdruck ihres Schmerzes, ihrer Trauer. Hier geschah Schreckliches, hier ging ein Leben zu Ende, zu früh, unbegreiflich, unverständlich. Hier stehen wir an der Grenze des Verstehens. Hier sind wir am Ende mit unserer Weisheit.
Das Kreuz taucht wieder auf. Es schafft sich Raum bei uns. Es erscheint da, wo wir es nicht vermuten. Und es ist nicht zu übersehen.

Was bedeutet das Kreuz?
Worauf weist es hin?
Was bedeutet es mir?

Paulus spricht vom Wort vom Kreuz.
Das Wort vom Kreuz malt Jesu Sterben am Kreuz vor Augen.
Jesus starb am Kreuz – Folge eines Justizirrtums, ein exemplarischer Fall von menschlicher Grausamkeit, Schlamperei, Feigheit. Folge auch von geschicktem planvollen Handeln der Gegner Jesu, der Obrigkeit.
Jesus starb am Kreuz – nichts besonderes, wenn wir die historischen Fakten ansehen. Einer von Tausenden bis heute.

Jesus starb am Kreuz: einigartig dadurch, dass Gott dabei zu Tode kommt.
Jesus als Gottessohn, als Christus, als Sohn des Vaters – so haben ihn einige wahrgenommen, verstanden, erlebt. So haben sie sein Wirken erlebt, so haben sie seine Worte gehört: Der Menschensohn ist gekommen, dass er diene, nicht dass er sich dienen lasse, und sein Leben gebe als Lösegeld für viele. Und so sind ihm viele gefolgt.

Warum aber dieses Ende?
Wo Gott ist, da ist doch Leben, Befreiung, Gerechtigkeit, Heil!
Warum hilft Gott nicht?
Warum muß dieser Jesus sterben? Unschuldig.
Gott kommt zu Tode. Davon spricht das Wort vom Kreuz. Und dieses Wort führt uns an die Grenze unseres Verstehens, unseres Begreifens, unserer Weisheit.

Paulus beschreibt die Wirkung dieses Wortes: Die Weisen dieser Welt verstehen es nicht. Die Weisheit der Menschen, unsere Weisheit kommt an ihre Grenze, wird verrückt an diesem Wort.
Gott ist nicht da, wo das Gute, das Heil, das Licht, die Herrlichkeit regiert. Gott ist da, wo sein Sohn stirbt. Gott ist Verlierer, Gott unterliegt.

Die Juden suchen nach den Zeichen der Herrlichkeit und Macht Gottes in der Welt. Aber sie können sie bei diesem Gekreuzigten nicht finden.
Die Griechen fragen nach dem göttlichen Prinzip, das alles durchwaltet, das das Grundmuster unserer Welt ist, dem wir nur folgen müssen, um auf Gottes Seite zu sein, auf der Seite des Heils.
Aber dieser Gott, auf den sich Jesus beruft, steht hilflos da.
Menschen heute sehen in dem Kreuz ein Zeichen des Schreckens, Hinweis auf Grausamkeiten, die im Namen Jesu geschahen, aber kein Zeichen des Heils. Muslime fassen sich an den Kopf, wenn sie sehen, wie Christen vor Kreuzen beten, eine Gotteslästerung. Buddhisten erstreben die Überwindung des Leidens. Das Kreuz soll gerade verlassen werden.

Uns, so Paulus, ist das Wort vom Kreuz eine Gotteskraft.
Wir predigen den Gekreuzigten.
Wir predigen nicht zuerst und ausschließlich den Auferstandenen, den Sieger über Tod und Leid, den Erlösten, den Überwinder.
Am Kreuz, so Paulus, geschieht das Heil.
An dem Ort, wo Gott zu Tode kommt.

Gott ist da, wo Menschen unterliegen.
Gott ist da, wo Menschen schwach sind.
Gott ist da, wo der Tod herrscht.
Diese Orte, so Paulus, sind die Orte Gottes, sind die Orte, wo Gott uns zur Seite tritt und mitleidet. Dies sind die Orte, wo Gott sich mit uns verbindet.
Nicht unsere Weisheit, unsere Stärke, unser Wirken zum Guten, unserer Mittun am Reich Gottes bringt uns Gott nahe.
Unsere Schwachheit ist es vielmehr, die Gott anzieht und nahe bringt.

Gott wählt einen anderen Weg, uns zu erlösen von dieser Welt.
In der Schwachheit geschieht Erlösung, im Scheitern, in den Fängen des Todes.

Was fangen wir mit dieser buchstäblich weltfremden Botschaft an?

Drei Gedanken:
Es ist für mich, es ist für die Welt gut, wenn ich dem Kreuz Raum lasse.
Das Kreuz sucht sich seine Orte, gewiß.
Aber ich kann ihm auch Raum lassen.
Raum für die Wirklichkeit des Wortes vom Kreuz.
Raum für die Wahrnehmung meiner Grenzen und meiner Niederlagen.
Raum für das Geheimnis Gottes.
Raum und Offenheit für diese unergründliche, unbergeifliche Botschaft: Gott gibt sein Leben für mich.

Es ist gut für mich und für die Welt, wenn ich Gott am Kreuz suche.
Nicht bei den Mächtigen und Erfolgreichen.
Nicht bei den Spezialisten für Spiritualität und den mit Heilungskräften Begabten.
Nicht bei den Verzückten und denen, die glauben zu wissen, wie Gottes Geheimnis zu entschlüsseln
ist.
Gott wirkt am Kreuz und durch das Kreuz. Vom Kreuz aus ist die Welt, bin ich selbst zu betrachten.
Vom Kreuz her ist mein Geheimnis und das der Welt zu verstehen.

Spannend wird es, so eine Frau kürzlich, wo mich meine Familie nach meinem Glauben fragt, nach meinem Engagement für die Kirchgemeinde.
Spannend, weil mir die Worte fehlen.
Spannend, weil es fast peinlich ist, sich gerade in der Familie zu bekennen.
Spannend, weil jedes Wort doppelt schwer wiegt.
Wo die Worte fehlen, da ist Gott am Werke, da wird es spannend, da geschieht etwas gerade in unserer Unbeholfenheit und Ratlosigkeit.

Vor kurzem wurde ein goldenes Kreuz auf die Spitze der wiederaufgebauten Dresdener Frauenkirche gesetzt. Mit diesem Kreuz findet der Wiederaufbau seinen symbolischen Abschluß. Dieses Kreuz wurde von Menschen aus England gespendet. Mit diesem Kreuz verbindet sich die Einsicht vieler Menschen in Großbritannien, dass die Bombenangriffe auf Dresden viele unschuldige Opfer gefordert haben. Und es verbindet sich mit ihm die Bitte um Vergebung. Eine Bitte der Menschen, die selbst Familienangehörige im Krieg verloren haben, viele von ihnen unschuldige Opfer von deutschen Bombenangriffen.

Ein goldenes Kreuz überstrahlt die Stadt.
Es erinnert an das Leid. Es erinnert an Tod, Zerstörung, Terror, Unrecht, Schuld.
Es ist entstanden als Zeichen der Versöhnung.
Es birgt Rätsel über Rätsel.
Es steht für die versöhnende Gotteskraft, die heute wirkt.

Amen

Dr. Matthias Rein
Studienleiter am Theologischen Studienseminar der VELKD
Bischof-Meiser-Str. 6
82049 Pullach
Tel. 089/74442428
eMail: Matthias.Rein@t-online.de

 


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