Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

9. Sonntag nach Trinitatis, 8. August 2004
Predigt über
Philipper 3, 7-11 , verfaßt von Paul Kluge
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Geschwister,
als Paulus den Philipperbrief schrieb, hielt er sich nach Meinung vieler Forscher in Ephesus auf. Dort gab es eine kleine christliche Gemeinde, in der er sich wohl fühlte, doch auch die Stadt gefiel ihm. Er flanierte häufig über die breite, schnurgerade Prachtstraße – obwohl die zahlreichen Tempel ihm ein Dorn im Auge waren; spazierte oft und besonders gegen Abend zum Hafen und besuchte regelmäßig die Synagoge, um dort zu predigen. Auch bereitete es ihm Vergnügen, durch die große Markthalle, die Basilika zu bummeln. Ferner nutzte er seine Zeit, die Arbeitersiedlungen außerhalb der Stadtmauern zu besuchen und den Menschen dort von Christus zu erzählen. Doch lieber – das musste er sich eingestehen – ging er in die große, prächtige Celsusbibliothek und stillte seinen Lesehunger. So genoß er ein Leben, wie es ihm auf seinen langen, anstrengenden Reisen nicht möglich war.

In dieses ruhige Leben platzte eine Nachricht aus Philippi, die ihn alarmierte und auf die er sofort mit einem Brief reagierte. In diesem Brief schrieb er unter anderem: Phil 3, 7 – 11...
Was war geschehen? Eigentlich nichts Dramatisches, eigentlich nur eine rituelle Veränderung, indem die Philipper eine vorchristliche, jüdischen Sitte wieder aufgenommen hatten. Für Paulus aber war das Anlass genug, seinen geliebten Philippern in aller Freundlichkeit und Freundschaft die Leviten zu lesen bzw. zu schreiben. Zwei mal hatte er die Gemeinde seit ihrer Gründung besucht, sie hatte sich beispielhaft an seiner Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde beteiligt, und auch sonst lief in Philippi alles zur Zufriedenheit des Paulus. Bis eben die Nachricht kam, die ihn ebenso wütend wie traurig machte. Da war er der festen Überzeugung gewesen, die Philipper hätten kapiert, worum es ging. Nämlich darum, dass Gott in Christus alle Menschen ein für alle mal mit sich versöhnt und vertöchtert hat, und dass darum alle menschliche Anstrengung, Gott gut zu stimmen, überflüssig ist; dass deshalb die Menschen sich selbst und einander annehmen können, wie sie sind – weil Gott sie eben so angenommen hat. Was noch nicht bedeutet, dass er sie so lässt; sie sind immer verbesserungsbedürftig.

Das war der Kern seiner Botschaft, die er überall predigte. Denn diese Erkenntnis hatte sein Leben so entscheidend verändert, dass er möglichst viele Menschen zu der gleichen Erkenntnis bringen wollte. Dafür rackerte er sich bis an seine Grenzen ab, dafür nahm er alles in Kauf, was ihm an Entbehrung, an Hohn und Spott, an Ablehnung und Verfolgung widerfuhr. Dafür entschädigte ihn zu erleben, wie der christliche Glaube Menschen aus zwanghafter Angst befreite. Doch er konnte sich seine Freude darüber nur selten eingestehen. Zu sehr sah er sich als Diener Gottes, als dass er sich über seine Erfolge freuen konnte. Hingegen: Wenn er wegen seiner Predigt verfolgt wurde und leiden musste, dann wusste er sich mit Jesus eins. Manchmal kamen ihm Zweifel, ob das so gut sei.

Jetzt, als er an die Gemeinde in Philippi schrieb, kamen diese Zweifel wieder hoch. Was, so überlegte er, bringt Menschen dazu, sich das Leben schwerer als nötig zu machen, was bringt sie dazu, Dinge zu tun, Reaktionen zu provozieren, unter denen sie leiden? War es denn so schwer, als durch Christus befreite Menschen frei und fröhlich zu leben? Warum hatten – und darum ging es konkret – die Philipper alle Männer wieder zur Beschneidung verpflichtet? Sie waren doch auch mit Vorhaut gute Christen! Das musste er ihnen deutlich machen und sie bewegen, den Unfug abzustellen. Sonst würden sie bald wieder in die alte Gesetzlichkeit zurückfallen, nach der man so vieles tun und ebenso vieles lassen musste - angeblich um Gottes Wohlwollen zu erhalten.

Wenn er den Anfängen nicht wehrte, da war Paulus sich sicher, gäbe es bald kein Halten mehr. Dann würde lebendiger Glaube wieder durch starre Formen und Formeln ersetzt und die Gläubigen gerieten wieder in Abhängigkeit von Priestern, von Pharisäern und Schriftgelehrten. Das durfte nicht sein, denn es brauchte nicht zu sein; Christus hatte von Sünde und Gesetz befreit. Und damit auch von allen Menschen, die sich für Stellvertreter Gottes auf Erden und für besonders heilig hielten. Dabei ging es in deren Häusern nicht anders zu als anderswo, und - glaubte man immer wieder kursierenden Gerüchten - bisweilen noch schlimmer. Auf solche Priester konnte man getrost verzichten, zumal sie seit Christus völlig überflüssig waren; er hatte sie gleichsam arbeitslos gemacht, weil sie ohnehin zu nichts taugten.

Paulus wußte, wovon er sprach bzw. woran er dachte, hatte er doch vor seiner Bekehrung engste Kontakte zu ihnen gepflegt. Das war ihm heute mehr als peinlich, ja, er trug daran als einer schweren Schuld. Und wenn manche ihn wohlmeinend mit der Bemerkung zu trösten versuchten, er habe ja nicht besser gewußt und mit seinen Verhaftungen von Christen seinem Volk dienen wollen, dann wurde ihm speiübel, dann ging es ihm dreckig. Denn Dreck war gewesen, wie er sich verhalten hatte; das sah er heute glasklar. Genau so wertlos war die ganze Hierarchie, die bestimmte Menschen zwischen Gott und seinem Volk eingezogen hatten. Sie versperrte den Leuten den Zugang zu Gott wie der Vorhang im Tempel vor dem sogenannten Allerheiligsten. Doch der Vorhang war durch Christus zerrissen, der Weg war und blieb frei für jedermann und jedefrau.

Doch diesen Zugang konnte man sich nicht verdienen, und für ihn war man nichts schuldig. Ob das so schwer zu akzeptieren war, dass die Befreiung von Gesetz und Sünde weder Vorleistung noch Gegenleistung erforderte? „Do ut des,“ sagten die Römer, ich gebe, damit du gibst. Das Leben als Handel, als Wechselwirkung von Investition und Gewinn. Selbst für das alltägliche Miteinander kein gutes Motto, denn es vermiest die Freude am Schenken und am Beschenktwerden; jedes Geschenk, jedes freundliche Wort wird dann zum Tauschobjekt, jedes Miteinander zum Tauschgeschäft. Wie ich dir, so du mir. Und umgekehrt: Wie du mir, so ich dir. Als ob das ganze Leben ein Ausgleichen von Schuld und Sühne wäre, eine einzige Rechenaufgabe.

Und genau so wollten die Menschen mit Gott rechnen und rechten. Doch das ging nicht: In seiner Gnade hatte Gott in einer Generalamnestie alle Rechnungen beglichen, alle Rechtshändel platzen lassen. Hatte das Rechnen und Rechten der Menschen als das entlarvt, was es war: Kleinkariert, Pepita. Gottes Gnade, seine Güte ist nicht zu verstehen. Sie ist nur zu glauben.

Doch Paulus kannte den Hang der Menschen, möglichst alles verstehen zu wollen, kannte ihr Kausalitätsbedürfnis. Deshalb versuchte er, dass Unfassbare begreifbar zu machen, indem er es in Begriffe fasste. Dass seine Texte ihm oft nur schwer verständlich gerieten, lag in der Natur der Sache. Und irgendwie, fand er, passte das auch zu dem, worum es ging.

Was der Brief in Philippi bewirkt hat, wissen wir nicht. Doch das Problem, um das es in dem Brief geht, ist noch immer nicht aus der Welt. Es ist nun mal so, dass wir nicht leben können, ohne an anderen und damit vor Gott schuldig zu werden. Meistens handelt es sich um Kleinigkeiten, und nicht selten haben unsere „Opfer“ unsere Tat längst vergessen. Wir aber schleppen sie noch als Last mit uns herum und erwarten vermeintlich gerechte Strafe. Bleibt die aus, bestrafen wir uns selbst oder interpretieren irgendwelche Ereignisse als Strafe. Doch das alles sind klägliche Versuche, etwas gut zu machen, was längst gut gemacht ist. Versuche, die – mit den Worten des Paulus – einen Dreck wert sind. Verschwendete Kraft, die wir besser für ein friedliches Miteinander einsetzen. Amen

Paul Kluge, P. em.
Grosser Werder 17
D-39114 Magdeburg
Paul.Kluge@t-online.de


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