Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

10. Sonntag nach Trinitatis, 15. August 2004
Predigt über
Römer 11,25-32, verfaßt von Rainer Stahl
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Schwestern und Brüder,

jedes Jahr stellen wir uns in der Kirche der Beziehung zu „Israel“. Deshalb feiern wir den „Israel-Sonntag“ – immer am 10. Sonntag nach Trinitatis. Wir tun dies zu aller erst als Christen, als Christen aus verschiedensten Völkern. Ich arbeite für das lutherische Diasporawerk, den Martin-Luther-Bund. Täglich geht es mir um die Hilfe und Unterstützung evangelisch-lutherischer Mitchristen in Frankreich, in Kroatien, in Polen, in Russland, in Litauen z.B. Um das Verhältnis von Christen aus diesen vielen Völkern zu „Israel“ geht es also heute.

Und dann natürlich auch darum, welches Verhältnis wir Christen zu „Israel“ haben, die wir zum deutschen Volk gehören. Und da brauche ich jetzt nicht die verschiedenen Dimensionen darzustellen. Sie sind uns bewusst. Ich darf nur festhalten: Es geht trotz allen Bekennermutes – den es auch gegeben hat und gibt – gerade für uns als Christen aus dem deutschen Volk um eine Geschichte der Schuld und des Versagens. Dies lässt sich nicht verdrängen; ja: dies muss gegenwärtig sein.

Aber nicht nur auf christlicher Seite liegen bei dieser Herausforderung Vielfalt und Kompliziertheit vor. Dies gilt auch, wenn wir auf „Israel“ schauen. Was ist da gemeint?

Für Paulus ist das eindeutig: Die Gemeinschaft, aus der er selbst kommt. Alle, die den einzigen Gott glauben – in Judaea, in der Diaspora, eben auch in Rom selbst. Und da gab es damals manche Unterschiede zwischen den Juden in Ägypten z.B. und denen in Judaea. Heute nun ist ebenfalls eine komplexe Vielfalt gegeben: die jüdischen Gemeinden in unserer Nachbarschaft – und zwar die jüdischen Gemeinden in ihrer Vielfalt selbst vom Reformjudentum bis hin zum orthodoxen Judentum –, in der Nachbarschaft aller christlicher Gemeinden, egal in welchen Staaten, dann die Mitbürger, die sich aus jüdischem Erbe bestimmen, ohne selber zu einer Kultusgemeinde zu gehören (auch sie!), der Staat Israel dann und seine Bürger, seien sie nun als Juden jüdischen Glaubens oder nicht. Auch wenn sich jetzt die eine oder andere, der eine oder andere von Ihnen als Leserin und Leser innerlich wehrt, halte ich fest: Mit dieser Komplexität des Themas müssen wir rechnen. Sind dann überhaupt noch sinnvolle Aussagen, ja: sinnvolle Fragen, möglich?

Die berühmte Passage unseres Predigttextes ist aus dem Brief des Paulus, den dieser vielleicht im Jahr 56 n.Chr. aus Korinth an die Gemeinde in Rom geschrieben hatte. Hier schreibt ein Christ, der aus der glaubenden jüdischen Gemeinde hervorgegangen ist. Und er schreibt an eine christliche Gemeinde, zu der viele Christen aus nichtjüdischen Zusammenhängen, aber auch viele Christen gehören, die vorher Juden waren. Die Gemeinschaft seiner eigenen Glaubensherkunft ist für ihn eine Gemeinschaft, die von Gott her bestimmt ist: Gott hat den „Bund“ geschlossen. Gott hält an diesem „Bund“ fest. Paulus hat also eine interessante Hoffnungsdimension in seiner Argumentation. Ich will es einmal mit eigenen Worten sagen:

Auch wenn sich eine Frau oder ein Mann der jüdischen Gemeinschaft gegen den Glauben an Gott entscheiden – aus Verzweiflung, aus Erschrecken über unsägliches Leid (Sie merken, liebe Leserin, lieber Leser, welche Schreckensgeschichte ich aufklingen lasse!) –, gilt das Bekenntnis Gottes zu dieser Frau, zu diesem Mann. Die Gaben und die Berufung bleiben gültig.

So kann über Christen eigentlich nicht geredet werden. Und das tut – wenn ich es richtig verstanden habe – Paulus auch nicht. Christen sind diejenigen Frauen und Männer – z.B. aus dem Kreis der Deutschen (also: ich, also: Sie) –, die sich für den Glauben, die sich für die Kirche entschieden haben. Wenn ich die Kategorie an uns anlege, die Paulus für seine jüdischen Mitschwestern und Mitbrüder verwendet, kann ich sagen: Es sind diejenigen, die den Anruf Gottes – in vielfältiger Gestalt: durch die Eltern, durch die Pfarrerin, durch Freunde – für sich annehmen und sich auf den Weg des Glaubens wagen. Aber es sind nicht diejenigen Deutschen oder Polen oder Tschechen im Blick, die nicht glauben.

Hier ist ein großer Unterschied zwischen Nichtjuden und Juden. Für Juden bleiben die Zuwendungen Gottes erhalten. Von Gott her verlieren sie ihre Gültigkeit nicht. Für Nichtjuden besteht das Angebot, durch den Glauben an Christus in gleiche Zuwendungen einzuteten. Das hat Paulus im Blick. Für ihn, als so spektakulär zum Christen gewordenen Juden, kommt wohl gar nicht in Frage, dass Nichtjuden auch Juden werden könnten. Auch diese Möglichkeit gibt es natürlich. Wir haben sie zu tolerieren.

Auf den Weg des Glaubens wagen. – Dieses Stichwort führt weiter. Paulus nennt den theologischen Schlüssel zweimal in seiner Argumentation – einmal für die Christen, einmal für die Juden: ihr „nun aber Barmherzigkeit erlangt habt“, sowie: „damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen“.

Es geht nicht um Besitz, nicht darum, dass wir etwas fest hätten – den Glauben, die Zuwendung Gottes, Erfolg oder anderes. Der Schlüsselbegriff für Paulus ist, dass wir – Christen, die früher Nichtjuden waren, Christen, die früher Juden waren, und Juden, die Juden bleiben, sowie Nichtjuden, die Juden werden – Barmherzigkeit finden, dass wir uns nicht von unseren Fähigkeiten und Leistungen, nicht von unserem Glauben her bestimmen, sondern dass wir uns von der Zuwendung Gottes her bestimmen. Und dann kann keiner über den anderen urteilen. Dann stehen wir alle als Empfangende voll Staunen über das da, was uns anvertraut ist.

Vielleicht ist das ein Sinn dieses „Israel-Sonntags“:
Nicht, dass wir große Denk- und Identitätsprobleme lösen. Sondern dass wir staunend erkennen, was uns selbst angeboten wird.
Nicht, dass wir die Größe unseres eigenen Glaubens als Auftrag und Aufgabe formulieren, sondern die Größe Gottes:

„Wenn es nicht auf einen großen Glauben ankommt, sondern auf den Glauben an die Größe Gottes, kann es für die Gläubigen eigentlich auch nicht darum gehen, dass ihr Glaube stärker wird, sondern nur darum, dass sie zunehmend die Stärke ihres Gottes erkennen – und gerade darin liegt die Kraft des Glaubens“ (Hans-Joachim Eckstein).

Inbegriff der Größe Gottes ist die unbegreifliche Barmherzigkeit, die er jeder und jedem von uns entgegenbringt. Nach dem Ende der Sowjetunion hat ein russischer Denker die wichtige Aufgabe formuliert: „Wir müssen das Wort und die Sache der Barmherzigkeit wieder lernen.“ Die Ideologie der Bolschewiki hat zur Unbarmherzigkeit angeleitet, hat den Menschen die Barmherzigkeit ausgetrieben. Wer sie neu lernt – gerade die Barmherzigkeit mit denen, die an einem selbst schuldig geworden sind –, begreift etwas von dem Geheimnis, das unsere Welt trägt.
Amen.

Dr. Rainer Stahl
Generalsekretaer des Martin-Luther-Bundes
E-Mail: rs@martin-luther-bund.de


(zurück zum Seitenanfang)