Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

11. Sonntag nach Trinitatis, 22. August 2004
Predigt über
Epheser 2, 4-10, verfaßt von Marlies Stähler
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Leben aus Gottes Gnade
Trostpredigt für Schüler, Lehrer und Eltern

Wie schnell fangen wir an,
verächtlich über andere zu denken
und zu reden.
Es ist wie eine Sucht,
sich selber groß zu machen
und die anderen klein.
Gott, du Bruder der Verachteten,
wann werden wir endlich einsehen,
dass alle von deiner Gnade leben,
wir und die anderen. Amen

Liebe Gemeinde!
Der heutige Predigttext thematisiert Gottes Barmherzigkeit und Gnade. Das sind Themen, die mich seit geraumer Zeit umtreiben. So nicht nur Gottes Barmherzigkeit, sondern auch meine eigene Fähigkeit, barmherzig zu sein und an anderen barmherzig zu handeln.

Als Mutter dreier schulpflichtiger Söhne bin ich täglich mit dem Thema Schule konfrontiert. Ich erlebe und beobachte innerhalb meiner Familie und im näheren schulischen Umfeld immer mehr, dass Kinder und Jugendliche mit diesem wesentlichen Aufgaben- und Lernfeld ihres Lebens sozusagen auf „Kriegsfuss“ stehen. Sie stören den Unterricht, handeln in uneinsichtiger und unverständlicher Weise oder nehmen häufig am Unterrichtsgeschehen nicht teil. Schule wird aus der Sicht dieser Kinder immer häufiger als uneinsichtige Anstrengung, Qual und als zermürbend empfunden. Aus Sicht der Lehrer und des Systems reagieren diese Kinder „verkehrt“.
Dann werden sie zumeist von den Lehrern als bockig oder dumm abgestempelt.
Für diese Kinder beginnt dann ein verhängnisvoller Teufelskreis.
Am Beispiel der heute 30- jährigen Mara soll die erwähnte Schul-Leidensgeschichte veranschaulicht werden.

Mara berichtet:
„Die Mathestunde. Da gab es mal eine Stunde über irgendwelche Beweise. Ich sehe Mono (so hieß unser Direktor Wagner, der hatte nur einen Arm) noch an der Tafel stehen und reden. Er war groß und hatte leicht wellige Haare, eine Brille und eine Menge Stacheln auf der einen roten Hand. Wenn er etwas anzeichnete, presste er die halbe Schulter an das riesige Tafelgeodreieck und zeichnete mit der freien Hand die Linie.

An jenem Tag zeichnete er aber nicht. Er hielt das Geodreieck am neonstichig gelben Plastikgriff und redete. Es gehe um „notwendig“ und „hinreichend“. Ich kapierte nicht. Er fragte mich. Da kam nur Murks raus und mein armes Deutsch reizte ihn zusätzlich. Er musste denken, ich hätte einfach aus bösem Willen nicht zugehört. Oder weil es mich einfach nicht interessierte. Oli versuchte, mir einzusagen. Aber ich kapierte nicht. Ich kapierte überhaupt nichts, noch nicht einmal die Worte. Als ob er Chinesisch redete oder Italienisch, was ich auch nicht kann. Ich starrte Mono völlig fasziniert an. Was für ein ulkiges Wesen so ein Mensch ist! Eine Nase wie eine saure Gurke. Ich überlegte mir, wie das aussähe, wenn sich die Nase auf einmal grün verfärben würde. Ich kicherte.
Das Ergebnis stand im Klassenbuch. Aber es war mir lieber als die Wahrheit. Die Wahrheit wäre gewesen, dass ich allmählich meinte, verrückt zu werden. Und das war eine Wahrheit, die mir nicht besonders gut gefiel.“

Mara und mit ihr eine jährlich wachsende Kinderschar, die die geschilderten Symptome zeigen, leiden häufig an ADS/ADHS. Sie leiden an der Schule, den Lehrern, vielleicht auch an hilflosen und überforderten Eltern und vor allem an sich.

An anderer stelle schreibt Mara: „Ich erinnere mich leider ganz gut an die vielen kleinen Piekser, die sich durch mein ganzes Leben ziehen“:

„Pass doch auf!
Kannst du nicht mal mitdenken!
Sag doch gleich, dass du nur wieder mal nicht willst!
Reiß dich zusammen!
Was soll das heißen, Hausaufgaben vergessen?! Du bist einfach stinkfaul!
Hör doch einfach mal zu, wenn ich mit dir rede!
Ich verstehe das nicht, was ist mit dir los?“

Diese unbarmherzigen Piekser plagen Mara und kommen sicherlich vielen Jugendlichen und Schülern bekannt vor. Sie werden von den betroffenen Jugendlichen und Schülern registriert als Unbarmherzigkeit, Verständnislosigkeit und Ablehnung.
Vielleicht finden sich hier auch Eltern wieder, weil es ihnen in der Schule ähnlich erging oder genau mit diesen Vorwürfen werden ihre Kinder überschüttet.
Reagieren nun Erwachsene, Lehrer oder Eltern auf das auffällige Verhalten der Kinder andauernd in der beschriebenen Art und Weise, dann besteht die Gefahr, dass die Kinder, wenn sie von außen nur Negatives über sich hören, irgendwann diese Einschätzung übernehmen. Dadurch, so sehen es die Psychologen, geraten immer mehr Jugendliche und Kinder in Selbstzweifel und sind verunsichert über ihr Angenommen-Sein in der Welt.

Sicherlich stehen Fachleute mit Rat und Tat zur Seite, doch der tägliche Umgang mit diesen Kindern erfordert seitens der Eltern und Pädagogen enorme Kräfte. Woher diese nehmen? Wie auf unangemessene und ziellose Aktionen seitens der Kinder reagieren?
Als betroffene Mutter und Theologin weist mir die Zusage von Gottes Barmerzigkeit den zu gehenden Weg.
Nicht der Tadel und die die Persönlichkeit verletzenden Strafmaßnahmen sind der Weg, sondern die immer wiederkehrende barmherzige Zuwendung und das sachliche Gespräch.

Diese Kraft für beides erwächst aus dem Glauben. Durch den Glauben erspüren wir Gottes Gnade. Das Vertrauen in Gottes Zusage erfüllt uns mit einer Energie, die ich vergleichen möchte mit der Erwärmung durch einen Sonnenstrahl. Diese energetische Erwärmung
gibt mir die Stärke ihm in Barmherzigkeit zu begegnen uns es immer wieder anzunehmen und nicht zu verstoßen. Klare Regeln, Strukturen und sachliche Gespräche tun ein übriges. Diese sind fester Bestandteil der Barmherzigkeit.

In einer Praxis für Ergotherapie in Potsdam hängt ein großes Plakat an der Wand mit folgendem Spruch:

„Liebe mich, wenn ich es am wenigsten verdiene, denn dann brauche ich es am dringendsten“.
Nur, wenn wir unseren Kindern in Barmherzigkeit und der Stärke des Glaubens begegnen, können wir diesem kindlichen Hilferuf gerecht werden. Darin besteht unsere erzieherische Verantwortung.

Zum Schluss soll der Atem der Barmherzigkeit, den der heutigen Predigttext als Ermutigung verströmt, selbst zu Wort kommen:

Aber Gott, der reich ist an Barmherzigkeit, hat in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, auch uns, die wir tot waren in den Sünden, mit Christus lebendig gemacht – aus Gnade seid ihr selig geworden -; und er hat uns mit auferweckt und mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus,
damit er in den kommenden Zeiten erzeige den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade durch seine Güte gegen uns in Christus Jesus.
Denn aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme.
Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin wandeln sollen.

Amen

Dr. Marlies Stähler
Wendensteig 63
14476 Groß Glienicke
Dr.Marlies-Staehler@t-online.de


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