Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

11. Sonntag nach Trinitatis, 22. August 2004
Predigt über
Epheser 2, 4-10, verfaßt von Wolfgang Vögele
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


„Aber Gott, der da reich ist an Barmherzigkeit, hat um seiner großen Liebe willen, mit der er uns geliebt hat, auch uns, die wir tot waren in den Sünden, samt Christus lebendig gemacht, denn aus Gnade seid ihr gerettet worden. Und hat uns samt ihm auferweckt und samt ihm in das himmlische Wesen gesetzt in Christus Jesus, auf dass er erzeigte in den kommenden Zeiten den überschwänglichen Reichtum seiner Gnade durch seine Güte gegen uns in Jesus Christus. Denn aus Gnade seid ihr gerettet worden durch den Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, nicht aus den Werken, auf dass sich nicht jemand rühme. Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, welche Gott zuvor bereitet hat, dass wir darin wandeln sollen.“

Liebe Gemeinde,

überschwänglich, begeistert, feierlich, überwältigend kommen diese Sätze daher. Vier Anläufe will ich nehmen, um das Befreiende, Evangelische, Barmherzige dieser Worte zum Ausdruck zu bringen:

  • über ein Spiel,
  • über ein Bild,
  • über eine Sprache
  • über die Barmherzigkeit.

Spring doch!

Die junge Frau mit den schulterlangen blonden Haaren und der dunkelblauen Trainingsjacke hat die Augen geschlossen. Sie konzentriert sich. Ihre Füße stehen auf einem grob gezimmerten Holzpodest. Die Schuhspitzen berühren die Podestkante. Man sieht ihr die Aufregung an. Die Hände krampfen sich zusammen. Fast zittert sie. Die Frau zögert. Stocksteif steht sie da. „Nun mach endlich“, hört sie von unten eine männliche Stimme rufen. Sie hebt ihren rechten Fuß leicht an und streckt ihn ins Leere. Dann stürzt sie sich vom Podest.

Sie fällt in die Arme von zehn Menschen, die am Boden in zwei Reihen nebeneinander stehen. Alle haben die Arme ausgebreitet. In diese Arme, die gemeinsam ein so etwas wie ein Fangnetz bilden, stürzt die junge Frau. Die zehn Netzfänger federn die Wucht des Falls mit ihren Armen ab. Die Frau schlägt die Augen auf und rutscht mit den Füßen voran auf den Boden. Sie erhebt sich, und über ihr Gesicht läuft ein strahlendes Lachen. Auch die anderen, die Fängerinnen und Fänger stimmen in das Lachen ein. Alle umarmen sich.

„Gut gemacht“, ruft der Trainer von hinten. Der Trainer ist ein Mann von etwa 40 Jahren. Er trägt eine Sonnenbrille und hat die Szene aus dem Hintergrund beobachtet. Er wartet vielleicht eine halbe Minute, bis sich Aufregung und Lachen gelegt haben, dann bittet er die Gruppe, einen Halbkreis zu bilden. Die junge Frau erzählt, was sie fühlte, bevor sie lossprang. Die anderen äußern sich. Eine Frau mit braunem Haar sagt, sie hätte ihr den Sprung erst gar nicht zugetraut. Ein Mann sagt: „Ich war mir vorher gar nicht sicher, ob wir Dich hätten auffangen können. Ich habe gezweifelt, ob wir das gemeinsam schaffen.“

Die elf Personen gehören zur Marketing-Abteilung eines kleinen Unternehmens, das Sportschuhe produziert. Sie haben sich zu diesem Wochenend-Training angemeldet, um Konflikte in der Gruppe zu bearbeiten und um die Zusammenarbeit in der Abteilung zu verbessern.

Der Fall vom Podest und das Auffangen bildeten eine der gemeinsamen Übungen. Die Übung verfolgte einen bestimmten Zweck: Lerne, dich auf die anderen blind zu verlassen und ihnen zu vertrauen! Nur wenn ihr euch zusammenschließt, seid ihr so stark, dass ihr euch gegenseitig tragen und einander vertrauen könnt. Die junge Frau musste ihre Angst überwinden, bevor sie lossprang. Die Fängerinnen und Fänger mussten ihre Angst überwinden, die Springerin nicht fallen zu lassen.

Die Gruppe hat geübt, was der Epheserbrief verkündet: Vertrauen. Das ist die erste Botschaft des Epheserbriefs: Gott fängt die springenden, ängstlichen Menschen auf. Bei der jungen Frau handelte es sich nur um ein Spiel, eine Übung, einen Test. Der Epheserbrief spricht in ganzem Ernst von Gott: In jedem Fall könnt ihr euch alle auf Gott verlassen. Es kommt nicht darauf an, aus welcher Höhe ihr springt, ob ihr Anlauf nehmt oder nicht, ob ihr Angst habt oder nicht, ob ihr springen wollt oder nicht. Irgendwann müsst ihr springen – und dann fange ich euch auf, über den Tod hinaus. Dann rette ich euch. Darin könnt ihr mir vertrauen.

Ein Ziegenbock

Im Vordergrund des Bildes (*) ist ein Ziegenbock zu sehen. Unsicher und mit eingeknickten Vorderbeinen steht er am Rand einer riesigen Ebene. Vielleicht ist es ein Eisfeld, das sich hinter ihm ausbreitet. Auf dem Eis liegen die Hörner eines anderen Ziegenbocks, weiter hinten erkennt der Betrachter das Skelett eines größeren Tieres, vielleicht eine Kuh oder ein Pferd. Die ganze Landschaft ist in rötliches Licht getaucht, Abendsonne wahrscheinlich, aber auf dem Bild ist die Sonne nicht zu sehen. Das Fell des Ziegenbocks schimmert weiß und rötlich zugleich. Es ist zottelig und verfilzt. Die Ohren des Ziegenbocks hängen schlapp herunter. Die beiden kurzen Hörner stehen waagerecht vom Kopf ab. Der Ziegenbart hängt genauso schlapp wie die Ohren. Der Blick des Ziegenbocks geht müde ins Leere. Oder geht er vielleicht doch auf den Betrachter des Bildes? Man kann es nicht genau sagen. Die Augenlider sind halb geschlossen. Vielleicht hat der Ziegenbock Hunger oder Durst. Die vertrockneten kleinen Äste, die neben ihm auf dem Boden liegen, scheint er nicht zu mögen. Die flache weite Ebene mit den Eisfeldern wird von einem Gebirge abgeschlossen. Kahl und unerreichbar trennt es die Ebene vom bewölkten Himmel.

„Was mache ich eigentlich hier?“ scheint der Ziegenbock den Betrachter zu fragen. „Was habe ich in dieser unwirtlichen Gegend verloren?“

Das Bild hat der englische Maler William Holman Hunt in den Jahren 1854 und 1855 gemalt. Es trägt nicht den Titel „Der Ziegenbock“. Hunt hat ihm einen anderen Titel gegeben: „Der Sündenbock“. Was bisher noch als ein melancholisches Natur-Idyll erscheinen konnte, zieht mit dem Titel ganz andere Bedeutungen auf sich. Der Ziegenbock mit dem traurigen Blick ist beladen mit allem, was Menschen an Schuld und Verfehlung nicht mehr auf sich nehmen wollten. Er ist das verhungernde und verdurstende Tier, das einen Stellvertreterdienst leistet. Aber der Blick müde, traurige Blick des Tieres sagt: Ich verstehe das alles nicht. Ich weiß nicht, wie mir geschieht. Was tun diese Menschen mir an? Es ist nicht die Schuld des Tieres, dass die Welt ist, wie sie ist.

Der traurige Blick des Sündenbocks sagt: Ihr macht es euch zu einfach, wenn ihr alles auf mir abladet. Das ist die zweite Botschaft des Epheserbriefs: Die Verfehlungen der Menschen, alles was sie belastet und bedrückt, können nicht auf einem Tier abgeladen werden. Nicht ein Tier hat die Schuld, die Verfehlungen der Menschen auf sich genommen, sondern Gottes Sohn selbst. Jesus von Nazareth hat sein Leben gegeben, um Menschen zu retten. Und der Epheserbrief sagt noch: Gott kündigt die Versöhnung mit den Menschen nicht nur an, er hat sie bereits vollzogen. Sie ist Wirklichkeit geworden. Die Menschen brauchen keine Sündenböcke mehr, die sie opfern müssen. Wir können den Sündenbock wieder als Ziegenbock sehen.

Sprache aus dem Glauben - Sprache für den Glauben

Gott hat die Versöhnung mit den Menschen bereits vollzogen. Davon spricht und schreibt der Autor des Epheserbriefs in großartigen Worten. Was wir als Predigttext gehört haben, ist nicht in der Alltagssprache gehalten. Der Autor schlägt einen hohen, hymnischen, feierlichen Ton an: ausgesuchte, wohl gewählte Worte, kompliziert ineinander gefügte Sätze, die sich nicht beim ersten Hören erschließen. Hier wird gleichzeitig die Gemeinde und Gott selbst angesprochen. Gebet und Verkündigung, Lob Gottes und evangelische Botschaft durchdringen sich. Das ist weder beschreibende noch analysierende Rede, sondern ein Gebet, das Gott preisen will, ein Lied, das seine barmherzigen Taten lobt, ein Gesang, der die Freude über Gottes Herrschaft in Worte fasst. Die Worte selbst wollen glänzen und strahlen, wollen Freude und Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, Glaubensgewissheit, Vertrauen und Zuversicht. Gott rettet – das ist der Generalbass dieser wenigen Sätze. Und barmherzige Rettung, das ist die Bewegung, welche diese wenigen Sätze zu umschreiben versuchen. Gott sind die Menschen nicht gleichgültig. Er kümmert sich um sie, jenseits der Sündenbockspiele, jenseits der Spiele, mit denen Menschen das Vertrauen untereinander einüben wollen. Man spürt den Worten des Epheserbriefs ab, wo sie herkommen. Sie sind aus dem Staunen, aus Ehrfurcht, aus tiefer Überzeugung entstanden: Ihr könnt dem Gott des Jesus von Nazareth vertrauen. Ihr könnt euch auf ihn verlassen. Mit dem barmherzigen Gott fängt es an, mit den glaubenden und vertrauenden Menschen hört es auf. Dazwischen liegt die große Bewegung Gottes, seine Zuwendung, die in Kreuz und Auferstehung Jesu von Nazareth Gestalt gewonnen hat.

Gerettet werden – begnadet werden

Bewegung, Zuwendung, Rettung – das prägt dieses kurze Gebet des Epheserbriefs. Darin liegt auch eine unzweideutige Botschaft. Menschen können sich nicht selbst retten. Sie werden gerettet. Gott rettet sie.

Nicht wir retten uns selbst, wir werden gerettet. Und der Autor des Epheserbriefs geht noch einen Schritt weiter. Er sagt nicht nur: Die Menschen werden gerettet. Er sagt auch: Diese Rettung ist schon geschehen. Wir haben sie alle schon hinter uns. Weil sie schon geschehen ist, in der Vergangenheit liegt, können wir uns darauf verlassen. Darum die feierliche, begeisterte und begeisternde Sprache. Darin liegt der entscheidende Kern christlichen Glaubens und Vertrauens: In Jesus von Nazareth ist Gottes Rettung schon geschehen, ist sie Gestalt geworden.

Darin besteht der Kern des christlichen Glaubens. Das ist nichts, wozu die Glaubenden einfach Ja und Amen sagen, sondern das ist ein tiefes Vertrauen, das in den Glaubenden eine lebenslange Geschichte findet. Eine Geschichte, in der durchaus Perioden des Zweifelns und der Unsicherheit enthalten sein können. Solch eine Geschichte des glaubenden Vertrauens braucht zu Zeiten die Erinnerung und die Rückversicherung: Denkt daran, glaubt daran. Ihr könnt euch auf Gott verlassen. Nichts im Leben kann so schlimm, so furchtbar, so bedrücken sein, dass es jemanden von der Liebe, der Barmherzigkeit und der Gnade Gottes ausschließen würde.

Kann man das im Leben spüren? Ja, das kann man. Es ist eine Frage der Perspektive, der Leistung und der Anstrengung. Wer sich selbst beweisen muß, der muß etwas leisten, der muß sich im Leben wiederholt Sündenböcke suchen, weil er seinen eigenen Ansprüchen nicht genügte. Wer dagegen dem barmherzigen Gott Jesu Christi vertraut, gewinnt eine ungeheure Freiheit. Gott befreit von eigenen und fremden Ansprüchen, Leistungszwängen und Überforderungen. Damit ändert sich die Perspektive des Handelns. Leben und Handeln sind nicht mehr fremden Ansprüchen unterworfen. Aus dem Vertrauen auf Gott wächst die Freiheit, selbst zu entscheiden, auf andere zuzugehen, zu helfen, Gutes zu tun.

Daran zu erinnern, für dieses Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit zu werben und zu dieser Freiheit Mut zu machen, dafür sind die feierlichen, hymnischen Worte des Epheserbriefs bestimmt.

Amen.

Dr. Wolfgang Vögele
Evangelische Akademie zu Berlin
Charlottenstr. 53-54
10117 Berlin
voegele@eaberlin.de

* Das im folgenden beschriebene Bild stammt von dem englischen Präraffaeliten William Holman Hunt (Der Sündenbock, 1854-55 ). Es ist als jpg-Datei im Internet abrufbar unter: www.koza.slp.pl/prerafaelici/img/hunt_scapegot_big.jpg

 


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