Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

11. Sonntag nach Trinitatis, 22. August 2004
Predigt über
Epheser 2, 1-10, verfaßt von Gerlinde Feine
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Auch ihr wart tot durch eure Übertretungen und Sünden, in denen ihr früher gelebt habt nach der Art dieser Welt, unter dem Mächtigen, der in der Luft herrscht, nämlich dem Geist, der zu dieser Zeit am Werk ist in den Kindern des Ungehorsams. Unter ihnen haben auch wir alle einst unser Leben geführt in den Begierden unseres Fleisches und taten den Willen des Fleisches und der Sinne und waren Kinder des Zorns von Natur wie auch die anderen.

Aber Gott, der reich ist an Barmherzigkeit, hat in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, auch uns, die wir tot waren in den Sünden, mit Christus lebendig gemacht – aus Gnade seid ihr selig geworden –; und er hat uns mit auferweckt und mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus, damit er in den kommenden Zeiten erzeige den überschwenglichen Reichtum seiner Gnade durch seine Güte gegen uns in Christus Jesus. Denn aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, nicht aus Werken, damit sich nicht jemand rühme. Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, daß wir darin wandeln sollen.

Liebe Gemeinde –

früher muß eine Visitation in einer Gemeinde etwas ausgesprochen Unangenehmes gewesen sein. Der Name - „Besuch“ - mag ja harmlos klingen, aber neben der Ehre und der Abwechslung und des zumeist auch festlichen Rahmens brachte dieses Ereignis allerlei Unerfreuliches zutage: Das war dann etwa so, wie wenn die Mutter endlich ihre Drohung wahrmacht und ihr Kind am Studienort besucht. Ich weiß noch gut, wie ich meine 15 qm große Stube damals in Erlangen zur ersten Kontrollvisite geschrubbt und poliert habe - und wie dann meine Mutter, kaum daß wir uns begrüßt hatten, mit dem Zeigefinger über die Oberkante des Lampenschirms fuhr, um zu überprüfen, ob ihre Tochter überhaupt fähig und in der Lage wäre, unbeaufsichtigt zu existieren. Sie kennen vielleicht auch solche Besuche: selbst wenn man den ersten Staubtest besteht - irgend etwas findet sich immer, an dem herumgemäkelt werden kann, irgendetwas ist immer da, was die Besucherinnen und Besucher besorgt den Kopf schütteln läßt und sie dazu bringt, mahnend den Zeigefinger zu heben.

So ähnlich - nur viel umfangreicher und folgenschwerer - stelle ich mir die Visitation vor, die im Jahr 1825 in Utzensdorf im schweizerischen Emmental stattgefunden hat. Streng ist man da mit den Leuten ins Gericht gegangen; beinahe am strengsten wertete im übrigen der junge Vikar Albert Bitzius - er war gerade 28 Jahre alt und hatte die Stelle von seinem verstorbenen Vater übernommen. Folgt man seiner Einschätzung, so gab es damals in Utzensdorf nur „Kinder des Ungehorsams“, die, um in den Worten des Predigttextes zu sprechen, ihr Leben in den Begierden des Fleisches führten - das könne man schon an der ungewöhnlich hohen Zahl außerehelicher Geburten ablesen - lauter Übertretungen und Sünden begingen und ihrem Zorn, der Gewalt und dem Bedürfnis nach Macht nachgaben - auch dafür gab es jede Menge Beispiele. Ob es der strenge Gerechtigkeitssinn der Jugend war, der den Vikar Bitzius dazu gebracht hatte, seine Gemeinde so zu verurteilen? Ich hoffe es zumindest; später, in der Gemeinde Lützelflüh, wo Bitzius unter dem Pseudonym Jeremias Gotthelf viele anrührende und weise Geschichten über das Emmental und seine Bevölkerung schrieb, da hat er sich dann nachsichtiger gezeigt mit den Leuten, hat nicht nur Forderungen gestellt und Urteile gefällt, sondern Verständnis gezeigt und anderen zugetraut, daß sie sich verändern können, so wie er an sich selbst auch Veränderungen im Verhalten festgestellt hat. – Aber noch ist er in Utzensdorf, und es scheint, als wären ihm die ersten drei Verse unseres Predigttextes als Zustandsbeschreibung der Gemeinde in der Gegenwartsform gerade recht; das, was danach kommt und im Epheserbrief im Präsens formuliert ist, das müßten die Menschen unter seiner Kanzel erst einmal erreichen! So hat er es in seinen Visitationsbericht geschrieben und zu den Akten legen lassen; wer heute auf den Spuren Gotthelfs durch die Schweiz reist, kann es im Dorfarchiv nachlesen.

Wie so viel Realismus wohl auf die Gemeinde gewirkt haben mag? Nun, von größeren Bußaktionen ist nichts bekannt, auch nicht von einer regeren Beteiligung am kirchlichen Leben, und - Hand aufs Herz! - dazu konnte der Visitationsbericht auch nur schwerlich motivieren! Selbst vorausgesetzt, der Vikar hätte Recht gehabt mit seinem Urteil: Wo soll jemand, der so gründlich niedergemacht und verurteilt worden ist, die Kraft und das Selbstvertrauen herbekommen, sich zu ändern?

Da hat der Zustandsbericht der Gemeinde Ephesus einen ganz anderen Charakter und - so denke ich - eine viel günstigere Wirkung: Er bleibt nicht bei dem stehen, was allzumenschlich ist, was es wohl auch in Ephesus noch gegeben hat, auch in der christlichen Gemeinde noch gegeben hat an „Begierden des Fleisches und dem Willen der Sinne der Kinder des Zorns“. Aber: Der Apostel erklärt diese Dinge für tot! Sie sind Ausdruck des Todes, und dieser Tod - das zeigt die Vergangenheitsform - ist überwunden! Eine merkwürdige Unterscheidung übrigens, das sei ganz nebenher gesagt, denn: Was da als Geist der Kinder des Ungehorsams beschrieben wird, das ist ja eigentlich nur ein anderes Wort für unbändigen, ungestillten und auch unstillbaren Lebenshunger: Die Angst vor dem Tod ist es, die die Menschen dazu antreibt, sich Vorteile zu verschaffen, wo es nur geht, sexuelle Befriedigung zu suchen und die Genüsse dieser Welt auszukosten - die Angst vor dem Tod ist es, die Sucht nach Leben, und die, so sagt es eben unser Predigttext, die gerade ist tödlich. Aber: Davon ist hier nur in der Vergangenheitsform die Rede: Ihr wart tot durch eure Übertretungen und Sünden, in denen ihr früher gelebt habt… unter ihnen haben auch wir alle einst unser Leben geführt… und taten den Willen des Fleisches… und waren Kinder des Zorns…. Aber das ist vorbei, weil auch das andere vorbei ist, weil auch Gott schon gehandelt hat, weil Gott uns mit Christus lebendig gemacht hat, uns mit eingesetzt hat und uns in Christus eingesetzt hat zu guten Werken. Und auch diese guten Werke hat Gott zuvor bereitet, daß wir - also die Epheser und die, die sie beurteilen - darin wandeln.

Dieser „Visitationsbericht“ traut den Christinnen und Christen von Ephesus eine ganze Menge zu: Er traut ihnen zu, daß sie durch ihre Taufe grundlegend verändert wurden, daß ihnen diese Veränderung abgespürt werden kann und daß sie einander das, was sie tun und was sie sind, gönnen, zutrauen und nicht vorrechnen, denn sie wissen: Das, was wir heute sind, diejenigen, die wir sind, die sind wir nicht aus uns und durch eigene fromme Leistung oder frommen Verzicht geworden, die sind und die bleiben wir, weil Gott uns dazu gemacht hat, und das ist kein Grund, sich damit zu brüsten.

Liegt der Apostel richtig? Noch einmal: er traut den Ephesern zu, all das überwunden zu haben, was um sie herum abgeht an Lebenslust und Lebensgier - Ephesus ist eine Hafenstadt: Handel, Kommerz gibt es da und sicher auch ein Rotlichtviertel. Haben die Getauften von heute auf morgen nichts mehr damit zu tun? Ficht sie das alles nicht an? Oder geht es ihnen - einigen von ihnen - nicht vielleicht auch so, daß Anspruch und Wirklichkeit auseinander gehen, daß die Versuchung stärker ist als der feste Wille, nach Gottes Geboten zu leben?

Nun, ich denke, der Verfasser des Epheserbriefes ist Realist genug, um mit den Schwächen derer zu rechnen, die vor ihm sind. Aber er rechnet nicht mit ihnen ab! Er nimmt die Taufe, die sie empfangen haben, ernst! Aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben. So lautet seine Bestandsaufnahme. Was für ein Unterschied zu dem strengen Vikar Bitzius! Freilich: Auch der Epheserbrief kann mit dem Rückfall der Getauften in alte Schwächen nicht glücklich sein, auch keinen Freibrief ausstellen, nun einfach so weiterzumachen. Aber er weiß: Wir sind Gottes Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, daß wir darin wandeln sollen. Das heißt: Es gibt Dinge, die wir einem anderen überlassen müssen, und es ist kein Ruhmesblatt, wenn untereinander Vergleiche über den jeweiligen Lebenswandel und die Fülle der guten oder weniger guten Werke angestellt werden. Anstatt anderen immer wieder vorzurechnen, wo sie versagt haben, könnte eine solche Zustandsbeschreibung, die dem anderen mehr zutraut, als er sich selbst eingestehen würde - und zwar im positiven zutraut! - ein Ansporn sein, den starken Lebenshunger in uns nicht selbst zu stillen, sondern stillen zu lassen, spätestens dann, wenn Gottes Reich anbricht. Vielleicht täte das auch einigen Mitgliedern der deutschen Olympiamannschaft in diesen Tagen ganz gut; auch da gingen ja Anspruch und Wirklichkeit nicht selten weit auseinander.

Eigentlich ist der beinahe 2000 Jahre alte Epheserbrief sehr viel moderner als der Visitationsbericht des jungen Jeremias Gotthelf, der gerade mal 170 Jahre her ist: Er entspricht nämlich den Richtlinien der Personalentwicklung, wie sie heute bei Gemeindebesuchen und im Beurteilungswesen eine Rolle spielen: Anstatt sich bei den Fehlern, Schwächen und Mängeln aufzuhalten, anstatt zu outen, zu verurteilen und zu demotivieren, bemüht sich der Predigttext darum, die Stärken der Leute zu nennen und zu zeigen, wie sich das Gute an einer Situation und an einem Menschen noch weiter verbessern, fördern läßt. Er versucht zu motivieren und erinnert an den Schatz der Gemeinde, den sie nie verlieren wird: an das Geschehen von Golgatha und an das leere Grab: Er hat uns mit Christus lebendig gemacht … und er hat uns mit auferweckt und mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus. Das ist die Stärke der Gemeinde in Ephesus: Daß sie aus Getauften besteht, aus Menschen, die sich der Gnade Gottes gewiß sein können, auch da, wo ihr Leben vom früheren Verhalten umschlossen ist.

Und das ist auch unsere Stärke. Dasselbe Gut, dieselbe Gewißheit haben wir auch. Der Epheserbrief traut uns etwas zu - vielleicht mehr, als wir im Moment draufhaben, aber sicher nicht mehr, als uns tatsächlich erwartet. Lassen wir uns dadurch motivieren! Und freuen wir uns daran, daß Gott uns so viele Möglichkeiten und Stärken gegeben hat. Aus Gnade seid ihr selig geworden durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es. – Wir wollen die Freude über diese Gabe nun auch zum Ausdruck bringen mit dem nächsten Lied (wenn Sie wollen, sogar vierstimmig): „Ich singe dir mit Herz und Mund, Herr, meines Herzens Lust, ich sing und mach auf Erden kund, was mir von dir bewußt.“ Amen. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Lied: 324,1–7: Ich singe dir mit Herz und Mund

Pfarrerin Gerlinde Feine
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