Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

16. Sonntag nach Trinitatis, 26. September 2004
Predigt über
2. Timotheus 1, 7-10, verfaßt von Klaus Steinmetz
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

Wie eine Art Vermächtnis des Apostels liest sich der zweite Timotheusbrief. Vieles in diesem sehr persönlich gehaltenen Brief deutet daraufhin, dass nicht Paulus selbst der Verfasser ist, sondern dass ein Nachfolger unter seinem Namen und damit doch auch in seinem Namen ihn geschrieben hat. Aus diesem Vermächtnis also stammt unser heutiger Predigttext.

Vor allem dessen Anfangssatz finde ich einfach schön: „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Paul Gerhard scheint mit seinem erfrischenden Vers unmittelbar an ihn anzuknüpfen: „Unverzagt und ohne Grauen soll ein Christ, wo er ist, stets sich lassen schauen.“ Gerade weil wir die Furcht so gut kennen – das griechische Wort hat sogar eher noch die Bedeutung „Feigheit“. Jesus redet mit diesem Wort die Jünger an, die mitten im Sturm in ihrem Boot kauern. „Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?“ – also weil wir diese Furcht so gut kennen, die sich nicht traut zu zeigen und zu sagen, wo man steht, wer man ist, gerade auch wenn es um den Glauben geht, gerade deswegen finde ich diesen Satz schön.

In zwei ganz unterschiedlichen Zusammenhängen ist er mir, so erinnere ich mich, begegnet. In einem bebilderten Heft zur Konfirmation war auf der Rückseite ein Radrennfahrer zu sehen, nur als dunkle Silhouette vor einer tiefstehenden Sonne – ein Bild konzentrierter, nach vorne gerichteter Kraft und Anspannung. Und darunter dieser Satz. Und zweitens: Aus einer Vorschlagsliste mit verschiedenen Sprüchen hatten sich Taufeltern eben diesen Satz ausgewählt. Das sollte über dem Leben ihres Kindes stehen, das fanden sie gut Und ich auch. In der Taufe haben wir das Zeichen, dass Gott uns seinen guten Geist schenkt, nicht den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.

Keine Frage, dass wir diesen Geist nötig haben in einer Zeit, in der so viel Mutlosigkeit und Resignation in unserer Kirche zu spüren ist, wenn über ihre Zukunft nachgedacht wird angesichts knapper werdender Finanzen. Lebt denn die Kirche nur von ihren Finanzen? Nötig erscheint solcher Geist aber auch darüber hinaus in einer Gesellschaft, in der so viel Verängstigung um sich greift angesichts von Reformen und Veränderungen.

Nicht den Geist der Furcht hat uns Gott gegeben. Was alle Furcht nehmen kann, steht ganz am Schluss unseres Abschnitts, und damit wird nun in der Tat das Größte und das Entscheidende unseres Glaubens ausgesagt: „Jesus Christus hat dem Tode die macht genommen und Leben und Unvergänglichkeit ans Licht gebracht.“ Wer das glaubt und sich darauf verlässt – und das ist doch eigentlich das einzige, was sich zu glauben lohnt! - wie sollte sich der noch fürchten können? Ich denke an einen Mann, der in einer Aussprache bei einem Konfirmandenelternabend den Satz sagte und vertrat: Wer glaubt, dem kann nichts passieren. Als einige etwas ungläubig reagierten, meinte er: Natürlich weiß ich, dass ich morgen schon krank werden oder verunglücken kann, ja vielleicht sogar ums Leben kommen; und trotzdem: wer glaubt, dem kann nichts passieren. – Ich glaube, so eine Überzeugung ist nur aus einem Geist heraus möglich, der nicht ein Geist der Furcht ist, und vor dem Hintergrund : Jesus Christus hat dem Tode die Macht genommen.

Nicht den Geist der Furcht hat uns Gott gegeben, sondern der Kraft und der Liebe. Wo dieser Geist herrscht, da ist Liebe. Mag der Geist uns zunächst als etwas kaum Greifbares vorkommen, die Liebe ist etwas, was man durchaus auch sehen kann. Daran soll jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, dass ihr Liebe untereinander habt, sagt Jesus. Zeigen, dass wir Christen sind, ist ja gar nicht nur und in erster Linie eine Sache von Worten, womöglich noch großen Worten, hinter denen dann oft nichts steckt und die sich selbst entlarven, wenn die Liebe fehlt. Die Menschen interessieren meist nicht so sehr unsere Worte, sondern wie wir miteinander umgehen.

Nicht den Geist der Furcht, sondern der Besonnenheit. Der Zucht hieß es früher, ein Wort, das uns fremd geworden ist. Über einer Schule, an der ich unterrichtet habe, stand es noch: Wie die Zucht, so die Frucht. Ob „Besonnenheit“ die gemeinte Sache besser umschreibt und zum Ausdruck bringt? Denn diese Sache gilt es festzuhalten, um des Lebens willen, nämlich die Zucht, die Besonnenheit, dass wir nicht alles tun, was wir tun können. Das mag nach Einschränkung, nach Askese klingen. Aber wir merken doch in unserer Zeit, wie wir das neu lernen und begreifen müssen: Im Umgang, ja oft geradezu der Ausnutzung der Natur; in der Produktion von Waffen; in der Manipulation des Menschen durch die Medizin, aber auch durch die Überflutung mit Bildern. Und was da im Großen gilt, sollte das keine Gültigkeit haben für unser persönliches Leben, unsere Einstellungen und unser Verhalten? Der Theologe Helmut Thielicke hat wiederholt gesagt, der Makrokosmos, die Welt der Menschen im Großen, sei nur eine Widerspiegelung des Mikrokosmos, des menschlichen Herzens, wie es darin aussehe. Ich glaube, er hat recht. Meinen wir im Ernst, die Welt in Ordnung halten zu können, ohne dass Besonnenheit und in diesem Sinn eben Ordnung in unserem Herzen besteht?

Ich halte hier inne. Bislang habe ich, vor allem über den ersten Satz unseres Abschnitts, eher im allgemeinen nachgedacht. Der Apostel allerdings wendet ihn in einer ganz bestimmten und konkreten Richtung an. Er bittet Timotheus, nicht wegzusehen, gleichsam abzutauchen in falscher, feiger Scham, weil er ihn, den Apostel leiden sieht um des Evangeliums willen. Der Apostel schreibt das aus dem Gefängnis. Und er sieht das Verhalten ihm selbst gegenüber vor einem noch viel weiter reichenden Hintergrund. Er selbst steht ja für seinen Herrn, den Herrn Jesus Christus ein. Deswegen sagt er Timotheus: Schäme dich nicht, dass unser Herr gelitten hat. Weil da kein Erfolg, kein Glanz zu sehen ist, sondern Leiden, bis hin zum Kreuz, schämt man sich. Der Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit zeigt sich darin, dass er den Leidenden nicht verachtet, nicht verleugnet. In denen, die um des Evangeliums willen leiden, geht der Leidensweg des Herrn weiter.

Das gilt bis heute. Vielleicht nicht so sehr bei uns, auf jeden Fall aber in der Weite der Welt. Es hat noch nie so viele christliche Märtyrer gegeben wie in unserer Zeit. Woran liegt es, dass wir so wenig darüber erfahren, wo es doch noch nie so umfassende Informationsmöglichkeiten gegeben hat wie heute? Da fällt uns nach einigem Nachdenken vielleicht gerade noch ein, dass es Übergriffe auf Christen in Indien oder in Indonesien gegeben hat. Hängt diese Informationslücke vielleicht mit einer untergründigen Scheu davor zusammen, wir könnten dadurch daran erinnert werden, wo auch unser Platz sein könnte, wenn wir zu Recht Nachfolger Jesu heißen sollen?

Timotheus soll sich nicht irritieren lassen durch das Leiden des Apostels. Vielleicht liegt für uns heute der Punkt des Anstoßes an anderer Stelle – und führt doch zum selben Ergebnis, dass nämlich Menschen sich abwenden vom Glauben, von der Kirche. Ich beziehe mich dabei auf ein aufschlussreiches Ergebnis, das Untersuchungen über das Zugehörigkeitsgefühl und Zugehörigkeitsverhalten zur Kirche erbracht haben. Da zeigte sich, wie entscheidend die Erfahrungen waren, die die Menschen mit den hauptsächlichen Vertretern der Kirche, den Pastoren gemacht haben, vor allem in ihrer Jugend. Waren diese Erfahrungen gut, dann war meist auch ihr Verhältnis zum Glauben, zur Kirche intakt. Das Umgekehrte galt aber ebenso sehr.

Ich weiß aus manchen Gesprächen mit Leuten, die der Kirche distanziert oder ablehnend gegenüberstanden, dass dabei Erfahrungen mit der Unzulänglichkeit von Pastoren ausschlaggebend gewesen waren. Man kann wenig gegen solche Erfahrungen sagen; sie werden ja stimmen. Und es stimmt ja auch: Je mehr einer die Kirche kennenlernt, desto mehr sieht er auch, wie menschlich, allzu menschlich es oft in ihr zugeht. Wir können nicht behaupten, und unser Glaube kann nie darauf beruhen, dass wir, die wir glauben, es wenigstens versuchen, oder den Glauben sogar verkündigen, bessere oder vorbildliche Menschen seien. Wir müssen es immer wieder neu erkennen und begreifen: Gott beruft uns nicht auf Grund unserer Verdienste und Leistungen, nicht nach unseren Werken, wie der Apostel hier sagt, sondern allein aus seiner Gnade und Güte.

Dass er uns Unzulänglichen mit all unseren Fehlern und Schwächen, aber auch mit unseren Gaben dann trotzdem zu etwas gebrauchen will und das auch tut, das ist wunderbar, ein Wunder. Das gilt für uns, die wir den Auftrag zum Predigen haben, genauso wie für jeden „normalen“ Christen. Der kann in seinem Alltag und Umfeld durch ein gutes Wort, eine hilfreiche Tat der Liebe die Sache Gottes bei den Menschen vertreten und bezeugen. Das ist genauso wichtig wie das Predigen.

Ich komme zum Schluss noch einmal auf den Anfang zurück. „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Ein schöner Satz ist das. Dabei bleibe ich. Und trotzdem: Wird dieser Satz nicht unter der Hand zu einer unerreichbaren Forderung, wie es sein sollte, wie es aber nicht ist bei uns? Und – stimmt das überhaupt, wie der Apostel es sagt: Gott hat diesen Geist gegeben? Ist denn das so sicher?

In der Tat: Ein Besitz ist dieser Geist nicht. Wir verfügen nicht über ihn; wenn, dann verfügt er über uns. Darum können wir auch nur um ihn bitten, immer wieder, immer neu. Aber diese Bitte geschieht in dem Vertrauen, dass Gott ihn wirklich gibt, über Bitten und Verstehen hinaus, um Jesu Christi willen. Und so soll denn am Ende dieser Schöne Satz stehen als ebenso schöne wie nötige Bitte: Gott, gib uns nicht den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Amen

Klaus Steinmetz, Sup. i. R.
Hainholzweg 8
37085 Göttingen
kjsteinmetz@t-online.de


(zurück zum Seitenanfang)