Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

17. Sonntag nach Trinitatis, 3. Oktober 2004
Predigt über Römer 10, 9-17, verfaßt von Ralf Hoburg
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

I.
Hören und Überhören

Der Lebensalltag ist voller bewegter Bilder, Töne und Musik. Dutzende Fernsehprogramme und Radiosender machen das Leben immer lauter. In öffentlichen Verkehrsmitteln und Tankstellen lenken große Bildschirme die Konzentration auf sich und beim Einkaufen sollen musikalische Klänge den Konsum beflügeln. Wer aber weiß wirklich heute noch, was er gestern gesehen, gehört und zwischendurch auf den Werbeplakaten oder in der Zeitung gelesen hat? Das meiste gerät in Vergessenheit. Die jugendliche Sprachkultur hat dafür das Wort vom „zutexten“ gefunden und drückt damit aus, dass ein zuviel an Sprache und Information nur die innere Weigerung des Zuhörens bewirkt. In der Fülle des täglichen Informationsmülls bleibt eigentlich nur weniges in Erinnerung, was sich dem Gedächtnis tief einprägt und wirklich einen bleibenden Eindruck hinterläßt: die Ermordung Kennedys, der berühmte Kniefall Willy Brandts, die Bilder vom Fall der Mauer und die einstürzenden Türme in New York am 11. September 2001. Und bei allen Bildern sind mir immer auch die Stimmen der Kommentatoren im Ohr, die das Unbegreifliche in Worte und Sprache zu fassen versuchten. Bilder ohne Worte sind schnell missverständlich, und nur wer hört und sieht, kann wohl auch verstehen. Bei der großen Lautstärke um uns herum und inmitten aller Informationsgesellschaft kann man dabei schon mal wichtiges überhören und übersehen, das nämlich, was für einen selber entscheidend und wichtig ist: Worte, die dem Leben Sinn geben! Es gibt sie dennoch und das sind für mich dann säkulare Predigten wie etwa in Filmen, in denen Geschichten vom Leben erzählt werden, die mich angehen. Es sind Lebensgeschichten, in denen Menschen aufeinander hören und sich auf das Wesentliche konzentrieren. Eine solche Geschichte erzählt der aktuelle italienische Film „Casomai“, der von einer ungewöhnlichen Hochzeit in einer Dorfkirche erzählt, die am Ende eine ungewohnte Wendung nimmt, weil wir als Zuschauer zum Hören des Ungesagten gezwungen werden.

Inmitten der Medien- und Bilderflut von heute, der Überhäufung von Sinneseindrücken und der musikalischen Reizüberflutung entdecke ich darum für mich selbst seit wenigen Jahren wieder die Faszination des Hörens. Statt mir beim Autofahren die ewig gleichen Lieder in ununterscheidbaren Radioprogrammen anhören zu müssen, liebe ich inzwischen die Welt der Hörcassetten. Die Konzentration auf das gesprochene Wort lässt mich auf ganz andere Weise in die erzählte Geschichte eintauchen. Ich werde verwickelt in die Abenteuer, Reflexionen und Gedanken der Geschichtenerzähler und setze mich mit dem Erzählten intensiver auseinander. Aus dem Hören folgt unmittelbar die innere und emotionale Beteiligung an der Geschichte!

II.
Worte wirken – wirken Worte immer und überall?

Der Predigttext aus dem Römerbrief, der für den 17. Sonntag nach Trinitatis in diesem Jahr vorgesehen ist, bietet für mich eine solche Hörgeschichte oder besser: er bietet die theologische Grundlegung dafür, dass wir die biblischen Geschichten als Hörgeschichten auffassen können, um unser Leben besser einordnen und verstehen zu können. Und es ist für mich ein gelungener Zufall, dass dieser Kerntext des protestantischen Glaubensverständnisses aus dem Kontext von Röm 9-11 in diesem Jahr mit dem 3. Oktober, also der symbolischen Erinnerung an die politische Wende in der DDR im Herbst 1989 zusammenfällt. Damals waren es die mutigen Taten des Protestes, die eine Folge und praktische Umsetzung der Worte und Predigten der Montagsgebete in den Kirchen in Leipzig und anderswo waren. Damals gewann die Predigt ihre politische Dimension wieder, die sie in den etablierten westdeutschen Kirchen mit den 80er Jahren verloren hatte. Die Predigten hatten Folgen – die Worte der Verkündigung blieben nicht ungehört, sondern fanden in den Herzen und Gedanken der Menschen ihr Ziel. Die Verkündigung der Kirche bündelte ausgehend von biblischen Texten die Gedanken und Gefühle und deutete stellvertretend für die Menschen das aktuelle Zeitgeschehen. Die Worte der Predigten übernahmen eine Orientierungsfunktion. Der Theologe Friedrich Schorlemmer stellte bezeichnenderweise einen Aufsatzband über diese Zeit unter den Titel: „Worte öffnen Fäuste“ und vielleicht hat in irgendeiner Predigt dieser Text aus Röm 10,9-17 damals eine Rolle gespielt?

Einer der Sätze aus dem Römerbrief, die wohl innerhalb der protestantischen Theologie eine eminente Wirkungsgeschichte gehabt haben, steht zum Schluß dieser Perikope in Kapitel 10: „So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber aus dem Wort Christi.“ (Röm 10,17) Auf diesem Satz baut sich letzten Endes die evangelische Glaubensauffassung seit der Reformation auf, die mit dem zweiten Kernsatz paulinischer Theologie aus Röm 10,4 zusammen gesehen werden muss: „Christus ist des Gesetzes Ende; wer an den glaubt, der ist gerecht.“ Aber aus der Sicht der gegenwärtigen Kirchenkrisen zwischen Mitgliederschwund und inhaltlichen Profilneurosen sollte der indirekte Automatismus von Predigt und Glaube, wie er für Paulus relevant ist, durchaus einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Läßt sich dies aus der heutigen Gemeindewirklichkeit noch ableiten, was seit den Tagen der Reformation als Selbstverständlichkeit gilt: der Glaube kommt aus der Predigt? Und ebenso selbstverständlich behaupten wir in der evangelischen Theologie, dass der Gottesdienst und die Predigt in ihm die Mitte aller Gemeinde bildet. Beide Felder aber – der Glaube und die Gemeinde – haben sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Der Text lädt also dazu ein, eine moderne Verhältnisbestimmung von Glaube und Predigt vorzunehmen, denn heute gilt durchaus der Umkehrschluß: Der Glaube kommt immer weniger aus der Predigt und die Predigt bestätigt eher den bestehenden Glauben einer immer kleiner werdenden Kerngemeinde. Das Faktum gegenwärtiger Gemeinderealität führt mich zu kritischen Fragen an den Bibeltext: Wirken die Worte immer und überall? Ist die Predigt immer auf den Ort des Gottesdienstes und der Kirche konzentriert oder gibt es auch säkulare Orte und Gelegenheiten, an denen ganz unkirchlich und dennoch religiös von dem die Rede ist, was der Apostel Paulus meint? Das hilft dazu, die Möglichkeiten und Grenzen des Zusammenspieles von „Glaube“ – „Hören“ – und „Predigt“ vor dem Hintergrund pluralistischer Religionsauffassungen realistischer zu sehen.

III.
Das Hören als Wesen des Glaubens?

Jenseits des paulinischen Kontextes einer Christusverkündigung gegenüber der jüdischen Gemeinde, wie sie den exegetischen Hintergrund in Röm 9-11 bildet, laden folgende Erwägungen des Apostels zu einer zeitgebundenen Aktualisierung ein. Paulus argumentiert im Stil der hellenistischen Rhetorik mit einer Fragenkette, die er einem hypothetischen Gegenüber – den Juden seiner Zeit – stellt:

„Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie aber hören ohne Prediger? Wie sollen sie aber predigen, wenn sie nicht gesandt werden.“ (Röm 10, 14-15)

Unabhängig aller Diskussionen des jüdisch-christlichen Dialoges lese ich diese Zeilen aus dem Römerbrief mitten in einer Zeit schwerwiegender finanzieller und struktureller kirchlicher Entscheidungen unter einem doppelten Focus: Einerseits dem Abbau von Gemeinde und andererseits einer diffusen Religiosität inmitten individualistischer Lebensauffassung. Es steht außer Zweifel, dass der „Nicht-Glaube“ inzwischen zu einer gesellschaftlichen Normalität geworden ist. So fragt etwa der katholische Pfarrer in dem italienischen Film „Casomai“ die jungen Brautleute, die offensichtlich typische „Kasualchristen“ mit dem Sinn für eine ästhetisch schöne Hochzeitsfeier sind, ob sie denn glauben und die Antwort fällt ebenso verlegen wie typisch aus: „Ach wissen Sie, bei unserem hektischen Alltag…“ Wie also – so kann ich mit Paulus fragen – sollen sie den anrufen, an den sie nicht glauben? Aus der Innensicht der Kirche und vom Standpunkt des eigenen Glaubens aus betrachtet, empfinden wir als Pfarrerinnen und Pfarrer oder als gläubige Gemeindeglieder immer neu die Faktizität des „Nicht-Glaubens“ vieler Menschen als Provokation. Ganz selbstverständlich sind wir innerhalb der Kirche der Überzeugung, dass es wichtig ist, andere Menschen vom Glauben zu überzeugen, weil wir selber diesem Glauben eine Überzeugungskraft und vor allem auch Lebenskraft zutrauen. Wir akzeptieren nicht, dass es in unserer Zeit und Gesellschaft Menschen gibt, die nicht glauben wollen – oder zumindest nicht an einen christlichen Gott glauben wollen. Wir überhören den Wunsch der einen, die nicht an Gott glauben wollen, oder aber sich mit ihrer diffusen Religiosität begnügen, und wir „überhören“ vermutlich auch diejenigen, die glauben wollen, aber bisher noch gar nicht die Möglichkeit gefunden haben, von Gott zu hören. Von heute aus gesehen hat der Automatismus, den Paulus logisch konstruiert, seine Funktionsfähigkeit eingebüßt. Denn der Satz: der Glaube kommt aus der Predigt setzt immer voraus, dass alle, die glauben wollen, der Predigt der Kirche auch teilhaftig werden oder die Möglichkeit haben, eine Predigt zu hören. Nun ist der kirchliche Einsatz um die Predigt immens und es fehlt nicht an Gelegenheiten, um eine Predigt hören zu können: jeden Sonntag findet in allen Gemeinden ein Gottesdienst statt, in dessen Mitte die Predigt steht – Verkündigung und Predigt begegnet in unterschiedlichen Formen im Fernsehen, im Radio, im Internet, per SMS auf dem Handy und findet inzwischen auch auf großflächigen Werbeplakaten statt. Und dennoch hören die Predigt der Kirche immer wieder nur eine geringe Anzahl von Menschen. Im Sinne des Apostel Paulus müsste das Hören der Botschaft doch Glauben wirken! Und wenn nicht, so fragt Paulus: „Haben sie es nicht gehört?“ (V. 18) und „Hat Israel nicht verstanden?“ (V. 19) Offensichtlich funktioniert der postulierte Automatismus von „verkündigen“, „hören“ und „glauben“ nicht mehr unter den Bedingungen moderner Lebensauffassung. Eine dritte Erschwernis kommt gegenwärtig hinzu: Die Schließung von Gemeinden und der Abbau der Pfarrstellen machen die Verkündigung heute immer schwerer und so wird die rhetorische Frage des Paulus zu einem Kernproblem gegenwärtiger Verkündigung: Wie sollen sie aber hören ohne Prediger?“ Was ist dann aber der Glaube und welche Möglichkeit hat heute noch die Predigt? Es gilt, die leisen Töne paulinischer Theologie zu hören und dabei das Angebot nicht zu überhören, das der Text dem Leser von heute macht.

4.
Glauben heißt Leben deuten

Für den Apostel Paulus hängt am Glauben das Heil. Der Glaube gründet sich auf eine Grundtatsache, die jenseits eigener menschlicher Leistung liegt. In Röm 10,4 heißt es: Wer an Jesus Christus glaubt, der ist gerecht. Der innere Zusammenhang von Rechtfertigung und Glaube war es dann auch, der den Mönch Martin Luther in seinem persönlichen Bibelstudium aufmerken ließ und der zu der Grunderkenntnis der reformatorischen Theologie führte. Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang die Stelle aus Röm 1,17: „ Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht: ‚Der Gerechte wird aus Glauben leben.’“ Jesus Christus ist der Grund des Glaubens und gleichzeitig der Motor aller Verkündigung und Predigt. So ist für Paulus der Glaube ein Bekenntnis zu Jesus Christus und die Annahme dessen, was dieser stellvertretend für den Menschen mit seinem Tod am Kreuz erwirkt hat. Indem der Mensch das Wort von Christus, d.h. die Botschaft von seinem stellvertretenden Kreuzestod hört, erfasst es sein Gemüt und Herz und wird zu einem Lebenswort, indem er das Geschehene auf sich bezieht. Wie in der Abendmahlsliturgie die Erkenntnis im Mittelpunkt steht, dass Christi Blut für mich vergossen wurde, so meint Paulus, dass derjenige, der dieses Wort Christi hört von Herzen glaubt. Der Glaube ist also im wahrsten Sinne des Wortes eine „Hörgeschichte“, weil er sich auf Erfahrungen gründet, die jenseits der eigenen Lebenswelt liegen und dennoch werde ich schon beim bloßen Hören in die Geschichte verstrickt. Aber diese Hörgeschichte schlägt die leisen Töne an, weil sie dem Menschen zumutet, in aller Deutlichkeit einmal sich selbst zum Thema zu machen. Aus diesem Grund legt Paulus so großen Wert auf die Feststellung, dass man von „Herzen“ glaubt und mit dem Mund bekennt (V. 10). Mit moderner Sprache ausgedrückt kann man sagen, dass die Konzentration auf das Hören eine bestimmte Form der Selbstwahrnehmung in Gang setzt. Wo dieser Zusammenhang von Menschsein und eigener Erlösung hergestellt wird, da ist meiner Meinung nach heute unabhängig vom Ort und Geschehen des Sonntagsgottesdienstes Verkündigung und Predigt. Der christliche Glaube thematisiert die Grunderkenntnis, dass ich als Mensch mir mein Heil nicht selbst als Leistung erschaffen kann, sondern angewiesen bleibe auf die Gnade Gottes, die durch den Erlöser Jesus Christus erwirkt wurde. Von dieser Erkenntnis her erschließt sich mir als Glaubenden das eigene Leben. Und so liegt die Bedeutung der Predigt in der Vermittlung einer spezifischen Welt- und Lebensdeutung im Horizont der Erlösung.

Diese Lebensdeutung kann sich dem Menschen indes auch unabhängig und jenseits des kirchlichen Ortes eines Gottesdienstes aufdrängen. Es ist wohl wahr: Der Glaube kommt aus dem Hören, weil mir das Gehörte einen perspektivischen Lebenssinn erschließt. Aber dass das Hören exklusiv an die Predigt gebunden ist, will mir aus heutigem Verständnis pluraler Lebenswelten nicht mehr unbedingt einleuchten, es sei denn, mit Predigt sei über die konventionelle Form kirchlicher Sonntagsrede hinaus im weitesten Sinne ein kommunikatives und ästhetisches Ereignis gemeint, das die Möglichkeit eröffnet, den Glauben als eine Form der Deutungs- und Erlösungsbedürftigkeit des eigenen Lebens zu verstehen. So gesehen kann auch ein literarisches Buch, ein Kinofilm, ein Kunstwerk mir zur Predigt werden, indem es die Frage nach Erlösung und Heil stellt.

Wenn die Verkündigung zum Kommunikationsraum über die Lebens- und Weltdeutung wird, dann kommt hoffentlich auch das, was Paulus als Gegenargumente gegen allerlei Einwände formulierte, zum Zuge: „Ich ließ mich finden von denen, die mich nicht suchten, und erschien denen, die nicht nach mir fragten.“ (Röm 10, 20) Mir macht dieses Zitat aus aus Jes. 65,1, das Paulus hier aus der hebräischen Bibel anführt, unmissverständlich klar, wie relativ alle Bemühungen sind und wie vermessen unser kirchlicher Anspruch ist, allein durch die Predigt den Glauben erwirken zu wollen. Vielleicht täte gerade in angefochtener Zeit aller kirchlichen Selbstrücknahme die Erkenntnis gut: Predigt ist überall da, von der Mensch von der Erlösungsbedürftigkeit des Lebens hört und der Glaube ist dort, wo die eigene Lebensdeutung mit dem Kreuzestod Jesu Christi verbunden wird. In dieser Form kann ich auch gegenwärtig den Satz des Paulus mittragen: „So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber aus dem Wort Christi“. Denn dann kommt es für uns theologisch darauf an, die Menschen an den unterschiedlichsten Orten der Gegenwart dafür sensibel dafür zu machen, dass sie inmitten aller lauten Töne und Bilder die biblischen Texte als eine „Hörgeschichte“ wahrnehmbarer zu machen und dafür zu sorgen, dass sie einen bleibenden Eindruck hinterlässt.

Prof. Dr. Ralf Hoburg
Evangelische Fachhochschule Hannover
Blumhardtstr. 2
30625 Hannover
Tel.: 0171-8373196
RalfHoburg@aol.com

 


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