Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

20. Sonntag nach Trinitatis, 24. Oktober 2004
Predigt über
Matthäus 21, 28-44, verfaßt von Poul Henning Bartholin
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In den Jahren 1524 und 1525 erschienen zwei sehr wichtige Schriften von Erasmus von Rotterdam und Martin Luther. Beide handelten vom freien Willen des Menschen.

Erasmus, der größte Humanist seiner Zeit, d.h. Sprachwissenschaftler, Rhetoriker und Ethiker, veröffentlichte zuerst eine Schrift, in der er kurz gesagt Stellung zu einer ungelösten Frage in der christlichen Theologie Stellung bezog, nämlich der Frage, ob der Mensch einen freien Willen habe.

Die Frage ist nicht, ob ich die Freiheit habe, zwischen zwei verschiedenen Dingen im Alltag zu wählen, sondern ob ich meinen Weg im Leben selbst wählen kann, wenn ich das Evangelium gehört habe. Kann ich, wenn ich das Evangelium gehört habe, einen bestimmten moralischen oder ethischen Weg wählen, der zum Heil führt? Mit anderen Worten: Es geht darum, wie viel oder wie wenig mein Wille für mein Heil bedeutet.

Der Humanist Erasmus befand sich in Übereinstimmung mit einem Großteil der theologischen und kirchlichen Tradition, als er behauptete, der Wille spiele eine Rolle für das ethische und moralische Leben, das aus der Verkündigung des Evangeliums folgt, und daß der Mensch nicht nur in seinem Leben sein Gewissen hat, auf das er vertrauen und auf das er sich verlassen kann, sondern auch die Anleitung und Tradition, die die Kirche gegeben hat und noch immer geben kann. Für Erasmus hatte der Mensch auf dem Weg zum Heil etliche Hilfsmittel, auf die er sich stützen konnte.

Die Schrift des Erasmus erschien, nachdem Martin Luther in seinen reformatorischen Schriften immer wieder behauptet hatte, daß der Mensch keinen freien Willen habe, der am Heil mitwirken kann. In anderen Zusammenhängen hat der Mensch einen solchen Willen, nicht aber in bezug auf das Heil.

Ende 1525 veröffentlichte Luther eine Schrift, die er später als die einzige Schrift neben dem kleinen Katechismus bezeichnete, auf die er stolz war. Die Schrift hieß "Vom unfreien Willen". Hier sagt Luther vom Heil, daß man das hervorheben muß, in dem er selbst in seinem Kampf mit sich selbst im Kloster zu Erfurt Ruhe gefunden hatte, daß es der Glaube allein ist, der erlöst, nicht die Werke des Gesetzes oder etwas anderes.

Für Luther bedeutete das, daß sich der Mensch dem Heil nicht aktiv nähern kann. Das war seine eigene Erfahrung, daß weder Gebete, Bußübungen oder sonst etwas einem Menschen den Frieden mit Gott bringen können. Nein, der Friede und die Ruhe und die Geborgenheit kommt erst durch die Erkenntnis, daß alles von der Gnade Gottes abhängt. Gott schenkt uns den Glauben, weil Gott glaubwürdig ist. Gott schenkt uns das Vertrauen, weil Gott vertrauenswürdig ist usw. Der Mensch hat keinen freien Willen, sich dem Heil zu nähern oder die Erlangung des Heils zu befördern, sagt Luther, alles hängt von der Gnade Gottes ab.

Ist es dann nicht gleichgültig, wie wir leben, könnte man fragen. Und dies war denn auch populär gesprochen der Einwand des Erasmus gegen Luther. Aber so einfach ist das nicht. Die Auffassung Luthers führt nicht automatisch zur Auflösung jeder sittlichen oder moralischen Frage. Denn die Gnade Gottes macht uns für einander verantwortlich. Die Gnade Gottes ist die Voraussetzung dafür, daß wir uns einander annehmen können und sollen, einander respektieren und einer des anderen Last tragen sollen und können. Man kann in vielfältiger Weise formulieren, daß wir im täglichen leben aufeinander angewiesen sind und daß sich unser Gottesverhältnis im Leben zusammen mit unserem Nächsten und unseren Mitmenschen ausdrückt.

Es ist also nicht gleichgültig, wie wir leben. Wir leben nicht, um etwas zu erreichen, z.B. das Heil, sondern wir leben, um uns dessen anzunehmen, was uns anvertraut ist, und die Gnade Gottes haben wir als Voraussetzung dafür, daß wir das Leben annehmen und in der bestmöglichen Weise leben können.

Dieser Gegensatz zwischen Luther und Erasmus hatte und hat für die christliche Kirche seit dem 16. Jahrhundert eine große Bedeutung. Man kann nicht sagen, daß sich die Auffassung Luthers in den lutherischen Kirchen und Ländern total durchgesetzt hätte oder daß die Auffassung von Erasmus sich in den katholischen Ländern durchgesetzt hätte. Denn es ist ja eine ernste Frage, ob nicht die Gedanken Luthers allzu kompliziert sind, als daß sie von der großen Mehrheit verstanden werden könnten. Warum sollen wir denn unseren Nächsten anständig behandeln, wenn das nichts bedeutet? Oder können wir damit etwas erreichen?

Mit dem Willen haben wir jeden Tag zu tun. Wir müssen unseren Willen mobilisieren für vieles im Alltag, und wir erwähnen ihn in unserem täglichen Gebet, wenn wir sagen: Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Woran denken wir, wenn wir dieses Gebet sprechen? Was bedeutet das eigentlich? Was ist das für ein Gott, den wir uns hinter diesem Willen vorstellen? Ist das ein großer und starker und sehr strenger Gott? Oder ein handelnder, umtriebiger und dynamischer Gott? Oder ist er ein schwächerer aber dennoch souveräner Gott, der seinen Willen mehr indirekt durchsetzt?

Einige dieser Fragen werden uns in den beiden Gleichnissen beantwortet, die wir heute gehört haben. Es sind nicht nur Bilder, die uns helfen können, einige der vielen Fragen zu beantworten, die wir eben gestellt haben. Es sind in erster Linie Bilder dafür, mit welcher Vollmacht Jesus eigentlich spricht.

Matthäus berichtet nämlich, daß Jesus nach dem Einzug in Jerusalem in einige heftige Diskussionen mit den Schriftgelehrten geriet, bei denen sie ihn direkt fragten, welche Vollmacht oder Autorität er eigentlich habe für sein Reden und Auslegen der Schrift. Denn er war ja kein Schriftgelehrter nach den Vorschriften. Er hatte sich alles selber beigebracht, kann man mit der Autorität eines solchen Autodidakten rechnen?

Seine Antwort waren diese beiden Gleichnisse von den beiden Söhnen, die dem Willen ihres Vaters nicht folgten, und das Gleichnis von den bösen Weingärtnern, die alle Boten ihres Herrn töteten, ja sogar seinen eigenen Sohn.

Versuchen wir nun, die beiden Gleichnisse neu zu hören im Lichte dessen, daß Jesus also provoziert und gefragt wurde, mit welcher Vollmacht er eigentlich spricht, und im Lichte dessen, daß sich der Mensch die Gnade Gottes und das Heil nicht verdienen kann, sondern sie allein empfangen muß und danach das Geschenk verwalten muß. Ich denke, daß sich diese Gleichnisse dann etwas mehr für uns öffnen.

Wir haben eben gefragt, was der Wille Gottes ist. Der Wille Gottes ist es, uns auf die Arbeit für unseren Nächsten im Weinberg des Herrn zu verweisen. Oder anders gesagt: Das ist der Sinn unseres Lebens, daß wir es hier leben sollen, wo wir sind. Der Sinn ist nicht, daß wir danach streben, es eigentlicher woanders nach diesem leben zu leben, sondern hier. Hier ruft uns das Leben. Hier sind die Aufgaben, die auf uns warten, daß wir sie in Angriff nehmen.

Manchmal handeln wir wie die beiden Brüder. Wir sagen erst nein, tun dann aber, was wir sollen. Oder wir sagen entgegenkommend ja, kommen aber nie dazu, das zu tun, was wir schuldig sind.

Es kann sich ja z.B. darum handeln, daß das Leben verlangt, daß wir es als Geschenk Gottes sehen. Dazu sagen wir nein, weil so vieles andere in eine andere Richtung weist.

Man muß zugeben, wenn man auf die Geschichte der Kirche sieht und manchmal auch darauf, wie es der Kirche heute in der Welt ergeht, kann es manchem schwer fallen, das Leben als Gabe Gottes zu sehen. Es ist ja durchaus möglich, sein Leben ohne den Gedanken an Gott zu leben. Ist damit nicht auch bewiesen, daß es ihn nicht gibt, das er irgendein Gehirngespinst ist?

Nein, keineswegs. Denn man kann nun einmal Gottes Existenz weder beweisen noch widerlegen. Man kann gut die skeptische Einstellung mit dem Sohn vergleichen, der zur Arbeit im Weinberg nein sagt und dennoch hingeht, nachdem er bereut hat. Er bekennt nicht seinen Glauben und sein Vertrauen zum Vater. Er leugnet es, aber er lebt es in der Praxis.

Was ihn dazu trieb, wissen wir nicht. Man kann vielleicht vermuten, daß ihn das Gewissen dazu getrieben hat. Konnte er anders, wo nun der Vater einen Weinberg hatte, an dem zu arbeiten war, konnte er nur die Hände in den Schoß legen? Direkter gesagt: Wenn Gott uns ein Leben gegeben hat, das unsere Nähe, Fürsorge und Liebe fordert, können wir das einfach ausschlagen? Können wir dann nur aus dem Triebe leben, für uns selbst zu sorgen? Nein, oft tun wir ja eben dies: Wir leben wie Verwalter, tun, was wir sollen, und tun dies, ohne damit etwas erreichen zu wollen. Damit über wir Nächstenliebe, oft ohne es zu wissen. Und wissen nicht, daß wir damit eben die Aufgaben und Forderungen auf uns nehmen, die wir in einer religiösen Sprache den Willen Gottes nennen können.

Und umgekehrt der andere Sohn, der bereitwillig ja sagt. Er übt Gehorsam, in der Praxis aber lebt er nur für sich selbst. Das könnte ja ein Bild sein für den, der den Glauben nach außen hin sehr ernst nimmt, der aber den Anforderungen des Lebens und seinen eigenen Idealen nicht gerecht wird.

Wer von den beiden sind wir? Wir sind beide! Wir pendeln zwischen dem Tun dessen, was für den Nächsten zu tun ist, und dem Tun dessen, was wir selbst wollen und sonst nichts. Und wenn wir dabei etwas heucheln und betrügen müssen, so sind wir auch dazu bereit.

Deshalb folgt nun ein anderes Bild oder Gleichnis, das auch ein Bild für die Heilsgeschichte ist. Denn der Mensch hat ja keinen freien Willen, sich selbst zu erlösen. Das haben wir gerade gesehen. Wir leben das gespaltene Leben und sind einmal der eine und dann wieder der andere Bruder, der Jasager und der Neinsager.

Das zweite Gleichnis erzählt in einem kurzen Bild von der Geschichte der Welt und des Menschen. Uns ist ein Leben geschenkt, das Gott geschaffen hat, er gab uns einen Weinberg, wo wir leben sollen, er baute eine Kelter, gab uns eine tägliche Aufgabe und errichte einen Zaum darum. Waren wir beschützt durch seine Gnade? Merkten wir, daß er wohl gar nicht da war, daß er kein Gott war, der dasitzt und uns bewacht und kontrolliert, sondern der uns die Freiheit und Verantwortung für einander gibt? Er überläßt uns nicht uns selber. Denn er verlangt das Seine, er verlangt: So, wie er uns geliebt hat, so sollen wir einander lieben. Das tun wir nicht immer. Wir bringen vielmehr einander um oder zerstören das Leben der anderen.

Deshalb sandte Gott seinen eigenen Sohn zu uns, damit er uns die Freiheit und die Verantwortung geben sollte, die wir uns aus eigenem freien Entschluß nicht verschaffen können.

Wie der Erbe im Gleichnis wurde er getötet, an ein Kreuz gehängt. Er wurde der Eckstein, den die Bauherren verwarfen. Die Baumeister nämlich, das sind du und ich, wenn wir sagen, daß wir dieses Leben selbst in die Hand nehmen können. Und wenn wir sagen, daß wir wahrlich keine Religion oder keinen Glauben brauchen.

Aber er ist der Eckstein, wenn der fällt, bricht alles zusammen. Er trägt unser Leben. Was dein Leben trägt, das ist nämlich nicht das, was du selbst kannst, willst und glaubst. Was trägt, das ist, daß du davon ausgeht, daß dir alles umsonst geschenkt ist. Alles, was vor die da war. Was ist das? Ja, die Liebe, in die und durch die du erzogen bist. Das Glück, das darin besteht, daß dir das Leben geschenkt ist, das du lebst. Du meinst vielleicht, daß du dir das selbst verdankst. Sicher ist, daß du gewiß viele deiner Chancen gut wahrnimmst, aber du hast die Voraussetzungen für deine Chancen und Möglichkeiten nicht selber geschaffen.

Du kannst etwas mit den Möglichkeiten anfangen, die du bekamst und bekommst, aber die Bedingungen deines Lebens, die sind die geschenkt und gegeben. Und deine Aufgabe besteht darin, hier in die Kirche zu kommen und dir sagen zu lassen, was du mit dem von Gott gesegneten und geschenkten Leben anfangen sollst. Du sollst hinausgehen in den Weinberg, deinen Alltag, dort deine Arbeit tun, mit deinem Nächsten leben und Gott die Ernte geben, die er fordert, nämlich daß du deinen Nächsten liebst wie dich selbst. Er fordert, daß du dies tust, indem du die Lasten in seinem bzw. ihrem Leben trägst, die schwer und untragbar sind.

Ja, daß du überhaupt nicht daran denkst, wie die Weingärtner im Gleichnis, was man dadurch erreichen kann, daß man das Leben des anderen zerstört. Du wirst erfahren: Was du selbst gegeben hast, ohne es zu wissen, das erhältst du zurück als Segen, was du aber gabst, um etwas zu erreichen, das kehrt zurück als ein Fluch.

Im Gleichnis nahmen sie dem Erben das Leben, um selbst das Reich und die Macht und die Herrlichkeit zu erlangen. Das sollst du nicht tun. Du sollst einsehen, daß dir dies geschenkt wird und daß Christus gekommen ist, dir zu schenken, was du in keiner Weise, weder durch den freien Willen noch durch eigene Hilfe anders erlangen kannst: Das Heil, das dich aus Sünde und Tod errettet. Dieser Eckstein ist Christus und niemand sonst. Amen.

Propst Poul Henning Bartholin
Selskovvej 42
DK-3400 Hillerød
Tel.: ++ 45 - 48 24 90 50
e.mail: phb@km.dk


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