Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

20. Sonntag nach Trinitatis, 24. Oktober 2004
Predigt über
1. Thessalonicher 4, 1-8, verfaßt von Ulrich Braun
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Von Liebe, Lust und Leidenschaft
oder: Heiligung und gefährdete Freiheit

Predigttext: 1. Thessalonicher 4, 1-8

Weiter, liebe Brüder, bitten und ermahnen wir euch in dem Herrn Jesus – da ihr von uns empfangen habt, wie ihr leben sollt, um Gott zu gefallen, was ihr ja auch tut - , dass ihr darin immer vollkommener werdet. Denn ihr wisst, welche Gebote wir euch gegeben haben durch den Herrn Jesus.

Denn das ist der Wille Gottes, eure Heiligung., dass ihr meidet die Unzucht und jeder von euch seine eigene Frau zu gewinnen suche in Heiligkeit und Ehrerbietung, nicht in gieriger Lust wie die Heiden, die von Gott nichts wissen. Niemand gehe zu weit und übervorteile seinen Bruder im Handel; denn der Herr ist ein Richter über alles, wie wir euch schon früher gesagt und bezeugt haben. Denn Gott hat uns nicht berufen zur Unreinheit, sondern zur Heiligung. Wer das nun verachtet, der verachtet nicht Menschen, sondern Gott, der seinen Heiligen Geist in euch gibt.

Liebe Gemeinde!

Man muss kein ausgesprochener Pessimist sein, um nach diesem Text eine freudlose Predigt zu erwarten – und gegebenenfalls ein freudloses Leben. Jedenfalls genießen christliche Vorstellungen von Sexualität und Moral unter den Zeitgenossen einen hinreichend schlechten Ruf. Sie seien leib- und lustfeindlich und hätten auf ihre Weise über die Jahrhunderte hinweg mannigfachen Verklemmt- und Verschrobenheiten Vorschub geleistet, heißt es. Und wer wollte das leugnen?

Soweit ist alles erwartungsgemäß. Schmallippig und missvergnügt kommen die Schlüsselbegriffe wie „Unzucht“, „gierige Lust“ und „Unreinheit“ daher. Als Kontrastmittel ist vor dem inneren Auge schnell das Bild einer spätantiken Hafenstadt entworfen. Sex als Dienstleistung und Tauschware im Hafenviertel gehört dort ebenso zum Alltag wie Lust und Ekstase zu immerhin einigen der religiösen oder pseudoreligiösen Kulte der Stadt. Irgendwie so mag es gewesen sein. Unseren schmutzigen Phantasien sind da keine Grenzen gesetzt – um uns freilich sogleich schaudernd von ihnen abzuwenden.

Sex, Gewalt und Gier sind einfache und starke Reize, unbeherrschbar in gleich mehrfacher Hinsicht, zugleich aber hochwirksame Mittel im Kampf um Aufmerksamkeit, Auflagen und Einschaltquoten. So wirksam sind sie, dass nicht viel gefehlt hätte, und ich hätte sie ihnen der Länge und der Breite nach noch weiter entfaltet, um dabei um ein Haar den Begriff zu unterschlagen, der in der Mitte unseres Textabschnitts steht: die Heiligung.

Nun wird die Heiligung im Kontrast zu jenen schwül-verruchten Bereichen, sozusagen den Rotlichtbezirken des Lebens entfaltet. Ganz werden wir also nicht umhin kommen, uns mit jenen Horizonten zu befassen. Auch die an Prüderie nicht arme Wirkungsgeschichte solcher Verse wird ihr Recht verlangen. Aber eines wollen wir doch schon jetzt zu Protokoll nehmen, dass nämlich die Heiligung nicht mit der Ablehnung von Sexualität gleichgesetzt wird. Aufgrund der magnetischen Eigenschaften von Sex and Crime könnte man nur allzu leicht an diesen Begriffen hängen bleiben. Den Grundgegensatz entfaltet unser Text aber zwischen der Heiligung, zu der Mensch durch Gott bestimmt ist, und jeder Form von Gier – sexueller wie materieller. Besessenheit könnte man sie auch nennen, die Lebensgeschichten beschädigt und die eigene Seele verkommen lässt.

Liebe, Lust und Zärtlichkeit

Eine aufgeschlossene Haltung gegenüber Liebe, Lust und Zärtlichkeit ist für den modernen Zeitgenossen unerlässlich. Es nimmt daher kaum Wunder, dass es unterdessen ein eifriges Bemühen um Zeichen solcher Aufgeschlossenheit innerhalb der christlichen Religion gibt. Zu diesem Zwecke kann man sich mit Nachdruck gegen den anti-erotischen Impetus der frühchristlichen Briefliteratur stemmen. Man kann das offenherzige Hohelied bemühen oder die Begegnungen Jesu mit den Frauen auf die Momente von Intimität und Zärtlichkeit hin betrachten. Oder man mobilisiert die religiösen Dimensionen des Eros und die erotischen Dimensionen der Religion überhaupt und bringt sie gegen den verklemmten Paulus und seine zur Neurose neigende Wirkungsgeschichte in Stellung.

Solche Rede über die Erotik ist nun selbst nicht immer frei von Peinlichkeit – was möglicherweise in der Gattung der Rede über die Erotik selber liegt. Man erinnere sich nur an die Aufklärungsfilme eines Oswald Kolle am Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Heute laufen sie, wenn überhaupt, nur noch in Studentenkinos, und zwar zur allgemeinen Belustigung.

Die Rede von der Erotik wandelt eben auf schmalem Grad zwischen Verklemmtheit und Pornographie, immer mit einem Bein in der Peinlichkeit. Deshalb erweist sich der Drahtseilakt, der geschmackvollen Rede darüber, so oft als wahrhaft vergebliche Liebesmüh. Mag das Neue Testament auf seine Weise als eine Liebesschule gelten. Eine Art Kamasutra wird es auch durch solche neuen Leseversuche nicht.

Das zeitgenössische Bemühen, Liebe, Lust und Leidenschaft auch in der Religion zu ihren Rechten zu verhelfen, fördern gewiss viel Schönes und Richtiges zutage. Zugleich sind sie aber auch Teil einer eigentümlichen Bewegung. Sozusagen im Gegenschlag gegen die nahezu sprichwörtliche Leib- und Lustfeindlichkeit der christlichen Tradition ist das Pendel längst schon weit zur anderen Seite ausgeschlagen.

Wir werden nicht zu viel behaupten, wenn wir eine Erotisierung und Sexualisierung der allgemeinen Glücksvorstellung beschreiben. Nicht nur Duschgels, Haar- und Rasierwasser, bei denen man leicht oder gar nicht bekleideten Werbeträger noch plausibel finden mag, auch Mineralwasser, Automobile, Uhren, Zigaretten, Erfrischungsgetränke, Speiseeis und Schokoriegel können sich am Markt offenbar nur behaupten, wenn mit ihrem Erwerb zugleich sexuelle Erfüllung verheißen wird.

Während also auf der einen Seite noch die Prüderie christlicher Moralvorstellungen wahlweise beklagt oder belächelt wird, könnte sich längst eine neue gesellschaftliche Neurose verbreitet haben: die Fixierung der allgemeinen Glücksvorstellung auf sexuelle Erfüllung.

Das Freiheitsproblem

Um mich nicht vollends als Prediger einer neuen Prüderie in Verruf zu bringen, wollen wir die Sache hier nicht weiter ausmalen. Es geht aber darum, den bedenkenswerten Kern der paulinischen Überlegungen einmal jenseits dieses Prüderie-Verdachts zu beschreiben. Vielleicht kommen wir der Sache näher, wenn wir St. Paulus mit einem moderneren Zeitgenossen ins Gespräch bringen: mit Sigmund Freud.

Beide, so weit sie zeitlich und sachlich auch sonst auseinander liegen mögen, haben sich auf je ihre Weise mit dem Rätsel beschäftigt, das wir Menschen uns vielfach selber sind. Paulus hatte dieses Rätsel im Römerbrief beschrieben: Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich (Röm 7, 19). Sigmund Freud verfolgt die Rätselstruktur des Menschen mit den Mitteln der Psychoanalyse. Es gäbe eben, stellt er dar, nicht nur die uns bewussten und bewusst steuerbaren Elemente unseres Selbst, sondern auch die unterbewussten, die verborgenen Strebungen und Leidenschaften, die üblicherweise durch erlernte und anerzogene Regelmechanismen im Zaume gehalten werden.

Zwischen diesen drei Ebenen des freud’schen Menschenmodells gibt es nun vielfache Wechselwirkungen und eine empfindliche Balance. Es gibt das bewusste Ich, das Über-Ich, den Ort der halbbewussten Regelmechanismen, und das Unterbewusstsein, den Ort, an den die Triebe und Leidenschaften verwiesen sind, die üblicherweise durch die kulturell vermittelten Moralvorstellungen des Über-Ich so famos kontrolliert werden, dass sie gar nie – oder nur in kulturell erträglicher Form – zutage treten.

Freud hat seine Aufklärung über das menschliche Selbst als dritte große Kränkung des menschlichen Selbstbewusstseins beschrieben. Von Kopernikus, Kepler und Galileo sei der Mensch aus der Mitte des Universums vertrieben worden, weil sein Planet sich fortan um die Sonne drehen sollte. Darwin habe dem Menschen seine Mittelpunktstellung in der Schöpfung streitig gemacht, indem er ihn in die Entwicklung der Arten einsortierte und ihm damit eine peinliche Ahnenreihe von behaarten Verwandten mit furchtbar fliehender Stirn verpasste. Er selbst, Freud, habe gezeigt, dass wir nicht einmal Herr im eigenen Hause seien, sondern teils aus unterbewussten Antrieben leben, teils von zunächst fremden Regelmechanismen, die im Über-Ich auch nur scheinbar unsere eigenen werden.

In Bezug auf die Erotik lernen wir von Freud gleich mehrerlei. Nämlich dass sie, wo sie verdrängt, verleugnet und gleichsam abgeklemmt wird, durch die kuriosesten Ventile zu entweichen sucht. Vor allem aber erfahren wir, dass die Sexualität stets der kulturellen Eingliederung also auch der Kontrolle in meinem Selbst bedarf. Wo die Triebsteuerung versagt, brechen Leidenschaften auf die zerstörerischste Weise durch.

Im Modell, das Paulus vom Menschen entwirft, gibt es die natürlichen Anteile, die sich – einmal entfesselt – in Gier, Unzucht und wilder Lust entladen können, und die geistliche Existenz, die der Mensch als Gottesgeschenk empfängt. Freud kann dazu kritisch anmerken, dass natürliche Antriebe des Menschen wie etwa die Sexualität dadurch moralisch abgewertet und in Gegensatz zur göttlichen Idee vom guten Menschen gesetzt werden. Wo das zu einer Verdrängung führt, sind schlimme Folgen für die seelische Gesundheit zu erwarten.

Andererseits redet Freud nicht einer vollkommenen Befreiung der Triebe aus ihrem Käfig das Wort. Denn die Triebe, die wir mit unseren peinlichen Verwandten aus dem Tierreich teilen, bedeuten selbst keineswegs Freiheit. Als Leidenschaften suchen sie sogar gewissermaßen die Herrschaft über uns und unsere Lebensvollzüge zu erlangen.

Nur weil etwas natürlich ist, ist es noch nicht gut. Diese Überzeugung dürften Sigmund Freud und Paulus miteinander teilen. Nach Freud ist es die Aufgabe der Balance zwischen Triebstruktur und Triebsteuerung, die im bewussten Selbst gelingen kann. Bei Paulus finden wir den Begriff der Heiligung. Er erinnert seine Adressaten und spricht ihnen von neuem zu, dass sie geistliche Wesen sind. Was nun nicht bedeutet, dass sie wider ihre Natur leben müssten. Aber zum Leben als geistliche Kinder des Lichts gehört eben auch, um die Selbstgefährdungen durch die eigene Natur zu wissen. Nicht, weil Gott euch einst bestrafen wird, sollt ihr euch derjenigen Leidenschaften enthalten, die andere schädigen und eure Seele verkommen lassen, sondern weil ihr vor euch selbst dann schlecht dastehen werden.

Schluss

So würde ich den Kern der paulinischen Gedanken noch einmal jenseits des Prüderie- und Verklemmtheitsverdachts formulieren: Ihr habt nicht einfach eine natürliche Natur, die euch essen lässt, wenn ihr hungrig seid, schlafen, wenn ihr müde seid, und die durch eure Triebe dafür sorgt, dass eure Art nicht ausstirbt. Ihr habt zugleich eine geistliche Natur, die euch spüren lässt, was gerecht ist und was ungerecht, und die euch im tiefsten Innern nicht erlaubt, einfach zu nehmen, was ihr im Moment begehrt.

Eure geistigen und geistlichen Fähigkeiten haben eine Umwelt geschaffen, in der eure beiden Naturen, die natürliche und die geistliche, nicht einfach und fortdauernd im Frieden leben können – weil nämlich das rechte Maß für die Dinge euch nicht schon aus der Natur entgegen kommt. Ihr müsst es selbst erst finden müsst.

Das ist die Aufgabe der Freiheit. Ihre Sache kann schnell verloren sein, wo ihr euch an Gier und Lust und Leidenschaft verliert. Sex wird zur Dienstleistung und zur Tauschware in Hafen- und Rotlichtvierteln. Rausch und Ekstase befriedigen die Sehnsucht nach gelungenen Augenblicken noch eh man sich’s versieht. Und je öfter sie diese Sehnsucht befriedigen, desto mehr befriedigen sie sie nicht.

Paulus ist gewiss zu Recht dafür gescholten worden, dass er aus lauter Furcht vor dem Ausbruch der Leidenschaften eher Verklemmt- und Verschrobenheiten Vorschub geleistet hat. Unter den Bedingungen der vollkommenen Erotisierung der allgemeinen Glücksvorstellung kann aber eine Besinnung auf die geistig-geistliche Welt nützlich sein, in der er allererst das Wesen des Menschlichen findet.

Wozu sollen uns diese Betrachtungen führen? Gewiss nicht zu schmallippig-missvergnügter Enthaltsamkeit. Aber vielleicht, und wenn es ganz gut geht, zu einer inneren Freiheit, die Liebe, Lust und Zärtlichkeit genießen lässt, wo sie uns menschenfreundlich und heilsam begegnen, die uns aber zugleich damit rechnen lässt, dass es ein gelungenes Leben jenseits sexueller und materieller Kraftprotzerei gibt, dass es Momente des Glücks auch im Verzicht auf einen möglichen Genuss gibt, dass es Menschen gibt, deren Liebe wir manchen Verzicht auch schuldig sind, dass auch die, die ohne Partnerin und Partner sind und es vielleicht auch bleiben müssen, Momente der Erfüllung kennen sollen und dass jedes Menschenkind ein geistliches Wesen von unendlichem Wert ist.

Wie soll ich mir ein solchermaßen gelungenes Leben vorstellen? Das lässt sich freilich nicht allgemein und schon gar nicht abschließend sagen. Aber es müsste doch ein Leben sein, das ich in Freiheit leben und in Würde zu Ende bringen kann. Eins, bei dem ich nicht das Gefühl habe, Entscheidendes verpasst zu haben, und das ich, wenn ich es zu Ende gelebt haben werde, einigermaßen guten Gewissens wieder abgeben kann.

Vielleicht ist es gut, die Zeilen des Paulus noch einmal zu hören, jenseits des Verdachts, es sollte dort alles verboten werden, was Genuss verspricht und Spaß macht, aber in der Hoffnung, dass der Kern der Heiligung die aus Gott kommende Freiheit der Menschenkinder ist:

Weiter, liebe Brüder, bitten und ermahnen wir euch in dem Herrn Jesus – da ihr von uns empfangen habt, wie ihr leben sollt, um Gott zu gefallen, was ihr ja auch tut - , dass ihr darin immer vollkommener werdet. Denn ihr wisst, welche Gebote wir euch gegeben haben durch den Herrn Jesus.

Denn das ist der Wille Gottes, eure Heiligung., dass ihr meidet die Unzucht und jeder von euch seine eigene Frau zu gewinnen suche in Heiligkeit und Ehrerbietung, nicht in gieriger Lust wie die Heiden, die von Gott nichts wissen. Niemand gehe zu weit und übervorteile seinen Bruder im Handel; denn der Herr ist ein Richter über alles, wie wir euch schon früher gesagt und bezeugt haben. Denn Gott hat uns nicht berufen zur Unreinheit, sondern zur Heiligung. Wer das nun verachtet, der verachtet nicht Menschen, sondern Gott, der seinen Heiligen Geist in euch gibt.

Gar so freudlos wie zunächst befürchtet muss das Leben nicht sein, das aus diesem Geist entsteht.

Amen

Ulrich Braun,
Pastor in Göttingen-Nikolausberg
Email: ulrich.braun@nikolausberg.de

 

 


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