Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Reformationsfest, 31. Oktober 2004
Predigt über
Römer 3, 21-28, verfaßt von Christoph Ernst
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Die Rechtfertigung allein durch Glauben

"Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben. Denn es ist hier kein Unterschied: sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.

Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher begangen wurden in der Zeit seiner Geduld, um nun in dieser Zeit seine Gerechtigkeit zu erweisen, dass er selbst gerecht ist und gerecht macht den, der da ist aus dem Glauben an Jesus.

Wo bleibt nun das Rühmen? Es ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch das Gesetz der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens. So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben."

Liebe Gemeinde,

so weit, so gut… So weit Paulus, so gut das Reformationsfest. Aber – was gehen ausgerechnet mich diese Worte noch an…!? Paulus schreibt hier Gedanken nieder, die uns heute eher zum Kopfschütteln und Schulterzucken veranlassen, als dass wir ihnen noch einen tieferen Sinn, am Ende gar noch für uns selbst, abgewinnen könnten.

Gleichwohl ist dieser Text gewissermaßen das Herzstück der Reformation: es geht um die Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben … Sie sind allesamt Sünder … und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade … So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird … allein durch den Glauben.

Ohne diesen Abschnitt aus dem Römerbrief und ohne Luthers angestrengte Suche nach einem ihm gnädigen Gott – den er dann in genau diesen Versen findet –, wäre heute vermutlich alles ganz anders.

Wenn uns diese Verse ihrem Verständnis nach dennoch schwer eingehen, dann dürfte dies nicht zuletzt an unserem modernen, unserem so ganz anderen Lebensgefühl liegen, das sich in den letzten 500 Jahren doch ein wenig gewandelt haben wird.

Wir sollten uns aber gerade heute am Reformationstag in Erinnerung bringen: ohne die Reformation und ohne ihre Überwindung der Furcht vor einem ungnädigen Gott ist auch unser neuzeitliches, positives Selbstbewusstsein nur schwer vorstellbar.

Diese Frage des Lebensgefühls, das sich mit den Zeiten ändert, kam in unserem Konfirmandenunterricht in der letzten Woche sehr lebendig zur Sprache. Wir haben zuerst gemeinsam den Lutherfilm (USA 2003) gesehen, den wir uns auch für den Gemeindeabend in der kommenden Woche vorgenommen haben. In diesem Film gibt es mehrere Szenen, in denen der junge Priester Martin lautstark wütend in seiner Mönchszelle umherirrt – geplagt von Glaubenszweifeln, in der Auseinandersetzung mit dem Teufel, der ihm offenbar auf Schritt und Tritt auflauert, auf der Suche nach einem barmherzigen Gott, nach einem Gott, den er, wie Martin im Film sagt, „lieben kann und der ihn liebt“.

Die Konfirmandinnen waren sich in der Diskussion über diesen Film schnell einig: wir fragen heute zwar ganz anders, und wir können uns Martin Luthers Ängste und das Lebensgefühl seiner Zeit kaum noch vorstellen. Für mich etwas überraschend aber war, dass die Konfirmandinnen dennoch eine direkte Parallele zu unserer Zeit herstellten – „die vielen Fragen, die die Menschen in diesem Film stellen, sind doch auch heute noch da!“

Die Frage, wie Gott es denn mit uns Heutigen meint, also die Frage nach der Gnade Gottes für unser Leben, bewegt uns moderne Menschen ebenso: wenn wir über Lebenssinn und Zukunft, über Erfolg und Schuld, über Krankheit und Tod nachdenken, dann geht es doch auch „immer ein bisschen mit um Gott“, wie eine Konfirmandin es ausdrückte.

Oder wenn wir verzweifelt sind und keinen Ausweg wissen, wenn wir die Erfahrung machen, dass diese Welt, die eigene kleine und auch die multimediale große, aus den Fugen zu geraten droht. – Dann fühlen wir uns mit einem Mal der Zeit Martin Luthers doch wieder sehr nahe, dann entdecken wir, dass sich im tiefsten Grunde unseres Lebens für uns Menschen seitdem doch nicht so furchtbar viel verändert hat.

Dieser neue Lutherfilm, der dieser Tage hier in Kanada in die Kinos gekommen ist, hatte schon im Vorfeld viel Kritik ertragen müssen, vor allem von Theologen: „es gehe da historisch drunter und drüber“, so konnte man lesen, „theologisch flach sei dieser Film, es werde ein völlig falsches Lutherbild erzeugt!“ – Das mag schon sein, wer wollte es schon nachprüfen…

Der Regisseur des Lutherfilms, Eric Till, sagt in einem Interview über diesen Film: „Wenn man anfängt zu erforschen, wer Martin war oder wer er meiner Ansicht nach war, dann findet man bald Hoffnung und Mitgefühl. Und davon, von Hoffnung und Mitgefühl, brauchen wir heute eine ganze Menge.“

Eric Tills Ziel war es, den Menschen Martin Luther zu ergründen, und in dieser Person ein menschliches Wesen zu finden: „gescheitert, schwach, unsicher, aggressiv – manchmal ausgesprochen unangenehm – sehr menschlich also.“ Und Eric Till fügt noch hinzu: „Es schien, als sei dieser menschliche Aspekt in dem, was wir gelesen hatten und was da gesagt wurde, vor allem von einigen Theologen, verschleiert oder sogar ausgelassen worden. Wir aber wollten unbedingt einen Menschen finden – einen mit Fehlern…“

Liebe Gemeinde, wenn man diesen Film ansieht, dann merkt man schnell, wie fündig der Regisseur geworden ist.

Und mich freut Eric Tills Hinweis auf den Menschen Martin Luther umso mehr, als er doch auch zum Ausdruck bringt, worum es Paulus in den irgendwie fremden, aber doch auch vertrauten Versen dieses Sonntags geht: nicht um rechte Lehre und theologisches Dogma zuerst, sondern um den von Schuld befreiten Menschen, der Gnade bei seinem Gott gefunden hat.

Mich freut dieser „menschliche Hinweis“ dieses Filmes auch deswegen, weil er den Akzent genau dorthin legt, wo bei allein historischer und theologischer Betrachtung der Reformationszeit vor 500 Jahren zumeist nichts gesagt wird. Wenn wir heute über die Reformationszeit reden, dann in aller Regel doch nur in skelettartigen Zahlen und Fakten – wenn wir denn überhaupt noch darüber sprechen. Doch Zahlen und Fakten verraten uns wenig darüber, wie ähnlich die niedergemetzelten Bauern aus dem Bauernkrieg den Opfern heutiger unsinniger Bluttaten sehen. Zahlen und Fakten lassen nicht erkennen, wie wir mit der Gedankenwelt eines Martin Luther doch verwandt sind.

Wir sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den wir bei Gott haben sollten…

Dieser Paulustext, der die Reformation mit ins Rollen brachte, erzählt in seiner ganzen Unverständlichkeit etwas sehr einfaches: er erzählt über den Menschen, er spricht über uns: wie wir sind, wie Gott uns Menschen liebt, wie wir demütig und ohne eigenes Rühmen, wie wir dankbar dieses Geschenk der Zuwendung Gottes zu uns Menschen annehmen können. Das ist der Kern der frohen Botschaft, die in der Reformationszeit wieder entdeckt wurde und die wir Evangelischen seither gewissermaßen mit der Muttermilch aufgesogen und verinnerlicht haben.

Diese Botschaft von der Gnade Gottes klingt so einfach – und ist uns gleichwohl mitunter so schwer. Der Schlüssel dafür dürfte in unserem Unvermögen liegen, unser Schuldigwerden anderen Menschen gegenüber überhaupt einzugestehen; es ist uns diese befreiende Botschaft von Gottes Zuwendung zu uns auch deshalb schwer, weil wir unsere Mitschuld an den Dingen, wie sie nun einmal in dieser Welt sind, nur ungern anerkennen. Doch wenn wir unsere Schuld und Mitschuld an den Zuständen dieser kleinen und dieser großen Welt uns nicht eingestehen können, dann ist es auch schwerlich möglich, befreiende Vergebung zugesprochen zu bekommen.

Luthers Beichtvater Staupitz sagt im Film zu dem jungen Martin im Kloster in Erfurt: „Martin, in zwei Jahren hast du mir nie etwas Interessantes gebeichtet.“ Und Martin antwortet ihm schuldbewusst: „Ich lebe in Angst vor dem Jüngsten Gericht!“

Liebe Gemeinde – an diesem kurzen Dialog wird hervorragend deutlich, was das Problem auch unserer Zeit ist: wir können uns und anderen unser Versagen nur so schwer eingestehen. So wie es auch Luther ging, der zumindest im Film aus Angst vor dem jüngsten Gericht und einem dann ungnädigen Gott nicht mehr aufrichtig beichten konnte – und sich dadurch nur in immer tiefere Selbstzweifel stürzte.

Gewiss, unsere Ängste mögen anderer Art sein als die Luthers, aber sie sind doch nicht weniger ernst und existenziell: Ängste vor dem vernichtenden Urteil unserer Mitmenschen etwa. Ängste davor, dass andere etwas über mich erfahren, das ich nur mit mir selbst aushandeln möchte. Ängste vor dem Morgen, vor der anstehenden Untersuchung im Krankenhaus, vor der Diagnose, vor der Operation. Nicht zuletzt die Angst vor dem Sterben. – Ich kenne keinen erwachsenen Menschen, der bei diesen Themen nicht aus eigener Erfahrung berichten könnte.

Diese Ängste lassen sich mit Luther auch auf die Frage nach dem mir persönlich gnädigen Gott hin zuspitzen. Wie ist Gott mir gnädig, nicht im Jüngsten Gericht, nein heute! Das ist die Frage, die für uns Menschen aktuell bleibt. Auf die es außerhalb unserer persönlichen Lebensgeschichten aber auch keine Antwort gibt.

Im Lutherfilm ist es eine Mutter mit Namen Hanna, die vom jungen Luther in Wittenberg auf die Spur ihres gnädigen Gottes gebracht wird. Hanna hat ein behindertes Kind, das sie offenbar vor anderen versteckt hält. Doch trägt sie Holz auf den Markt, um vom Erlös Lebensmittel für sich und ihre Tochter zu kaufen. Luther, gerade erst an seiner neuen Wirkungsstätte Wittenberg angekommen, wird von anderen Mönchen mit diesem Schicksal bekannt gemacht.

Einige Szenen später erfahren wir als Zuschauer, dass Hanna auf der anderen Elbseite beim berühmten Prediger Tetzel einen Ablassbrief für ihre Tochter Grete erwirbt; denn – so legt es ein geradezu dämonisch auftretender Tetzel ihr dar – es sei ganz an ihr, ob ihre Tochter Grete dereinst selbst zu Jesus wird laufen können oder nicht…

Mutter Hanna kauft. Anderntags zeigt sie ihren Zettel stolz bei Luther vor: „Für Grete!“. Luther, sichtlich irritiert, sagt ihr: „Das ist nur Papier – sonst nichts!“ Das bestürzte Gesicht der Mutter vor Augen, gibt er ihr jedoch eine Münze für den Ablassbrief und bittet sie, ihrer Tochter davon zu essen zu kaufen.

Ein kleines, von Eric Till aber doch sehr wirksam inszeniertes Beispiel der gnädigen Zuwendung Gottes zu uns Menschen. Luther als derjenige, der diese Gnade überbringt – und nicht die billige Gnade frommer, leerer Worte – wird als ein Mensch gezeigt, der sich seine Glaubensüberzeugung nicht nur auf dem gewaltigen Reichstag zu Worms etwas kosten lässt. Die kleinen Münzen sind es, die dem Leben durch die Bürden des Alltags helfen.

Luthers Beichtvater Staupitz fragt den jungen Martin Luther: „Martin, sag, was suchst du?“ Und der gibt zur Antwort: „Einen barmherzigen Gott, einen Gott, den ich lieben kann! Einen Gott, der mich liebt!“

Daraufhin nimmt Staupitz seine Kreuzeskette vom Hals, gibt sie Luther und bittet: „Dann schau auf Christus. Vertraue dich Jesus Christus an. Dann wirst du Gottes Liebe erfahren. Sage zu ihm: Ich bin dein, erlöse mich!“

Bei aller Theatralik der Situation ist doch eines echt: Luther weiß sich durch den Bruder getröstet. Er wird gerecht und innerlich zufrieden durch das, was ein anderer ihm zuspricht und verheißt.

Denn letztlich bleiben wir allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den wir bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.

Oder, wie Sir Peter Ustinov es am Rande seiner letzen Filmrolle kurz vor seinem Tod in diesem Lutherfilm sagt: „Ich glaube, wir können viel aus der Geschichte lernen. Nicht alles, aber sie zeigt uns viele Aspekte der menschlichen Natur, die so ziemlich ewig gelten…

Amen

Christoph Ernst, Pfr.
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