Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Ewigkeitssonntag, 21. November 2004
Predigt über
Offenbarung 21, 1-7, verfaßt von Wolfgang Ebel
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Am Ende des Kirchenjahres begehen wir Tage der Erinnerung. Einige unter uns heute sind besonders zu diesem Gottesdienst eingeladen worden, weil sie einen Menschen verloren haben, den sie mehr oder weniger betrauern. Ihr Blick mag sich noch einmal zurück wenden zu dem Menschen, der nicht mehr unter den Lebenden ist. Sein Grab ist frisch geschmückt. Das Herz tut manchmal noch sehr weh. „Ich suche einen Ort, an dem ich weinen kann“, sagte sie zu mir. „Vielleicht gehe ich in die Thomas – Messe. Da kann ich auch weg gehen, wann ich will.“

„Siehe, ich mache alles neu!“

Der Seher hat etwas gesehen, das kein Bild fest halten kann. Eigentlich hat er nur in den heiligen Schriften geforscht – dort auf der Insel Patmos. Dabei ist er hinein geraten in die Macht der Worte. Er ist dem Lebendigen begegnet. Am Anfang schuf ER Himmel und Erde. Der erste Himmel und die erste Erde werden vergehen. Der Kosmos wird sich erneuern. Das Urchaos wird nicht mehr sein. Alle Bedrohtheit wird ihr Ende finden. Wie ein riesiges Raumschiff wird die Stadt Gottes erscheinen. Die Stadt SEINES Friedens. Die ewige, heilige Hochzeit wird gefeiert.

„Siehe, ich mache alles neu!“

Der Seher ist auch ein Hörer. Er hört die Stimme seines HERRN. Er hat viel gelitten. Und mit ihm haben viele gelitten. Unsägliches ist ihnen widerfahren. Unerträgliches hat ihr Leib erduldet. Jetzt stellen sich Gesichte ein. Jetzt dringt durch alle Schreie die eine Stimme:

„Siehe, ich mache alles neu!“

Heute sind wir am Ende. Mit der biblischen Heilsgeschichte sind wir am Ende des Kirchenjahres angekommen. In unseren Erinnerungen gehen wir zurück. Wer im zurück liegenden Jahr einen Menschen verabschieden musste, soll heute gewiss werden: am Ende tut sich das Tor auf in ein neues Leben. Die Toten sind von uns gegangen. Die Toten sind uns voraus.

Jeder und jede heute hier hat sein und ihr eigenes Leid erfahren. Auch in unserem je eigenen Leid sind wir unverwechselbar. Als einzelne Menschen und Familien seid Ihr gekommen. Leid vereinzelt uns. Heute führt es uns zusammen. Es führt uns zusammen, weil es bei Gott angekommen ist und immer noch ankommt. ER sieht. ER hört. Unserer Kreuze Leid. Mit unseren Leidensgeschichten kommen wir heute vor IHN. Mit unserem Tränenkelch gefüllt bis an den Rand.

Wir kommen mit unseren Erinnerungen. Am Ewigkeitssonntag, an dem wir unserer Toten gedenken. Der Gottesdienst heute ist die Mitte, die die Lücke ausfüllt zwischen zwei Bewegungen, die uns erfassen: Die Trauer, das Vermissen ziehen uns in die Vergangenheit. Die Worte christlicher Hoffnung, die wir hören, ziehen uns in die Zukunft des Gott-Mit-Uns.

Wir kommen heute mit den Namen unserer Verstorbenen. Sie werden alle genannt. In der Stille die Namen derer, die von Länger her schon gestorben waren, auch sie klingen manchmal noch nach. Sie werden alle genannt. Der Fürbitte der Gemeinde werden sie anbefohlen. Der Barmherzigkeit Gottes werden sie anheim gegeben. Im Leben, in ihren Leiden mehr oder weniger vereinzelt, werden sie zusammen geführt. Mit der Nennung ihrer Namen wird ihr ganzes Leben erfasst. Durch unsere Fürbitte werden sie an den Lebensgrund dessen überwiesen, der allein unendlich ist. Der spricht:

„Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende.“

Der Ewige und der Allmächtige. ER ist der einzige Befreier. IHM allein überantworten wir unsere Toten. Sie sind nicht einfach weg. Sie leben auch nicht nur weiter in der Erinnerung derer, mit denen sie gelebt haben. Sie gehören auf ihre Weise dazu. Die Gemeinde der Heiligen ist eine Gemeinschaft von Lebenden und Toten. Heute werden wir an die Gegenwart unserer Toten bei Gott erinnert. Wir werden sie nicht aus unserem Leben streichen, sie einfach vergessen. Wir sollen mit ihnen leben können. So mit ihnen leben können, dass wir frei werden von den Mächten, die uns positiv und negativ mit ihnen verknüpfen.

„Siehe, ich mache alles neu!“

Unsere Toten sind in Gericht und Gnade bei Gott. Es kann sein, dass sie uns dann und wann noch einmal aufsuchen. In Träumen. In Gesichten. Auch sie brauchen eine Weile, um sich verabschieden zu können. In Gottes Reich werden sie die Macht über uns weitgehend verloren haben.

Die Toten sind bei Gott. Deshalb haben wir sie nicht mehr zu fürchten. Nicht nur eine eheliche Verbindung besteht, „bis dass der Tod uns scheidet.“. Wir dürfen annehmen, was die Toten uns hinterlassen haben. Wir dürfen auch verändern, was die Toten uns hinterlassen haben. Die irdische Beziehung, die uns einmal zusammen gehalten hat, ist zerrissen. Für eine „kleine Weile“ (Hebr. 10, 37) sind wir voneinander getrennt. Wir werden nicht wieder zusammen kommen, wie es einmal für uns war. Wir werden in dem geistlichen Leib, mit dem Gott uns überkleidet, wieder vereint sein (2. Kor. 5; 1. Kor. 15, 35ff.)

„Siehe, ich mache alles neu !“

Dem Seher von Patmos eröffnet sich der Machtraum der Worte aus den heiligen Schriften. Er hört, er sieht: diese Worte sind wahrhaftig und gewiss ! Für unsere Toten ist das Erste vergangen. Ihre Tränen sind abgewischt von ihren Augen. Der Tod ist nicht mehr. Leid und Geschrei und Schmerz sind nicht mehr. Sie sind weiter als wir.

Doch auch wir sollen weiter gehen können. Die Menschen, deren Namen wir heute vor Gott aufrufen, sind jetzt bei IHM. In ihrem Grab sind sie uns ganz fern. In Gottes Welt stehen sie uns ganz nah. Sie haben unser Leben mehr oder weniger stark bestimmt. Insofern werden sie uns immer gegenwärtig bleiben. Wir können an ihrem Grab, für ihre Ruhe einiges tun. Aber wir dürfen sie einmal auch in Ruhe lassen. Wir dürfen einmal ohne sie unsere eigenen Wege gehen. Mögen sie ihren Frieden bei Gott finden ! Mögen sie uns in Frieden unsere Wege gehen lassen !

„Vielleicht gehe ich zur Thomas – Messe,“ hatte die Frau gesagt. Vielleicht kann sie da in Ruhe vor Gott ihre Tränen weinen. Und wenn es genug ist, kann sie sich segnen lassen und gehen.

Am Ende des Kirchenjahres wird uns Hoffnung verkündigt. Mit dem Tod ist nicht alles aus, wie so oft zu hören ist. Der neue Himmel und die neue Erde – Gottes Auferstehungswirklichkeit – warten auf uns. Durch die Taufe ist uns die Kraft zugeeignet, Tod, Leid, Geschrei und Schmerz zu überwinden.

Der lebendige Gott wird uns führen in Widerstand und Ergebung. ER trägt und begleitet uns zu allen Zeiten. Durch Jesus Christus.

Amen.

(Nach der Predigt sollte die Gemeinde das Credo sprechen.)

Wolfgang Ebel, Pastor / Klinikseelsorge
Pastor.Ebel@med.uni-goettingen.de

 


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