Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

1. Advent, 28. November 2004
Predigt über
Jeremia 23, 5-8, verfasst von Stefan Knobloch
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Leere Phrasen?

„Seht, es kommen Tage – Spruch des Herrn -, da werde ich für David einen neuen gerechten Sproß erwecken. Er wird als König herrschen und weise handeln, für Recht und Gerechtigkeit wird er sorgen im Land. In seinen Tagen wird Juda gerettet werden, Israel kann in Sicherheit wohnen. Man wird ihm den Namen geben: Der Herr ist unsere Gerechtigkeit. Darum seht, es werden Tage kommen – Spruch des Herrn -, da sagt man nicht mehr: So wahr der Herr lebt, der die Söhne Israels aus Ägypten heraufgeführt hat!, sondern: So wahr der Herr lebt, der das Geschlecht des Hauses Israel aus dem Nordland und als allen Ländern, in die er sie verstoßen hatte, heraufgeführt und zurückgebracht hat. Dann werden sie wieder in ihrem Heimatland wohnen.“

„Seht, es kommen Tage – Spruch des Herrn...“ Kann uns ein Text, der so beginnt, überhaupt erreichen? Verfügen wir über die Hörfähigkeit, solche Sätze in einer Weise bei uns ankommen zu lassen, daß wir ihnen Ernsthaftigkeit und Bedeutung beimessen, auch wenn wir im ersten Augenblick nicht sagen könnten, in welcher Richtung die Bedeutung dieser Sätze für uns liegen sollte? In der Tat, wenn wir von der augenblicklichen Situation dieses Gottesdienstes absehen, in dem uns diese Sätze erreichen; wenn wir sie uns in einem anderen, nichtgottesdienstlichen Kontext vorstellen sollten, ich fürchte – und ich hätte Verständnis dafür -, uns fiele möglicherweise alternativ eine Comedy-Bühne ein, die sich dieser Sätze bediente. Und sie hätte augenblicklich die Lacher auf ihrer Seite. Ohne daß ich hier auch nur im geringsten eine Assoziation an Blaspemie und Verhöhnung des Religiösen wecken möchte!

Es ist wohl einfach so – man mag es bedauern oder nicht -, daß diese Sprache, „Seht, es kommen Tage“, uns erst einmal befremdet, befremden muß, weil sie so abseitig, so andersartig gegenüber unserer Alltagssprache ist. Und dies ist ja auch der Grund, warum solche Sätze auf einer Comedy-Bühne sofort Lachen auslösen. Man lacht über ihre Andersartigkeit, über ihre Nicht-Einordbarkeit. Aber damit ist es nicht getan. Da steckt gleichzeitig mehr dahinter. Diese Sätze vermögen, wenigstens ansatzweise, einen neuen Horizont zu eröffnen, in tiefere Dimensionen vorzudringen, die nicht unbedingt an der Oberfläche unserer Alltagserfahrungen liegen, die aber gleichwohl in uns zum Klingen gebracht werden, bei dem einen stärker, bei dem anderen schwächer. Sie kommen uns eben deshalb befremdlich, merk-würdig, ja komisch vor, weshalb wir uns – im Fall der Comedy-Bühne – erst einmal lachend von ihrer vielleicht nur für den Bruchteil einer Sekunde aufblitzenden Aussage zu distanzieren versuchen.

Hier, in unserer Situation, handelt es sich nicht um Comedy, sondern um Gottesdienst. Und gleichwohl ist es unserer Hörfähigkeit nicht einfach gegeben, aus diesen Sätzen „Seht, es kommen Tage – Spruch des Herrn“ mehr herauszuhören als frommen Schall und Rauch, statt ihnen wirklich Bedeutung zuzumessen. Und das liegt weniger daran, daß wir aus mangelnder Bibelkenntnis nicht sofort wüßten, in welcher konkreten historischen Situation diese Worte – die Worte des Propheten Jeremia – ursprünglich ergangen sind. Hier könnten wir einiges nachholen und gewissermaßen zur historischen Einordnung dieser Sätze das eine oder andere erhellend beitragen. Aber allzuviel gewonnen wäre damit nicht. Denn, bleiben wir nur bei der Historie, bei der Historie des Propheten Jeremia, in seiner Begegnung mit den damaligen Herrschern Jerusalems – mit Joschija (641-609), mit Jojakim (609-597) und mit Zidkija (597-586); allein die Namen dürften uns schon wie spanische Dörfer erscheinen! -, wir hätten daraus keinen Gewinn. Keinen Gewinn also, wenn man uns abverlangen wollte, unter ausschließlich historischer Perspektive und aus ausschließlich historischem Interesse unser Ohr für Jeremia zu öffnen. Aber darum geht es auch gar nicht. Es soll vielmehr zu einer Vermittlung der Erfahrungen des Jeremia mit den Erfahrungen unseres Lebens heute kommen. Das schon. Und das zu ermöglichen, ist den Einstieg in diesen Text wert.

„Seht, es kommen Tage“ – die Menschen aller Zeiten, also auch von heute, sind offen für Visionen und Verheißungen, zumal wenn sie schlechte, entbehrungsreiche und ungewisse Zeiten durchmachen. Jeremia hat in eine vollkommen trostlose Zeit hineingesprochen. Jerusalem war mehr oder weniger entvölkert, der König, die führenden Leute der Gesellschaft bis weit hinein in das gewöhnliche Volk waren im babylonischen Exil. Die Ordnung lag danieder. Geregeltes Leben mit Jahweverehrung, Tempelkult und Führung durch einen gerechten Herrscher – davon konnte man nur träumen. Oder eben nicht mehr, da alle Drähte zu einem gesellschaftlich geregelten Leben in Jerusalem ein für alle Mal abgeschnitten schienen.

Es werde sich alles ändern! Ein König werde kommen, die Leute würden aus der Verbannung nach Hause zurückkehren, Sicherheit werde sich breitmachen! Nicht als Folge menschlicher Tüchtigkeit und politischer Klugheit, sondern als Geschenk des Herrn. Und den König werde man mit dem Ehrentitel versehen: „Der Herr ist unsere Gerechtigkeit.“ Diese verheißene Rettung werde sogar die gewissermaßen staatsbegründende Erfahrung der Rettung des Volkes aus Ägypten und seinen rettenden Durchzug durch das Meer in den Schatten stellen.

Warum konfrontiert man uns heute mit diesem Text, der sich damals in der Tat an den Exilierten bewahrheitet? Gut, Anlaß zu Ängsten und Sorgen gibt es heute genug, die man nicht einfach mit der süffisanten Bemerkung abtun darf, wir, die Deutschen, würden lediglich auf hohem Niveau jammern. Berechtigte Sorgen gibt es genug. Für viele geht es um die Sorge um den Arbeitsplatz. Familien und Kinder hängen daran. Die Sorgen der Opelaner in Rüsselsheim und Bochum, der Arbeitnehmer am VW-Standort Wolfsburg und die Sorgen in anderen Bereichen der Wirtschaft sprechen in diesen Tagen und Wochen eine deutliche Sprache. Und nun steht obendrein offenbar die Auflösung vieler Bundeswehrstandorte an. Hinzukommt die unterschwellige und schlecht in den Griff zu bekommende Angst vor terroristischen Anschlägen. Die neue Erfahrung der Verwundbarkeit hat sich – nicht nur in den USA – tief in das kollektive Bewußtsein der Gegenwartsgesellschaft eingeprägt. Der 1. September 2001 mit dem apokalyptischen Ende der Twin-Towers des World Trade Centers, der 11. März 2004 mit den Anschlägen in Madrid und die Attentate der tschetschenisch-islamistischen Terrorbrigaden im Kaukasus – Beslan steht dafür seit dem 3. September 2004 als Menetekel – stehen allen vor Augen. Diese willentlich herbeigeführten Katastrophen stellen die vermeintliche Sicherheit, in der wir kurze Zeit nach dem Ende des Ost-West-Konflikts lebten, radikal in Frage. Ein neues Konfliktpotential hat sich aufgetan, das man mit dem Schlagwort „Kampf der Kulturen“ bzw. „Kampf der Religionen“ zu benennen versucht hat. Nur dürfen wir hier keinem Irrtum erliegen. Zugegeben, es gibt Exponenten der islamischen Welt, allen voran die Al Qaida um Bin Laden, die diesen Kampf willentlich und gewaltsam alimentieren. Aber es gibt in der islamischen Welt erst recht und in weit entscheidenderem Ausmaß auch Dialogfähigkeit und Anschlußbereitschaft an die westlichen Denkkonzepte und Überzeugungen.

Wie auch immer, man könnte die Liste heutiger Sorgen und Ängste beliebig fortsetzen. Nur, in welchem Zusammenhang sollten sie mit den Verheißungsworten des Jeremia stehen? Zugegeben, in keinem unmittelbaren und direkten Zusammenhang. Es wird also niemanden geben, der hintritt und sagen würde, Jahwe werde alle unsere aktuellen Gesellschaftsprobleme lösen. Und wenn es einer täte, würde man sich um seine psychische Gesundheit Sorgen machen und ihn aus dem Verkehr ziehen.

Gleichwohl, etwas bleibt, worauf uns der Jeremiatext indirekt hinweist. Es geht in diesem Text um beinharte, alltagsbezogene Fragen, um die Aussichten, wieder menschenwürdig zu leben, womöglich in den eigenen vier Wänden, in gerechten gesellschaftlichen Verhältnissen, im Einklang mit dem Glauben an den rettenden Gott Jahwe. Diesen Fokus, diese Perspektive dürfen wir nicht übersehen. Das durch Jahwe ermöglichte geordnete neue Leben hier auf Erden ist die Perspektive dieses Textes! Es ist sogar seine einzige! Danach komme Tod, Finsternis, Scheol. Jeremia lebt und tritt in einer Zeit auf, in der der Glaube an ein Leben nach dem Tod, an so etwas wie Auferstehung in Jerusalem weitgehend unbekannt war. Der Glaube, der gewissermaßen einen Lebensraum jenseits des Todes eröffnete, brach sich erst Jahrhunderte später Bahn. Und zwar weniger im Zentrum der religiösen Macht, in Jerusalem, als auf dem flachen Land, auf dem die Pharisäer die Exponenten dieser neuen Hoffnung waren. In Jerusalem hingegen hatten die Sadduzäer das Sagen, die sich für die reine Lehre des Jahweglaubens verantwortlich fühlten und sich in der heftigen Bestreitung eines Lebens nach dem Tod als die Lordsiegelbewahrer des reinen Glaubens vorkamen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Jeremia nicht Jenseitshoffnungen, sondern die Erfüllung realer irdischer Hoffnungen in Aussicht stellte.

Was ergibt sich daraus für uns? Offensichtlich als erstes dies, daß wir im Sinne Gottes, im Sinne seiner guten Absichten mit den Menschen handeln, wenn wir in den ganz gewiß sehr unterschiedlichen Möglichkeiten unseres Lebens – anders bei einem Politiker, anders bei einem Unternehmer, wieder anders bei einem Ruheständler – uns für Gerechtigkeit und Solidarität einsetzen. Hier eröffnen sich gerade im Bereich der Zivilgesellschaft viele Möglichkeiten, die von freien Initiativen, von freien Trägern, und nicht von der Politik und der öffentlichen Hand getragen werden. Hier ein waches Auge und ein waches Ohr zu haben, geht in die Richtung der Intentionen, mit denen Jeremia damals vor die Leute trat.

Nur dürfen wir hier nicht zu „Machern“ werden wollen. Wir dürfen nicht der Ideologie erliegen, als könnten wir die bessere und gerechte Welt endgültig schaffen. Es ist exakt keine Vertröstung auf ein Danach, wenn wir einsehen müssen, daß unser Leben sowohl im privaten wie im gesellschaftlichen Bereich nie wunschlos aufgehen kann. Mit uns ist immer schon mehr unterwegs, ein Mehr an Bedürfnissen und an Bedürftigkeit, das nicht einfach durch einen noch so tollen und gerechten „Wohlstand für alle“ saturiert werden kann. Das in letzter Zeit häufig zitierte Wort aus dem Joh-Evangelium, „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10), zielt nicht auf eine pralle Lebensfülle, in der wir unseren feisten Wams vor uns hertragen und im Wohlstand nur so schwimmen. Die „Fülle“, von der in Joh 10,10 die Rede ist, meint nicht einen Speckgürtel, den wir uns selber anfüttern (um dann zu merken, daß mit ihm nicht die Fülle, sondern unsere Probleme wachsen!). Sie meint unsere existentielle Offenheit für mehr, für einen Wirklichkeitsbereich, den uns nur Gott eröffnen kann. Den er uns bereits in diesem Leben eröffnet, den er aber zum Abschluß, zur Fülle bringen wird im Jenseits des Lebens.

Auf diese tieferen Dimensionen unseres Lebens den Blick zu richten, ist kein Verrat an den bodenständigen alltagsorientierten Verheißungen des Jeremia. Unser Glaubensblick hat sich im Laufe der jüdisch-christlichen Glaubensgeschichte geweitet auf einen neuen Horizont, der sich als Geschenk Gottes an uns nach unserem Leben auftut. In der Auferstehung Jesu ist uns dieser Horizont am verläßlichsten deutlich geworden, wie Paulus als erster schriftliche Zeuge bezeugt: „Gesät wird in Verweslichkeit, auferweckt wird in Unverweslichkeit.“

Nur noch einmal, eine Vertröstung auf später, über der wir die schreienden Herausforderungen unseres Lebens, unserer gesellschaftlichen Verhältnisse übersehen, ist damit nicht angesagt. Im Gegenteil. Indem wir auf Gerechtigkeit bedacht und in Solidarität mit einander umgehen, schwenken wir auf die Handlungslinie ein, in der Gott nach den Worten des Propheten Jeremia damals an den Menschen rettend gehandelt hat. Sie erreichten das Heimatland. Das wird dann auch von uns gelten: „Dann werden sie in ihrem Heimatland wohnen“ (Jer 23,8).

Prof. Dr. Stefan Knobloch
Dr.Stefan.Knobloch@t-online.de

 


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