Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

2. Advent, 5. Dezember 2004
Predigt über
Matthäus 24, 1-14, verfasst von Hans-Hermann Jantzen
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Liebe Gemeinde,

die Adventszeit ist bei uns ganz von der Vorfreude auf Weihnachten bestimmt. Heute haben wir schon die zweite Kerze am Adventskranz angezündet. Die Wohnungen sind geschmückt. Kekse werden gebacken und geheimnisvolle Päckchen gepackt. Wenn man abends durch die Straßen geht, ist die Stadt festlich erleuchtet. Kerzen grüßen aus den Fenstern der alten Giebel am Sande. Auch wenn uns die Hektik und der Rummel bisweilen auf die Nerven gehen, so erleben wir diese Wochen doch auch immer wieder als eine Zeit der erwartungsvollen Freude. Wir bereiten uns auf das große Fest vor.

Das ist die eine Seite der Adventszeit. Es gibt noch eine ganz andere. Wer ein wenig mit der Geschichte unserer Kirche und ihrer Feste vertraut ist, der weiß: Advent war in den ersten Jahrhunderten vornehmlich eine Zeit der inneren Einkehr, der Buße. Die liturgische Farbe Violett und die etwas kargere Ausgestaltung der Liturgie im Gottesdienst (kein gloria in excelsis!) erinnern noch daran. Adventus – Ankunft – das meinte nicht nur die Geburt des Heilands, sondern mehr noch die Wiederkunft Christi als Weltenrichter. Die Menschen bereiteten sich weniger auf ein fröhliches Geburtstagsfest vor als vielmehr auf den wiederkommenden Herrn. Im Advent bedachten sie ihr Leben im Angesicht des kommenden Gerichts. Diese Töne bestimmen bis heute den zweiten Adventssonntag in Liedern und Lesungen. „Mit Ernst, o Menschenkinder, das Herz in euch bestellt.“ So sind wir schon im Eingangslied eingestimmt worden. Ganz deutlich dann im Wochenlied: „Der jüngste Tag ist nicht mehr fern, komm, Jesu Christe, lieber Herr!“ Und im Evangelium haben wir von den Zeichen gehört, die mit dem Kommen des Menschensohnes verbunden sind. In diese Richtung weist auch der Predigttext für diesen Sonntag. Ich lese Matth. 24, 1-14.

Das sind für die meisten von uns eher befremdliche Adventstöne. Um einen Zugang dazu zu gewinnen, sollten wir uns Folgendes klar machen:

Zur Zeit Jesu und in den folgenden Jahrzehnten, als die neutestamentlichen Schriften entstanden sind, war die Luft geradezu geschwängert mit apokalyptischen Bildern und Erwartungen. Die Menschen waren überzeugt, dass das Ende der Welt, des alten Äons, unmittelbar bevorstand. Alles, was um sie herum geschah, deuteten sie als Vorzeichen dieses Endes, vor allem natürlich die Kriege und Katastrophen, Verfolgung und Unterdrückung. Das erlebten sie ja alles hautnah: zwei große Erdbeben - im Jahre 37 n.Chr. in Antiochia und 62 n.Chr. in Pompeji – hatten Hunderte von Toten gefordert und die ganze alte Welt erschüttert. Krieg gab es immer in irgendeiner Ecke des römischen Reiches. Als Matthäus sein Evangelium verfasste, war es noch gar nicht lange her, dass römische Truppen den Tempel in Jerusalem dem Erdboden gleich gemacht hatten. Das, was Matthäus Jesus hier über den Tempel sagen lässt, war also bereits Realität. Es stand schon kein Stein mehr auf dem andern. Und auch die Nachrichten von Verfolgungen der jungen christlichen Gemeinden wurden immer bedrohlicher. Kein Wunder, dass dies alles den „Stoff“ abgibt, aus dem die Beschreibungen der Endzeit gemacht sind. Ich denke, das ist eine wichtige Feststellung: der Text gibt keine Vorhersagen für die Zukunft ab; sondern er beschreibt den Ist-Zustand. „So ist das in unserer Welt! Seht ihr nicht das alles?“

Wir wissen heute, dass die damaligen Schrecken nicht der Anfang vom Ende waren. Die Geschichte ist weiter gegangen. Fast 2000 Jahre sind seither ins Land gegangen. Es hat sich noch viel Schrecklicheres ereignet. Was würden wir heute aufzählen an Schreckenszeichen? Womit würden wir den Niedergang der Welt veranschaulichen? Vielleicht die Inquisition und die Hexenverbrennungen; die Konzentrationslager der Nazis; den Völkermord der Hutus an den Tutsis in Ruanda; die Terroranschläge überall auf der Welt; oder Kindesmissbrauch und Mord in unserm eigenen Land... „So ist das in unserer Welt! Seht ihr nicht das alles?“

Gott sei Dank hat es auch immer wieder Friedensperioden und Blütezeiten gegeben. Zeiten, in denen die Menschen aufatmen und sich des Lebens freuen konnten. Wir werden uns daher hüten, konkrete geschichtliche Ereignisse und Katastrophen gleichzusetzen mit Vorzeichen des Weltendes und den Zeitpunkt dieses Endes daraus berechnen zu wollen. Allerdings ist das kein Grund, den Text achselzuckend beiseite zu legen: vergangenes Weltbild, geht uns nichts mehr an! Er enthält durchaus etwas, was mich auch heute anspricht und ermutigt. Wenn ich genau hinsehe und hinhöre, wie Jesus mit der apokalyptischen Tradition seiner Zeit umgeht, dann erschließt sich mir eine doppelte Botschaft:

1. „Seht zu und erschreckt nicht!“ Jesus redet nicht mit den Jüngern, um sie das Fürchten zu lehren. Er stellt keinen Fahrplan für das endzeitliche Drama auf. Genau genommen bekommen die Jünger auf ihre Frage: „Sage uns, wann wird das geschehen, und was wird das Zeichen sein für dein Kommen und für das Ende der Welt?“ ja keine wirkliche Antwort. Jesus antwortet auf einer andern Ebene. Es geht ihm nicht ums Bescheid wissen. Es geht ihm nicht um eine klare Datierung des Weltendes. Es geht ihm um die Lebenseinstellung zur eigenen Gegenwart. Und darum macht er den Jüngern Mut. Mut zur Nachfolge in einer schwierigen Gegenwart. "Seht euch um,“ sagt er zu ihnen. „Es passieren schlimme Dinge, die euch auch persönlich treffen können. Aber das ist nicht das Ende. Das ist nicht der Untergang, sondern nur Vorspiel zum Reich Gottes. So wie sich eine Geburt durch Wehen und unter Schmerzen ankündigt, so sind die bedrohlichen Geschehnisse um euch herum die Geburtswehen einer ganz neuen Welt. Lasst euch nicht irre machen: Gott kommt zu den Menschen! Er verwandelt die gegenwärtigen Schrecken in Freude. Er verwandelt diese Welt in einen neuen Himmel und eine neue Erde. Darum: Erschreckt nicht!“

Hören Sie die adventlichen, ja die weihnachtlichen Klänge? „Erschreckt nicht!“ – „Fürchtet euch nicht! Denn euch ist heute der Heiland geboren.“ Die Geburt der neuen Welt Gottes kündigt sich in der Geburt des Kindes in der Krippe an.

2. Der zweite Teil der Botschaft: „Es wird gepredigt werden das Evangelium vom Reich in der ganzen Welt zum Zeugnis für alle Völker.“ Nicht nur der Appell: „Erschreckt nicht! Fürchtet euch nicht!“, sondern zugleich eine Art Verhaltensanweisung, wie die Christen die Zeit des Wartens ausfüllen sollen. Das Warten auf die Geburt der neuen Welt Gottes ist kein passives Warten. Christen stecken nicht den Kopf in den Sand angesichts der Bedrängnisse der Gegenwart. Sie legen nicht die Hände in den Schoß angesichts von Schrecken und Katastrophen, es sei denn, um die Hände zu falten und zu beten. Der Advent Gottes fordert uns zu einem aktiven Warten heraus: das Evangelium vom Reich Gottes predigen in Wort und Tat! Das ist das herausragende Kennzeichen der kommenden Welt. Überall da, wo das Evangelium gepredigt und mit der Tat der Liebe bezeugt wird, da verliert die Gegenwart ihre Schrecken. Da verwandelt sie sich schon jetzt ansatzweise in die neue Welt. Denn die Botschaft vom Reich Gottes öffnet das, was ist, auf das hin, was sein wird. So ereignet sich schon jetzt Advent.

Und auch hier wieder die weihnachtlichen Anklänge: „Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird!“ Die Verkündigung des Engels war es, die die Hirten in Bewegung gebracht hat; die ihr Leben neu gemacht hat, auch wenn die Schafe dieselben blieben und die nächste Nacht wieder genauso kalt und dunkel war wie die vorigen Nächte. Und diese Botschaft hat sich ausgebreitet in alle Welt: „Es wird gepredigt werden das Evangelium vom Reich in der ganzen Welt zum Zeugnis für alle Völker.“

Mag sein, dass wir Christen in Europa uns damit schwerer tun als anderswo in der Welt. Zu sehr leben wir in den gewohnten bequemen Bahnen. Und auch wenn wir inzwischen viel von Reformen und Aufbruch reden und die rasanten gesellschaftlichen Veränderungen vielen Angst machen, hat sich unser Denken noch nicht so sehr geändert. Wir rechnen kaum mit dem verändernden Schwung, der vom Evangelium ausgeht. Wir reiben uns nur verwundert die Augen, wenn wir z.B. aus Afrika, aus Südamerika oder aus China hören, wie rasant sich die frohe Botschaft ausbreitet; wie Menschen plötzlich ihre Angst überwinden und sich trauen, ungerechte Zustände anzusprechen, auch wenn sie deshalb leiden müssen. Im Lichte des Evangeliums von der Geburt Gottes, vom Kommen seines Reiches, bleibt eben nichts so, wie es ist. Vielleicht verstehen die Christen in jenen Ländern darum auch die apokalyptischen Texte der Bibel viel unmittelbarer als wir, weil die Gegenwart, die da beschrieben wird, vielfach ihre eigene bedrängende Gegenwart ist. Wir wollen uns das um Gottes willen nicht für uns wünschen! Aber vielleicht können wir doch daraus lernen und Hoffnung schöpfen, welche unmittelbare Kraft von dieser Botschaft vom kommenden Reich ausgehen kann.

Das Michaeliskloster in Hildesheim, unser neues Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik, ist für mich Ausdruck einer solchen kraftvollen Hoffnung. Trotz dramatischer Einbrüche auf der Einnahmenseite und entgegen der allgemeinen Klage, jetzt gehe gar nichts mehr, hat es die Landeskirche gewagt, einen deutlichen Schwerpunkt auf die Mitte des kirchlichen Auftrags zu setzen: mit Predigt, Liturgie und Musik das kommende Gottesreich verkündigen und dadurch den Menschen schon jetzt einen Vorgeschmack des Himmels geben!

Oder ein anderes Beispiel: als ich im November durch meinen Sprengel gefahren bin, um mich mit Kirchenvorständen und kommunalen Friedhofsträgern, mit Bestattern und Steinmetzen, mit Kirchenmusikern und Pastoren über Veränderungen in der Bestattungskultur auszutauschen, war für mich das wichtigste Ergebnis: unsere christliche Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde muss auch darin aufleuchten, wie wir unsere Friedhöfe und Beerdigungen gestalten! Anonyme Bestattungen unterm Rasen oder lieblose Reihengräber mit dem fernsehergroßen Einheitsstein eignen sich mit Sicherheit nicht dazu. Ganz anders eine aussagekräftige Bepflanzung oder eine Stele, die mit einem Symbol die Wertschätzung des Verstorbenen ausdrückt: die Brücke, die Gräben überwindet; oder das Schiff, das den Stürmen des Lebens trotzt. Solche Gräber müssen übrigens keineswegs pflegeintensiv sein. Anlässlich der Wendländischen Friedhofstage konnte ich in Wustrow etliche gelungene Mustergräber bewundern. (Da habe ich richtig Lust bekommen, selber einmal dort zu liegen.) -

Liebe Gemeinde: Advent zwischen dem gekommenen und dem kommenden Gott, das ist nicht nur Vorbereitung auf ein schönes Fest, sondern ein ermutigender, hoffnungsvoller Rahmen für unser Leben und Sterben, ein Hoffnungsimpuls für die ganze Welt. Dazu regt uns der heutige Predigttext an. So möchte ich Advent feiern: aufmerksam wahrnehmen, was um mich her passiert; in dem, was ist, immer auch schon das sehen, das daraus werden kann; mich nicht entmutigen lassen von Schreckensmeldungen, von Leid und Enttäuschungen, von Sachzwängen und fehlenden Finanzmitteln, sondern beharrlich und gelassen der frohen Botschaft vom kommenden Reich Gottes trauen.

Und natürlich zünde ich auch weiterhin die Adventskerzen an. Ich brauche sie, um meine kleinen Hoffnungen und Sehnsüchte daran zu wärmen und um mir klar zu machen: ich muss die Zukunft nicht im Griff haben. Advent heißt: Gott kommt auf mich zu, und darum kann ich mich auf meine Möglichkeiten beschränken.

Ich wünsche uns allen einen gesegneten Advent.

Amen.

Hans-Hermann Jantzen, Hasenburger Weg 67, 21335 Lüneburg
Landessuperintendent der ev.-luth. Landeskirche Hannovers für den Sprengel Lüneburg
E-mail: hans-hermann.jantzen@evlka.de


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