Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Christvesper, 24. Dezember 2004
Predigt über
Johannes 3, 16, verfasst von Rüdiger Lux
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Liebe Gemeinde,

»...sind denn solche Feste dazu da, daß man durcheinander kommt? Daß man daliegt und nicht schläft?« Mit diesen Sätzen schließt Johannes Bobrowskis Weihnachtserzählung »Unordnung bei Klapat«. Der mürrische Klapat sitzt in seiner SA-Uniform in der Christmette. Und er fragt sich: Wieso spricht Hochwürden vom Frieden, wo wir jetzt Krieg haben? Das bringt ihn ganz durcheinander. Da steht einer, der spricht nicht von der Welt, wie sie ist, sondern von der Welt wie sie sein könnte. Der redet nicht von steingrauer Uniform, Soldatenehre und vom Krieg, in den auch Klapats Sohn gezogen ist, sondern vom Frieden. »Frieden, wo jetzt Krieg ist. Paßt alles nicht, hinten und vorne nicht, denkt Klapat.« Und dann wälzt er sich die halbe Nacht schlaflos im Bett und fragt sich: Sind denn solche Feste dazu da, dass man durcheinander kommt? Sie sind es!

Heute, in der Christnacht, will uns Gott einmal ordentlich durcheinander bringen. Und wir sollen uns das einfach gefallen lassen, dass Gott uns und unsere Welt durcheinander bringt. Wodurch aber ist der Mensch durcheinander zu bringen? Durch den Tod und die Liebe!

- Durch den Tod, das bedarf kaum einer Begründung. Da sitzen wohl einige unter uns, die im zurück liegenden Jahr einen ihnen nahestehenden Menschen begraben mussten. Nichts ist mehr wie es einmal war. Hätte er doch diesen Abend noch miterleben dürfen. Das Singen des Chores hat mir Wolfgang Unger in Erinnerung gerufen, unseren Universitätsmusikdirektor. Herausgerissen mitten aus dem Leben, seiner Familie, dem Chor der Musik. Das hat uns durcheinander gebracht.

Durcheinander gebracht durch die Liebe? Auch das kommt vor. Und davon wissen zuallererst die Verliebten. Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war. Wenn die Leidenschaft der Liebe lodert, dann sind nur noch Ich und Du, diese zwei. Und um sie herum versinkt ihnen die Welt. Es ist ihnen als wären sie im Paradies. Denn das kann sie sein, die Liebe, wenn sie mehr ist als Gier, eine glückliche Störung.

Heute also will Gott uns ordentlich durcheinander bringen durch den Tod und die Liebe. Von beidem redet das Wort, das dir das Johannesevangelium an diesem Abend zuspricht:
»Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.«

Also hat Gott die Welt geliebt! An diesem einen Satz hängt alles, der ganze christliche Glaube. Wer das erfassen will, der muss von unsrer Sehnsucht nach Liebe sprechen. Was tut der Mensch nicht alles, um geliebt zu werden? Sei lieb! Willst du wohl lieb sein!? Kinder kennen diese Melodie. Und wenn sie gefruchtet hat, dann geben sich der Jüngling, die junge Frau liebenswürdig, erfolgreich, begehrenswert und attraktiv. Sie versuchen es mit Witz und mit Charme, mit einem dicken Geldbeutel oder schnellen Auto, mit Partnerkursen und Kommunikationstraining, mit Singelpartys und Gymnastikstunden. Und wenn alles zu spät, verloren scheint, dann wird das Operationsmesser des Schönheitschirurgen zur letzten Chance. Der Mensch arbeitet sich ab an seiner Sehnsucht nach Liebe. Meine Ehe, soll das schon alles gewesen sein? Meine Kinder, sind sie mir nicht längst entglitten? Meine Kollegen, kann ich vor ihnen bestehen? Das ganze Leben, eine einzige Hatz nach Anerkennung und Liebe. Immer getrieben von der Peitsche »Sei lieb, sei erfolgreich, sei schön!«. Immer gejagt von der Angst: Ich werde es nie erfahren, das Paradies der Liebe, nie mehr. Immer unterwegs als Geschwister Adams und Evas, die aus dem Paradies vertrieben wurden. Wir suchen viele Künste, um wieder hinein zu kommen. Wir arbeiten uns ab an der Liebe. Aber da steht ja, wie die Bibel erzählt, ein strenger Cherub mit dem lodernden Flammenschwert und verwehrt uns den Eintritt.

Ein Schulbub , der von seinem Lehrer einmal gefragt wurde, was denn Adam und Eva so gedacht haben, als sie aus dem Paradies vertrieben wurden, antwortete in seinem typisch erzgebirgischen Dialekt: »Iech denk, dr Adam kunnt ze seiner Fraa sogn: Eva, tu ner gut aufpassen – un ball dar Dingrich (Cherub) amol weg is, gitt’s widder nei!« So sind wir. Wir passen gut auf. Wir mühen uns, arbeiten uns ab an der Sehnsucht nach Liebe, und bleiben doch »draußen vor der Tür«, vor der Tür des Paradieses, vor der Tür der Liebe, vor der Tür des wahren Lebens. Das ist Adam, der Mensch. Das bin ich. Bin ich das?

Heute, am Weihnachtsabend, wird diese Welt der unerfüllten, angestrengten Liebe kräftig durcheinander gebracht. Durcheinander gebracht mit einem einzigen Satz: Also hat Gott die Welt geliebt. Dein Witz und dein Charme? Umsonst! Dein Erfolg und deine Attraktivität? Umsonst! Deine Verrenkungen und Anstrengungen? Umsonst! Gott liebt dich umsonst. Und er tut das auch nicht erst, wenn du fein brav bist, klug und erfolgreich, irgendwann in der Zukunft. Er hat das längst getan. Wir suchen nach der Liebe im Futur, haben immer nur das »noch nicht« im Blick, das Unerfüllte. Uns ist die Liebe ein ständiges uneingelöstes Versprechen. Gottes Liebe aber ergeht im Perfekt. Sie ist perfekt, vollkommen, schon jetzt! Er hat die Welt geliebt. Und von dieser Liebe hat er nichts zurückgenommen. Sie gilt bis auf diesen Tag. »Heut schleußt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis...«. Jetzt »gitt’s widder nei!«

Wie das? Ist denn unsere Welt nicht alles andere als ein perfektes Paradies? Sie ist es, sie ist es! Und von ihren Dunkelheiten und Lieblosigkeiten muss ich euch nichts erzählen. Die kennt ihr so gut wie ich. Weihnachten aber feiert die Christenheit, dass Gott selbst rausgekommen ist vor die Tür. Er hat den Himmel verlassen, das Paradies, um in dieser ganz unparadiesischen ganz und gar nicht perfekten Welt mitten unter uns zu sein. Der große Gott als kleines Kind, der Vater begegnet im Sohn. Das will nicht in unseren Kopf und unser Herz. Das bringt unsere Gedanken und unsere Welt durcheinander. Er - mitten unter uns als Kind in der Krippe von Bethlehem, als Mensch unter Menschen. Er - draußen vor der Tür?

- Warum tut er das? Aus lauter Liebe zur Welt! Aus Liebe zu Adam und Eva, zum Menschen, aus Liebe zu dir. Denn Gott ist die Liebe. Präziser und kürzer kann man nicht sagen, was die Christenheit in dieser Nacht feiert. »Gott ist Liebe« (1 Joh 4,8)! Und wo die Liebe ist, da ist das Paradies. Da fallen die Grenzen zwischen draußen und drinnen, zwischen Freund und Feind, zwischen schuldig und unschuldig. Da muss ich mich nicht länger quälen, um Erfolg und Anerkennung buhlen. Wo die Liebe ist, da muss man sie sich nicht erst noch verdienen, da muss man sie nur für sich dasein lassen. Ich liebe dich, das Bekenntnis der Verliebten, was heißt es denn anderes als ich bin für dich da?

- Und noch einmal: Warum tut er das? Warum verlässt er das »schöne Paradeis« und tauscht es ein gegen den zugigen Stall von Bethlehem und das Kreuz auf Golgatha? Damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben.

Vielleicht sitzt da jetzt der eine oder andere unter uns und denkt: An ihn glauben, ich würde ja gern, aber - wie macht man das? Auch Klapat, der SA-Mann in der Weihnachtserzählung Bobrowskis, grübelt in seiner Kirchenbank. Glauben – Hochwürden redet vom Frieden, wir aber haben Krieg und der Sohn liegt im Felde. Spricht denn nicht alles gegen den Glauben an den Frieden mitten in einer Welt von Zank, Hass und Krieg, gegen das ewige Leben mitten in einer Welt des Todes? Sind wir nicht längst verloren? Ist denn nicht jede Stunde, jeder Tag, jedes Jahr, jede Weihnacht nur ein gnädiger Aufschub auf dem Weg in die Grube? Wie kann man da glauben, wie macht man das?

Der Glaube beginnt nicht damit, dass man etwas macht, sondern dass man etwas an sich geschehen lässt. Damit, dass wir uns in unserer wunderbaren und zugleich tödlichen Welt durcheinander bringen lassen. Durcheinander bringen lassen nicht nur durch die kleinen und die großen Kriege, sondern durch den Frieden, wie es Klapat widerfuhr. Durcheinander bringen lassen nicht nur durch den Hass und die Wut, sondern durch die Liebe. Durcheinander bringen lassen nicht nur durch den Tod, sondern durch die Hoffnung auf ewiges Leben. Durcheinander bringen lassen durch Gott, dadurch, dass man ihn einfach für sich dasein lässt.

- Nicht irgendwann einmal, sondern jetzt, in dieser Stunde, in den Liedern, der Musik, der Stille, dem Lichterglanz, dem Wort – Gott für sich dasein lassen.
- Und nachher am Gabentisch, beim Leuchten der Kinderaugen – Gott für sich dasein lassen.
- Morgen bei einem guten Essen Gott in den Gaben seiner Schöpfung für sich dasein lassen.
- Beim Weihnachtsspaziergang in der klaren, kühlen Winterluft – Gott für sich dasein lassen.
- Am Krankenbett, wenn die Schmerzen wieder kommen – Gott für sich dasein lassen.
- In der Angst aussortiert zu werden, zu den Verlierern am Arbeitsmarkt zu gehören – Gott für sich dasein lassen.
- Wenn du enttäuscht und verletzt wurdest von einem Menschen, der dir nahe steht – Gott für sich dasein lassen.
- Wenn du schuldig geworden bist, vor dir selbst erschreckst und dich verachtest – Gott für dich dasein lassen.
- Wenn dir deine Welt aus den Fugen geraten ist und du nicht mehr ein noch aus weißt – Gott für dich dasein lassen.

Unser Glaube lebt nur aus dieser einen Kraft, daraus, dass wir Gott in seiner Liebe für uns dasein lassen.

»Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.«

Martin Luther hat dieses Wort gerühmt: »O, wenn einem dieser Spruch im Sterben einfiele, wenn’s an die letzten Züge geht, daß einer an den Spruch allhier gedächte..., der könnte nicht untergehen, sondern würde erhalten.« Und wir wissen, dass er sich dieses Wort in seiner Sterbestunde dreimal selbst vorgesprochen hat. Also auch dann, wenn es an’s Ende geht – Gott für sich dasein lassen. Das ist unser Glaube. Ein Glaube, der nicht nur das Leben, sondern auch den Tod heilsam durcheinander bringt.

Keiner hat das tiefer erfasst, dieses Weihnachtsgeheimnis, das Geheimnis des Glaubens, als Paul Gerhardt, der das Kind in der Krippe einfach für sich dasein ließ.

»Ich lag in tiefster Todesnacht,
du wurdest meine Sonne,
die Sonne, die mir zugebracht
Licht, Leben, Freud und Wonne.«

Amen

Liedvorschläge
Vor der Predigt: EG 27,1-6
Nach der Predigt: EG 37,1-4

Prof. Dr. Rüdiger Lux
lux@rz.uni-leipzig.de


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