Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

1. Weihnachtstag, 25. Dezember 2004
Predigt über
Lukas 2, 1-14, verfasst von Arne Ørtved (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Volkszählung! Gibt es überhaupt etwas, was mehr entwürdigend und menschenfeindlich ist? Den Menschen einfach auf eine Zahl zu reduzieren, auf eine Nummer in einer Reihe. Reine Quantität. Egal, wer sie sind, was sie können, wie sie sind, was sie denken und fühlen, wie es ihnen seelisch und körperlich geht.

Ja, es geht nur um die Zahl. Ins Glied mit dir: eins zwei drei... viertausend – fünftausend – sechstausend – sieben Millionen – acht Millionen – neun Millionen. Danach können die Zahlen in Tabellen eingearbeitet, in Kurven und Grafiken dargestellt, auf Konferenzen vorgelegt werden, in Berechnungen aufgenommen, zum Objekt von Verhandlungen gemacht werden: so und so viele geben so und so viele, und in zehn Jahren sind es dann so und so viele.

Wo ist das Blut, das Lächeln, das Herzklopfen, Händedrücken, Weinen und Lachen? Wo ist die Hoffnung, die Sehnsucht, die Trauer und der Schmerz? Wo sind die Familienbande, und wo die Eifersucht zwischen Geschwistern? Wo sind Lebensmut und Todesangst?

Was sind fünf Millionen Dänen gegen den warmen kleinen Leib eines Kindes, das in bunte Tücher gewickelt und seiner Mutter an die Brust gelegt wird? Was ist der eintönige Lärm eines Zählapparates gegen die weinerlichen Laute aus dem Munde eines Kindes, während die Mutter sachte singt, damit der Kleine sich geborgen und sicher fühlt?

Es sind die Kaiser, die Volkszählungen anordnen. Und Präsidenten, Regierungen, und heutzutage auch Produzenten, Warenhäuser, Marktanalytiker, Meinungsmacher, Zukunftsforscher, Planer. Das ist alles ohne Tadel. Und man kann kaum darauf verzichten, aber unmenschlich ist es, egal, in wie hohem Maße das alles angeblich um der Menschen willen geschieht.

Es ist und bleibt gegen die natürliche Ordnung oder richtiger gegen Gottes Ordnung, wenn Menschen zu reinen Zahlen werden. Und nirgends kommt das deutlicher Zum Vorschein als gegenüber dem neugeborenen hilflosen Kind; das Kind kann nämlich nicht richtig als eine Zahl gelten, sondern erhält seine ganze Existenz von der Liebe und Fürsorge der Mutter. Und hier nimmt das Kind einen unendlich großen Raum ein.

Volkszählungen sollen ans Licht bringen, wie viele Einwohner es gibt: wieviele Steuerzahler, wieviele Kunden, wieviele Wählerstimmen, wieviele Patienten, wieviele Soldaten. Ja, die Kaiser und Regierungen haben Soldaten. Die marschieren in Reih’ und Glied. Oder sie werfen sich nieder und fangen an, um sich zu schießen; je mehr sie treffen, desto besser. Und der Vorgesetzte lobt Soldat Nr. 712 für einen Volltreffer.

Hirten haben Fürsorge zu leisten und Leben zu beschützen. Das Leben der Tiere. Sie arbeiten nicht nach Befehlen, sondern sie sind auf wunderbare Weise an die Tiere geknüpft, auf die sie aufzupassen haben. Sie können sofort sehen, wenn eines fehlt, und sie fangen gleich an, nach ihm zu suchen. Und wenn es zu Schaden gekommen ist, waschen sie die Wunden des armen Tieres und pflegen es und sorgen für es. Die Hirten rufen einander natürlich beim Namen, und oft geben sie auch den Tieren Namen. Das ist schön. Leben verbindet sich mit Leben.

Der Kaiser gibt seine Befehle, erlässt seine Dekrete, unterschreibt die Gesetze, spricht die Urteile... Vielleicht tut er das nicht alles selbst; dann aber tut es der Apparat: die Minister, Beamten, Obersten, Richter, Büttel. Kaiser Augustus war Diktator; er hätte auch ein demokratischer Präsident sein können. Das ist in unserem Zusammenhang einerlei. Regiert muss werden.

Das kleine Kind in der Krippe kann nicht regieren oder irgendwas unterschreiben. Es ist völlig wehrlos und ganz und gar abhängig davon, dass sich jemand seiner annimmt. Auf diese Weise ähnelt das Kind den aller­ersten Menschen; noch ehe es Länder mit Grenzen gab, Regierungen, Heere, Postwesen und Zählapparate. Das Kind ähnelt Adam und Eva, als Gott sie zu lebendigen Seelen gemacht hatte, indem er ihnen Lebensatem in die Nasenlöcher gepustet hatte.

Der Kaiser kann oft nachts nicht schlafen. Da ist so viel zu bedenken. Pläne für den kommenden Tag. Ärgernisse vom vergangenen Tag. Spekulationen darüber, wozu er alle die Zahlen verwenden kann... Und dann ist da die Angst. Sie ist das Schlimmste. Der Kaiser hat viele Feinde; und sie können schwer ausfindig zu machen sein. Es gibt sie in seiner engsten Umgebung, ja in seiner eigenen Familie. Wenn er auch unablässig von Wächtern umgeben ist, muss er auf der Hut sein.

Es ist nicht nur der Kaiser, der die Angst kennt; wir alle lernen sie kennen. Es gibt so viele Dinge, die auf einen lauern, auch wenn man gar keine direkten Feinde hat. Plötzlich kann etwas passieren; oder man kann sich eine tödliche Krankheit zuziehen. Die Angst kommt oft einfach so, ohne dass man sie erklären könnte. Und sie kann jedem Menschen schlaflose Nächte bereiten.

Das Kind in der Krippe schläft so sorglos. Es hat die Angst noch nicht kennen gelernt. Adam und Eva kannten die Angst auch nicht vor dem Sündenfall. Ehe sie selbst wie Gott sein und Gut und Böse kennen wollten. Ehe sie aus dem natürlichen Leben herausfielen, hinein in das Leben, in dem man zählt und zählt und zählt.

Wenn der Kaiser nicht schlafen kann, befiehlt er die gesamte Unterhaltungsindustrie zu sich: die Flötenspieler, die Bauchtänzerinnen, die Narren, Poeten, Sänger, Schauspieler. Das besänftigt für eine Weile und macht die Qualen der Nacht ein bisschen erträglicher. Zu dem Zeitpunkt beginnt der Kaiser zu gähnen, und da ist es an der Zeit, ein Gutenachtlied zu singen... Sie gibt es bis heute, die Unterhaltungsindustrie. Wir brauchen nur das Fernsehen einzuschalten. 90% oder mehr ist Unterhaltung. Glücksspirale, Film, Gesang, Show, Sport, Wettbewerbe. Du kannst sie auf allen Kanälen sehen; und es sind dieselben, obwohl sie in verschiedenen Sprachen vor sich gehen. Es muss viel sein, was da besänftigt und vergessen werden soll.

Plötzlich wurde die Finsternis über dem Felde, wo die Hirten saßen, von einem mächtigen Licht zerrissen. Und sie sahen himmlische Heerscharen. Eine Stimme rief ihnen zu: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch eine große Freude, die für das ganze Volks sein wird; denn heute ist euch ein Erlöser geboren in der Stadt Davids; es ist Christus, der Herr. Und eine backing-group sang: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! Das war keine Unterhaltung; das war keine besänftigende Verdrängung von Angst und Schmerz. Nein, das war Freude, Überwindung der Angst, Licht in der Finsternis!

Das ist so völlig anders als unsere Zählwelt. Das Kind in der Krippe bringt uns auf die Spur: Wenn ihr nicht wie Kinder werdet, kommt ihr überhaupt nicht in das Reich Gottes. Ja, hier ist nämlich vom Reich Gottes die Rede. Plötzlich bricht es wie ein Licht in der Finsternis herein, wie eine Geburt mitten in der Volkszählung, wie eine Schar von Hirten unter Soldaten, die auf dem Holzwege waren, wie Engelsgesang, der alle die heiseren Popsänger und lächerlichen Wettbewerbe um die ebenso lächerlichen Kronen und Öre übertönt.

Das Krippenkind! So völlig anders, und doch mit Ahnungen von etwas, das wir einmal gekannt haben, und das es noch immer unter uns gibt: Ein Leben in Liebe und Vertrauen, ein Leben, in dem man daist, als der, der man wirklich ist, und nicht als eine Zahl, als eine Nummer, ein Kunde, ein Fernseher, ein Wähler. Ein Leben, in dem man die himmlischen Heerscharen hören kann, wie sie von der Freude für das ganze Volk singen: dass ER geboren worden ist, dass ER hier gewesen ist und noch immer hier ist: Christus, der Herr.

Aber die Welt lärmt, um zu übertönen. Die Zählapparate schnurren; die Kanonen donnern; die Präsidenten regieren, und das Fernsehen unterhält uns, bis wir kaputtgehen. Aber immer wieder taucht das entgegengesetzte Bild auf, das Bild vom Kind in der Krippe und der glücklichen Mutter, die es in Tücher gewickelt hat und nun ein sanftes Lied summt. Ein Lied von den Hirten auf dem Felde und den himmlischen Heerscharen.

Das setzt sich Jahr für Jahr durch. Jetzt wurde er geboren, er, der uns durch das Leben begleitet, er, der Freuden und Sorgen mit uns teilen wird. Er, der zusammen mit uns durch Leiden und Tod gehen wird. Er, der auf diese Weise das Reich Gottes in unser Leben hineinlebt.

Manchmal starren Pastoren und andere kirchlich engangierte Leute besorgt auf die Welt und denken: Wie soll das nur gehen? Die Leute denken ja überhaupt nicht an Gott und seinen lieben Sohn. Sie sind so besessen von ihren eigenen Angelegenheiten und beschäftigt mit so vielerlei Dingen. Sie werden völlig erdrückt von den Volkszählungen und all ihrem Wesen.

Zu Weihnachten werden alle Sorgen zu Schanden. Da zeigt sich wieder einmal, dass das Kind in der Krippe und das Evangelium, das es mit sich bringt, stärker sind als alle Kaiser und alles, was sie und ihre Handlanger, einschließlich uns selbst, in die Wege leiten können. Das ist ganz einfach unbegreiflich. Niemand anders als eben Gott kann mit der Welt und der Menschheit so spielend leicht umgehen. Die himmlischen Heerscharen hatten wirklich gute Gründe für ihren Gesang in jener Nacht:

Ehre sei Gott in der Höhe und Friede
auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.

Frohe Weihnachten! Amen.

Pastor Arne Ørtved
Storegade 10
DK-7330 Brande
Tel. +45 97 18 01 91
E-mail: aoe@km.dk

Übersetzt von Dietrich Harbsmeier


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