Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

2. Weihnachtstag, 26. Dezember 2004
Predigt über
Matthäus 23, 34-39, verfasst von Lars Ole Gjesing (Dänemark)
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Es wohnt ein kolossaler Realismus im christlichen Glauben. Eine Erkenntnis des Zustandes der Dinge auf dieser Erde. Da gibt es niemanden, der einem etwas auf den Arm binden wollte. Obwohl der Ausgangspunkt das ist, was wir in der Weihnachtszeit feiern, dass der Gott, der den Menschen und ihrer Erde aus Liebe Leben geschenkt hat, direkt in die Welt gekommen ist – obwohl dies der Ausgangspunkt ist, so verbirgt sich darin keine Vorstellung, dass damit alles gut wäre. Wenn überhaupt irgendwo die Unordnung der Welt und ihre grundlegende Zweideutigkeit festgehalten wird, dann geschieht das hier im Hause.

Die Zweideutigkeit der Welt ist ja dies, dass es gut und böse neben einander gibt, dass Leben und Tod, Hass und Liebe um die Macht kämpfen, ohne dass jemand von vornherein der einen oder der anderen Seite die Macht und die Ehre und das Reich zuerkennen könnte. Wir sehen, dass sich das Leben gegen den Tod zu behaupten vermag, aber wir sehen auch, dass jedes Leben mit dem Tod endet. Wir sehen auch, dass es dem Bösen oft gut geht und dem Guten schlecht. Wir sehen auch – besonders heute am Stephanitag -, dass der, der sich am stärksten zur Liebe Gottes bekennt, Gefahr läuft, Mächten zum Opfer zu fallen, die es anders wollen. – Alles höchst realistisch, und es entspricht unserer gewöhnlichen Erfahrung.

Der christliche Glaube behauptet nicht, dass die Welt anders aussieht, als sie tatsächlich aussieht, und anders, als wir sie sehen. Aber er nimmt Partei! Im Streit zwischen Gut und Böse und zwischen Leben und Tod steht der christliche Glaube auf der Seite des Lebens, und zwar so, dass wir zu glauben wagen, dass Gott selbst ein Feind von Tod und Untergang ist. Ja, das Evangelium – sowohl das Weihnachtsevangelium als auch das Osterevangelium – sagen genau dies, dass Gott Partei ergriffen hat, dass er für das Leben und die Liebe einsteht, für die er die Erde geschaffen hat.

Aber das ist ja gerade das, was nicht einleuchtet. Die Welt hat ja ihre Zweideutigkeit nicht abgelegt, nachdem Jesus hier gewesen ist. Der Kampf rast weiter mit unverminderter Stärke zwischen Leben und Tod. Die Welt hat sich nicht verändert, nur weil zum ersten Mal Weihnachten gewesen ist.

Obwohl wir uns hier im Hause jetzt zu dem Glauben daran bekennen, dass Gott das Leben liebt und den Tod hasst, sind wir doch fortgesetzt Menschen, die verlieren und sterben müssen. Und hier wimmelt es mit Fragen, die sich stellen. Wenn Gott das Leben liebt und den Tod hasst, warum gibt es dann den Tod? Wenn alle Macht im Himmel und auf Erden dem Tod widersteht, wie kann es ihn dann geben? Und wie können alle seine Begleiterscheinungen wie Krankheit, Hunger, Krieg, Missmut, Verfolgung usw. so gut gedeihen, wie das der Fall ist? So gut, dass wir nicht umhin können zuzugeben, dass die Welt genauso zweideutig ist wie vorher?

Es ist die uralte Frage nach dem Bösen. Wie kann es das geben, wenn Gott gut ist? Auf diese Frage gibt es keine ordentliche Antwort. Genau dieser Realismus ist so typisch für den christlichen Glauben, dass er daran festhält, dass es das Böse gibt, ganz unwiderlegbar und machtvoll. Auf der anderen Seite kann man sehr wohl die Frage beantworten, warum es keine Antwort auf das Problem des Bösen gibt. Weil nämlich eine jede angemessene Erklärung, die man für das Böse geben kann, ihrerseits der Sache des Bösen dient! Eine Erklärung besteht ja darin, wahrscheinliche Gründe für die Existenz des Bösen anzugeben, und sobald man wahrscheinliche Gründe dafür angeführt hat, hat man ihm das Recht zugesprochen dazusein. Deshalb ist es gut und richtig, dass es keine Antwort auf das Problem des Bösen gibt. Jede Erklärung des Leidens und des Bösen ist selbst böse. Sie findet sich nämlich mit dem Bösen ab, anstatt es zu bekämpfen und sich der Notleidenden anzunehmen.

Von Anfang bis Ende – d.h. von Weihnachten bis Ostern – tat Jesus selbst genau dies. Er bekämpfte Böses und Tod durch Heilung, Trost, Speisung, Auferweckung und mancherlei Fürsorge, und er forderte jeden anderen auf, ebenso zu handeln: sich dem Bösen in den Weg zu stellen, soweit die Kräfte reichten. Das ist der Glaube Jesu, dass man, wenn man sich zur Liebe Gottes bekennt, danach handeln muss. Aber wenn ihn jemand fragte, woher das Böse komme und warum es existieren könne, dann gab er keine Antwort. Denn wer hier antwortet, wird ein Diener des Bösen. Vielmehr tat er etwas anderes. Er nahm selbst das Leiden und das Böse auf sich, die ihn gar nichts angingen. Er tat es mit offenen Augen. Er tat es in dem Glauben, er könnte damit Gott dazu bewegen, sein wahres Gesicht zu zeigen. Es war Jesu Hoffnung, dass Gott der Liebende war, der den Tod nicht auf ewig würde wüten lassen. In diesem Glauben gab er sein Leben und vermochte Gott dazu, sein Angesicht am Ostermorgen zu zeigen, sich als den zu zeigen, der den Tod nicht dulden will.

Es ist christlicher Glaube, dass Gott an dem Morgen sein wahres Gesicht gezeigt hat. Dass die ganze Zweideutigkeit der Welt nur vorläufig ist, dass der Tod das Spiel verloren hat, so dass wir ruhig hier leben können, obwohl es auf den Tod zugeht. Genau dies taten Stephan und die vielen anderen Märtyrer im Lauf der Jahrhunderte. Sie ließen nicht zu, dass das Böse sie überwand, denn sie hatten dieselbe Hoffnung und denselben Glauben, den Jesus hatte, als er sich auf das Menschenleben einließ. Amen.

Pfarrer Lars Ole Gjesing
Søndergade 43
DK-5970 Æreskøbing
Tel.: ++ 45 – 62 52 11 72
E-mail: logj@km.dk

Übersetzt aus dem Dänischen von Dietrich Harbsmeier


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