Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Altjahresabend, 31. Dezember 2004
Predigt über Jesaja 30, 8-11.15, verfasst von Martin Evang
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Morgen Abend wird die Neujahrsansprache des Bundeskanzlers gesendet. Da Neujahrsansprachen bereits einige Tage vor Neujahr aufgezeichnet zu werden pflegen, konnte man schon heute etwas darüber in der Zeitung lesen. Aber auch wer das nicht getan hat, weiß im Allgemeinen, was ihn erwartet: ein Rückblick auf Probleme und Erfolge des Jahres 2004, ein Ausblick auf Chancen und Herausforderungen 2005, Ermutigung der Besorgten – denn viele sehen mit Sorgen auf das neue Jahr, vor allem wegen der Sozialreformen –, Aufruf zu Leistungsbereitschaft und Solidarität. Das etwa steht für morgen zu erwarten.

Bereits heute Abend macht uns die Ordnung der Predigttexte einen Abschnitt aus dem Buch des Propheten Jesaja zur Neujahrsansprache. Auch sie wurde schon vor Neujahr aufgezeichnet, und zwar vor über 2700 Jahren. Der Abschnitt beginnt geradezu mit dem Aufzeichnungsbefehl, den der HERR, der „Heilige Israels“ höchstselbst, seinem Propheten erteilt hat:

8 So geh nun hin
und schreib es vor ihnen nieder auf eine Tafel
und zeichne es in ein Buch,
dass es bleibe für immer und ewig.

Mit dem Anspruch „für immer und ewig“ werden Neujahrsansprachen von Bundeskanzlern nicht aufgezeichnet. Nach ihrer Ausstrahlung wandern sie ins Archiv. Erinnern Sie sich an die Aufregung, als vor ein paar Jahren eine Sendeanstalt versehentlich die Neujahrsansprache des Vorjahres ausstrahlte? Zwar spotteten böse Zungen, man hätte das überhaupt nicht bemerkt – vieles klingt ja wirklich von Jahr zu Jahr gleich; aber natürlich gab es aktuelle Bezüge zum Vorjahr, an denen man den Missgriff gemerkt hat.

Auch der Jahrtausende alten prophetischen Ansprache, die uns durch die Predigttextordnung zur Neujahrsansprache wird, merkt man natürlich an, dass sie aus dem Archiv kommt: Abteilung „Hebräische Bibel“, christlich „Altes Testament“ genannt, Unterabteilung „Große Propheten“, laufende Nr. 1 „Jesaja“, Kapitel 30. Schon das gewählte Speichermedium – „schreib es vor ihnen nieder auf eine Tafel und zeichne es in ein Buch“; Spezialisten übersetzen sogar: „grabe es ein in Erz“ –, schon das Speichermedium verrät das Alter. Aber „für immer und ewig“ bleiben sollte die prophetische Ansprache offenbar nicht nur aus archivarischem Interesse, sondern aus folgendem Grund: Aktuell – im Königreich Juda gut 700 Jahre vor Christus – war sie einfach nicht willkommen und wurde sie weder gehört noch angenommen.

9 Denn sie sind ein ungehorsames Volk
und verlogene Söhne,
die nicht hören wollen die Weisung des HERRN,
10 sondern sagen zu den Sehern:
„Ihr sollt nicht sehen!“
und zu den Schauern:
„Was wahr ist, sollt ihr uns nicht schauen!
Redet zu uns, was angenehm ist;
schauet, was das Herz begehrt!
11 Weicht ab vom Wege,
geht aus der rechten Bahn!
Lasst uns doch in Ruhe mit dem Heiligen Israels!“

Nach dem Urteil des Propheten, ja, des ihn sendenden „Heiligen Israels“ verschließt sich das Volk bzw. seine Repräsentanten notwendigen Wahrheiten, weil sie unbequem sind. Deshalb soll die prophetische Ansprache, die uns heute zur Neujahrsansprache wird, für die Zukunft aufgezeichnet werden. „Für immer und ewig“ ist dabei, zugegeben, etwas zu stark übersetzt. Der Prophet meint zunächst eine absehbare Zukunft, in der die Adressaten, die sich seiner Botschaft jetzt verweigern, gar nicht mehr anders können als zuzugeben: „Er hatte ja so Recht! Hätten wir doch nur auf ihn gehört.“

Diese absehbare Zukunft – vielleicht ein Jahr, vielleicht fünf, vielleicht fünfzig Jahre – ist heute längst vorbei. Über zweieinhalbtausend Jahre sind vergangen. Aber horchen wir doch einfach die prophetische Ansprache mit dem Interesse ab, ob sie als Neujahrsansprache, zu der sie uns heute wird, noch aktuelles Potential enthält; ob sie also tatsächlich – sozusagen – „für immer und ewig“ etwas zu sagen hat.

* * *

An wen aber wollen wir die Polemik des Propheten, als Neujahrsansprache 2005 verwendet, gerichtet sein lassen? An den Bundeskanzler? An die Bundesregierung? An die politische Klasse oder die diversen politischen Klassen von vor Ort bis weltweit? Denn der Prophet damals wendet sich ja auch, obwohl er „ungehorsames Volk“ sagt, offenbar nicht an das Volksganze in Juda, schon gar nicht an die kleinen Leute, sondern, wenn ich so sagen darf, an das besondere Völkchen der politischen Gestalter. Und tatsächlich: unangenehmen Wahrheiten auszuweichen oder sie bis zur Unkenntlichkeit zu verpacken, konkret: Propaganda, Schönfärberei, die Erzeugung eines freundlichen Anscheins und, als Kehrseite davon, die Herabsetzung von anders Denkenden als Schwarzmaler, Angstmacher oder Katastrophenpropheten – das sind Dinge, die in der Welt der Politik immer wieder vorkommen; darauf könnten wir die ätzende Kritik Jesajas wohl anwenden: Sie sind „verlogene Söhne“; sie gleichen Leuten, die „zu den Sehern sagen: ‚Ihr sollt nicht sehen!’ und zu den Schauern: ‚Was wahr ist, sollt ihr uns nicht schauen! Redet zu uns, was angenehm ist; schauet, was das Herz begehrt!’“

Aber Vorsicht! Vorsicht aus doppeltem Grund! Erstens sind die Politiker in unserem Gesichtskreis – anders als in Jesajas Königreich Juda – als solche nicht dem „Heiligen Israels“ verpflichtet, sondern den geltenden Gesetzen, den erklärten Regierungsprogrammen und ihrem Gewissen. „Lasst uns doch in Ruhe mit dem Heiligen Israels!“ oder auch: „Lasst uns doch in Ruhe mit dem dreieinigen Gott!“ – das dürften, das sollten unsere Politiker sogar sagen, wenn jemand, z.B. der Repräsentant einer christlichen Kirche, versuchen würde, sie religiös unter Druck zu setzen.

Zweitens funktioniert in unserer Gesellschaft die Kritik von Propaganda und Schönfärberei insgesamt doch ziemlich gut. Den Regierungen stehen Oppositionen, den politischen Klassen ein breites Medienspektrum, den meinungsführenden und trendbestimmenden Teilen der Gesellschaft Bürgerinitiativen bis hin zu den großen NGOs, den Nicht-Regierungs-Organisationen, gegenüber. „Was wahr ist, sollt ihr uns nicht schauen!“ – mit einer solchen Haltung, von einer solchen Aussage ganz zu schweigen, würden sich heutige Politiker lächerlich machen.

Also doppelte Vorsicht damit, Jesajas Kritik an den damaligen Machthabern unbesehen als Neujahrssalve gegen Politik und Politiker unserer Tage abzufeuern! Mit viel größerem Recht dürften heute die christlichen Kirchen und ihre Repräsentanten ins Fadenkreuz der prophetischen Kritik geraten. Denn die Kirchen und ihre Akteure sind erstens tatsächlich als solche dem „Heiligen Israels“, den die Christen als dreieinigen Gott bekennen, verpflichtet. Zweitens werden sie in weiten Bereichen ihres Lebens längst nicht so wirksam beobachtet wie die politische Szene, weil sie die Öffentlichkeit – man muss es so deutlich sagen – schlicht nicht mehr interessieren. Ich rede nicht von den Bischöfen und Präsides der Landeskirchen, nicht von der EKD und ihrem Ratsvorsitzenden, die immer noch beachtliches öffentliches Interesse finden. Aber was sich in Kirchengemeinden und Kirchenkreisen abspielt: wo wird darüber heute überhaupt noch berichtet aufgrund eigenständiger Recherche? wo wird es heute überhaupt noch kommentiert aufgrund unabhängiger Urteilsbildung? wo wird es heute noch öffentlich kritisiert nach Maßstäben, die nicht aus der Selbsteinschätzung und Selbstauslegung kirchlicher Autoritäten gewonnen sind?

Wenn es wirklich so ist, dass große Teile des kirchlichen Lebens ohne eine kritische öffentliche Begleitung auskommen müssen – was tut dann die Kirche, was tun dann wir in der Kirche selbst, um dieses Manko auszugleichen? „Redet zu uns, was angenehm ist!“ karikiert der Prophet die Erwartung der Mächtigen an die Propheten. Wie stellen wir in der Kirche sicher und wie fördern wir es, dass das um des „Heiligen Israels“ willen Notwendige auch dann vernehmlich und wirksam zu Wort kommt, wenn es – gerade kirchlichen Funktionsträgern – unangenehm ist? „Schauet, was das Herz begehrt!“ persifliert Jesaja die quasi offizielle Erwartung an das prophetische Wirken. Wie schaffen wir in der Kirche ein Bewusstsein dafür und wie gehen wir dann praktisch damit um, dass das, was im Namen des „Heiligen Israels“ zu sagen ist, gerade den kirchlich hoch Verbundenen und den offiziellen Repräsentanten der Kirche ärgerlich, ja lästig sein könnte?

Zwei Umstände machen diese Fragen besonders dringlich. Der eine besteht darin, dass aktive Gemeindekerne – und entsprechend auch die von diesen gewählten Leitungsgremien – oft weitgehend homogene, begrenzte – mit einem Fremdwort: „bornierte“ – Milieus bilden, in denen die Harmonie gepflegt, dagegen kritische Anfragen als unnötig und Konflikte als störend empfunden werden. Geschwisterlichkeit erschöpft sich in Nettigkeit, und höher als Aufrichtigkeit stehen wechselseitige Schonung und Verschonung im Kurs. „Was wahr ist, sollt ihr uns nicht schauen!“ geißelt der Prophet eine Mentalität, die – kann man es bestreiten? – in unserer Kirche oft anzutreffen ist.

Der andere Umstand, der uns als Kirche die Neujahrsansprache Jesajas zur Gerichtsrede macht, ist die komplizierte Rolle der Pfarrer in diesem Gefüge. Einerseits: Wer, wenn nicht wir Pfarrer, die wir zur öffentlichen Verkündigung des Wortes Gottes bestellt sind, hätte das prophetische Amt, auf solche Gefahren hinzuweisen und Missstände beim Namen zu nennen? Wer, wenn nicht wir Pfarrer, wäre berufen, das, was um des „Heiligen Israels“ willen zu sagen ist, auch dann laut zu sagen, wenn es den in der Kirche Einflussreichen unangenehm ist? Wer, wenn nicht wir, wäre berufen, kritischen Geist – und kritische Geister – in der Kirche zu ermutigen, Transparenz zu fordern und zu schaffen, Klüngel und Kungelei beim Namen zu nennen und auf Rechenschaft und Verantwortung zu bestehen? Aber andererseits: Wer, wenn nicht wir Pfarrer, sind denn die eigentlich Einflussreichen, die Machthaber in der Kirche? Wer in der Kirche unterliegt stärker den Gefahren des Amtsgebrauchs zu eigenen Gunsten als wir Pfarrer? Wem setzen wir Pfarrer, wenn wir denn unser prophetisches Amt in der Kirche entschlossen wahrnehmen, kritischer zu als uns selbst,

denen aus Gemeinde und Öffentlichkeit eine zwar wohltuende, aber auch – denn Gift schmeckt meist süß – nicht ungefährliche Wertschätzung entgegengebracht wird?
denen die Milieuverengung und Harmoniebedürftigkeit in Gremien zwar viele unnötige Konflikte erspart, aber auch viele nötige?
deren Nächsten- und Geschwisterliebe verdammt leicht wie Schmiergeld funktioniert?
die wir erfahrungsgemäß besser ankommen, wenn wir in unserer Verkündigung den Jesus Christus, der „Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden“ ist, dem Jesus Christus vorziehen, der „mit gleichem Ernst … Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben“ ist (Barmer theologische Erklärung II)?

* * *

Die 2700 Jahre alte prophetische Polemik, als Neujahrsansprache 2005 ausgestrahlt, zeigt sich beunruhigend aktuell. Vor allem uns Pfarrer, aber kaum minder die anderen kirchlichen Leitungspersonen sehe ich aufgerufen, genau hinzusehen, was in unseren Gemeinden und Kirchenkreisen von der prophetischen Attacke getroffen wird – welche Ereignisse, welche Gepflogenheiten, welche „bewährten“ Strategien usw. Wir, die wir mit der Verkündigung des Wortes Gottes und mit der Leitung der Kirche betraut sind und dabei in der Verantwortung vor dem „Heiligen Israels“ stehen, werden massiv provoziert: dazu provoziert, das, „was angenehm ist“ – nämlich uns und unserem Freundeskreis oder Fanclub oder Pfarrbezirk angenehm – und das, „was das Herz begehrt“ – nämlich unser eigenes Herz und das unserer speziellen Klientel – selbstkritisch zu unterscheiden von dem, was etwa dem „Heiligen Israels“ angenehm sein und was sein Herz etwa begehren möchte. Die alten Propheten und Jesus von Nazareth sind eine Inspirationsquelle, die so schnell nicht versiegt.

Darüber hinaus sehe ich die Gemeinden überhaupt provoziert, ihre evangelische Mitverantwortung für das kirchliche Leben, an der alle Gemeindeglieder teilhaben, auch durch eine bewusst kritischere Begleitung derer wahrzunehmen, denen mit bestimmten Aufgaben auch Macht und Einfluss übertragen ist. Speziell die etwas distanzierteren Gemeindeglieder, denen es ihre persönliche und berufliche Statur ermöglichen würde, auch eloquenten und im Strippenziehen virtuosen Kirchenfunktionären Stand zu halten und nötigenfalls entgegen zu treten – speziell sie sehe ich provoziert, ihre besondere Kompetenz als ein Charisma zu begreifen, auf das die Kirche einfach nicht verzichten kann. Guckt genauer hin! Fragt hartnäckiger nach! Mischt euch ungefragt ein! Lasst euch weder anfüttern noch abspeisen!

* * *

Ach ja, liebe Gemeinde, das war übrigens bisher gar nicht die ganze prophetische Ansprache, die uns heute zur Neujahrsansprache werden sollte, sondern nur ein paar einleitende Verse dazu. Die eigentliche Botschaft – von der der Prophet erwartet hat, dass sie zu seiner Zeit sowieso nicht gehört wird, und von der die Predigttextordner sich sicherlich vorgestellt haben, dass sie doch eine schöne Botschaft zum Jahreswechsel abgeben könnte –, die eigentliche Botschaft steht ein paar Verse später und lautet im Kern so:

15 So spricht Gott der HERR,
der Heilige Israels:
Wenn ihr umkehrtet und stille bliebet,
so würde euch geholfen;
durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein.

Die eigentliche Botschaft? Stand nicht auch schon in den vorigen Versen reichlich „eigentliche Botschaft“? Aber o.k.:

Kehrt um: Gewinnt die große Wahrheit und ihre kleinen Wahrheiten von neuem lieb!
Bleibt still: Verfallt weder in Panik noch in Hektik, vielmehr: fürchtet euch nicht!
Hofft: Traut dem Heiligen Israels zu, dass er das Unangenehme besonders bekömmlich macht!


Pfarrer Dr. Martin Evang, Düsseldorf
martinevang@web.de


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