Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Altjahresabend, 31. Dezember 2004
Predigt über Hebräer 13,8-9, verfasst von Dietz Lange
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Liebe Gemeinde!

Schon seit Tagen bringen die Zeitungen und das Fernsehen Jahresrückblicke. Vom nicht enden wollenden Desaster im Irak und in Palästina bis zur Reform des Gesundheitswesens in Deutschland, von Mordanschlägen in Spanien und den Niederlanden bis zu dem riesigen Seebeben in Südasien, von Literaturnobelpreisen bis zur Weltraummission zum Saturn: eine bunte Mischung von Katastrophenmeldungen - das vor allem - und Lichtblicken. Häufig ist hinter solchen Berichten die Tendenz zu spüren, dass alles immer schlimmer wird. Das kommt einer Neigung im persönlichen Leben entgegen, die wir alle kennen: Je älter ein Mensch wird, desto mehr vergoldet er die Vergangenheit. Früher war alles besser, heute gibt es nur noch Egoismus und Sittenverfall. Fragt man nach, wann denn dieses „Früher“ war, stößt man freilich auf Verlegenheit. War das etwa die Nazizeit? Doch sicher nicht. Oder die von Verleugnung des verflossenen Tausendjährigen Reiches und von materieller Gier geprägten ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik? Auch wohl kaum. Oder ganz weit zurück, vor der Aufklärung? Aber niemand wünscht sich die gnadenlosen Verketzerungen und Religionskriege zurück.

Die Vergoldung der Vergangenheit hat eher mit der Unzufriedenheit älter werdender Menschen, wie auch ich einer bin, mit unserem persönlichen Zustand zu tun. Unsere Generation ist nicht mehr tonangebend in der Gesellschaft, unsere Leistungsfähigkeit geht zurück, wir haben zunehmend das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Umgekehrt stellt die jüngere Generation oft einer angeblich völlig verderbten Gegenwart die Hoffnung auf eine von uns Menschen zu bauenden idealen Gesellschaft gegenüber, auch wenn da seit den ideologischen Gestalten solcher Hoffnung in den 70er Jahren eine gewisse Ernüchterung eingetreten ist.

So verändert sich nicht nur die Zeit, sondern auch unser Zeitgefühl im Lauf unseres Lebens. Nichts steht fest, alles ist im Fluss, wie schon die Weisen der Antike wussten. Aber in einer Zeit wie der unseren, die keine von der ganzen Gesellschaft anerkannte letzte innere Bindung kennt, wirkt dieses ständige Fließen besonders bedrohlich. Kein Wunder, dass viele Menschen heute ihr Heil in felsenfesten, objektiven Sicherheiten suchen. Ob das in westlichen Ländern und im vorderen Orient der religiöse Fundamentalismus ist oder in Osteuropa die Sehnsucht nach einem neuen autoritären Regierungssystem, oder ob man in der christlichen Kirche auf straffe Konformität in Lehre und Ritus drängt: allemal spielt die begreifliche Angst vor Veränderungen eine große Rolle. Denn der gesellschaftliche Wandel potenziert die Unheimlichkeit des Wandels in unserem persönlichen Leben, der uns dem Tode unausweichlich immer näher bringt. Was bleibt? Die Antwort scheint lauten zu müssen: Nichts, aber auch gar nichts.

Solcher Resignation setzt unser Glaube massiv entgegen: „Jesus Christus, gestern und heute, und derselbe auch in Ewigkeit.“ Nicht die katholische oder evangelische oder griechisch-orthodoxe Kirche ist dieselbe in Ewigkeit, auch nicht die Lehre von Christus oder die Gestalt des christlichen Gottesdienstes. Das alles hat sich im Lauf der Kirchengeschichte vielfach und gründlich gewandelt und musste sich wandeln. Denn die Christen mussten sich von Anfang an mit immer neuen religiösen und nichtreligiösen Lebensanschauungen auseinander setzen. Die haben ja immer auch auf die eine oder andere Weise auf die Kirche eingewirkt. „Lasst euch weder durch die Vielfalt von christlichen Lehren noch durch fremde Lehren irritieren“ - diese Mahnung war offenbar schon gegen Ende des 1. Jahrhunderts notwendig. Sicher sollen wir Christen uns um Konsens bemühen - aber nicht um den Preis der Wahrhaftigkeit. Vielfalt und Wandel wird es unter uns immer geben. Das ist auch überhaupt kein Unglück, denn keine noch so sorgfältige Interpretation der Bedeutung Jesu Christi gibt uns den festen Boden unter die Füße, den wir brauchen. Nur Jesus Christus selbst tut das, ohne jede Einschränkung, denn in ihm kommt Gott selbst zu Wort.

Dieser feste Boden ist nicht dazu da, dass wir fest und unverrückt auf ihm stehen bleiben. Gottes Volk ist auf der Wanderschaft - das ist das Grundthema des Hebräerbriefes. Die schlichte Lebenserfahrung gibt ihm darin Recht. „Leben heißt sich regen“ heißt es in dem Lied, das wir vorhin gesungen haben. Das gilt erst recht für den Glauben, das lebendige Vertrauen auf Gott. Denn Glaube ist ja das, was christliches Leben allererst in Gang setzt. Das heißt: Die ständige Veränderung, der nicht enden wollende Wandel ist etwas, das wir nicht zu fürchten haben, sondern ausdrücklich bejahen sollten! „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“, heißt es wenige Sätze nach unserem Predigttext.

Damit ist allerdings sogleich auch gesagt: Das ist kein Drauflos-Wandern, nach dem Motto: Mal sehen, wo ich dann ankomme. Das können wir nicht einmal tun, wenn wir im Urlaub in einer unbesiedelten Gegend wandern. Da brauchen wir ein Ziel, und dazu einen Kompass und eine ganz genaue topografische Karte. Sonst bleibt nur die Hoffnung auf den Rettungshubschrauber, und der kommt vielleicht zu spät. Erst recht brauchen wir so etwas wie einen Kompass in der komplizierten modernen Zivilisation. Zwar kann man da Leute nach Lebensorientierung fragen, aber man bekommt dann nicht eine Antwort, sondern eine verwirrende Vielfalt von Antworten.

Jesus ist dieser Kompass; er ist das verbindliche Wort Gottes an uns. Das klingt zunächst wie eine abstrakte theologische Formel. Es geht aber um etwas ganz Schlichtes. Jesus verkörpert mit seiner ganzen Person die Treue Gottes - Treue trotz unserer Unzuverlässigkeit, trotz unserer Neigung, auf bestimmte Vorurteile oder Lehrmeinungen zu schwören oder uns auf bestimmte Menschen zu fixieren. Auf diese Treue bauen wir. So und nur so kann der Glaube im Fluss der Zeiten gewiss werden und bleiben.

Das ist die „Festigkeit des Herzens“, von der unser Brief spricht. Ein festes Herz, ein fester Glaube - das weckt zwiespältige Gefühle. Einerseits wünschen wir uns das. Andererseits kann das aber auch eine Verfestigung von der Art sein, dass einer sich nichts sagen lässt und alle Zweifelsfragen einfach nur verdrängt. So jemand trägt seinen Kompass in sich selber: er glaubt an seinen eigenen Glauben. Seit in der Neuzeit immer klarer geworden ist, dass keine objektive Instanz, keine Institution und keine Lehre den rechten Glauben garantieren kann, betrifft diese Versuchung irgendwie uns alle. Der einzelne Christ wird dann sein eigener Papst. Aber die persönliche Krise, in die das irgendwann hineinführt, steht an Härte der kollektiven Krise nicht nach, die seit fünfhundert Jahren dem Zusammenbruch der objektiven Autoritäten gefolgt ist.

Unser Glaube wird gerade dadurch gewiss, dass wir letzten Endes alle Sicherheiten fahren lassen, die Sicherheit einer objektiven Instanz genauso wie die Selbstsicherheit dessen, der immer recht hat. Glaube heißt, das alles loszulassen, ganz und gar offen zu sein für die Richtung, in die uns Gott führen wird. Niemand weiß, wie die Vollendung des ewigen Lebens, auf die wir hoffen, aussehen wird - und wir brauchen es auch nicht zu wissen. Wir machen uns Vorstellungen davon, weil wir gar nicht anders können, aber selbstverständlich kann unser Vorstellungsvermögen das ewige Leben bei Gott nicht abbilden. Ebenso wenig wissen wir, was unsere irdische Zukunft oder auch nur das kommende Jahr uns bringen wird. Wir brauchen es auch nicht zu wissen. Zwar machen wir unsere Pläne und treffen unsere Vorkehrungen. Das müssen wir auch. Aber was dabei herauskommt, müssen und können wir getrost Gott überlassen. Glaube ist also ein Wagnis - aber ein Wagnis auf Gottes Zusage hin, dass er uns den Weg zeigen wird.

Gott hat in Jesus Christus sein Herz für uns geöffnet, ja er hat sich selbst für uns hingegeben. Diese Hingabe bedarf keiner Rückversicherung, sie bürgt für sich selbst. Gott will dadurch selbst unser Herz für sich aufschließen. Das meint der Hebräerbrief, wenn er sagt: Die Festigkeit des Herzens kommt durch Gnade zustande. Wer sich ganz auf Gott hin loslässt, gewinnt die unbedingte Bindung an ihn, die das Herz fest macht. Wer sich daraufhin von allen bloß menschlichen Bürgschaften im Vertrauen auf Gottes Zusage löst, wird offen für andere Menschen, und andere können sich uns öffnen. So kann sich der Glaube ausbreiten. Das klingt paradox, fast widersinnig. Aber die Erfahrung des Glaubens bestätigt es.

Gewiss gibt der Beginn eines neuen Jahres manchen Anlass zur Sorge, im persönlichen wie im öffentlichen Bereich. Das ist in jedem neuen Jahr so. Hinzu kommt die besondere Begabung von uns Deutschen zur Schwarzmalerei. Umso wichtiger ist für uns die treue Zugewandtheit Gottes: Jesus Christus, gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit. Er macht uns des ewigen Lebens gewiss, und er macht unseren Blick frei für das irdische Leben. Dann sehen wir nicht bloß die Bedrohungen, sondern vor allem die Chancen und Aufgaben, die Gott uns vor die Füße legt.

Amen.

Prof. Dr. Dietz Lange
Dietzlange@aol.com


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