Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Neujahrstag, 1. Januar 2005
Predigt über
Lukas 2, 21, verfasst von Lars Ole Gjesing (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Hier in der Neujahrszeit pflegen wir uns mit Recht auf das Jahr, das vergangen ist, und auf das Jahr, das kommt, zu besinnen. Wir hören die Neujahrsansprachen von Königin und Premierminister und können sie hoffentlich als Anlass und Hilfe benutzen, uns im Strom der Ereignisse zu orientieren und mit uns selbst ins Reine zu kommen, wo sich das dänische Volk zur Zeit befindet und welche Aufgaben in Angriff zu nehmen sind, was dabei wichtig ist und was weniger wichtig ist. Der Neujahrsgottesdienst befindet sich zwar nicht ganz im selben Raum wie die verschiedenen politischen und allgemeineren Bestandsaufnahmen, aber er hat doch auch ein Verhältnis zu den politischen und allgemeineren Neujahrsansprachen. Luther schimpfte seinerzeit darüber, dass Predigten zu Neujahr voller guter Wünsche und frommer Vorsätze seien, anstatt sich mit dem zu befassen, was ihnen der Text vorschrieb. Der Text ist ja so kurz, dass man wohl kaum übersehen kann, worum es darin geht: nämlich um die Beschneidung und die Namensgebung Jesu. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass es einen engen Zusammenhang gibt zwischen diesen beiden Dingen: den Bestandsaufnahmen und Jesu Beschneidung hier am achten Tag seines Lebens.

Vor acht Tagen feierten wir die Geburt, und alle Weihnachtslieder sprachen auf unterschiedliche Weise von derselben Sache, dass Gott Mensch geworden war, und sie befassten sich mit gutem Grund ausführlich mit dem eigentümlichen Zusammenstoß zwischen Gott und Mensch. Demgegenüber gibt es nicht so viele Lieder über die Beschneidung, obwohl sie ja recht deutlich den Zusammenstoß zwischen göttlich und menschlich und das darin enthaltene Anstoßerregende verschärft. Worin besteht der Anstoß? Er besteht ja darin, dass Gott sich weigert, unserer Erwartung zu ensprechen, dass er über den Wasssern schweben soll. Er mischt sich unters Volk. Und die Verschärfung von heute besteht dann darin, dass man sich ja nicht unters Volk mischen kann, ohne dass es ein bestimmtes Volk ist, unter das man sich mischt. Als Gott Mensch wurde, wurde er nicht bloß Mensch ganz allgemein, sondern Mensch eines betimmten Volkes. Die Beschneidung ist für sein Volk ja genau das Zeichen seiner Identität. Gott wurde Jude. Das ist der kurze Bescheid des kurzen Textes von heute. Und der trifft uns wie eine Überraschung und ruft uns auf zum Nachdenken. Denn wir haben eine fast unausrottbare Erwartung, dass Gott über den Wassern schweben können muss, ohne sich besonders mit bestimmten Menschen und ihrer Sprache und ihren Traditionen zu verbinden und ohne sich auf besondere Weise mit ihnen zu identifizieren. Wenn wir nun über dieses Anstößige nachdenken, was kommt dabei heraus? Was meinen wir im Grunde damit, wenn wir es auf etwas unklare Weise merkwürdig finden, wenn wir sagen, Gott wurde Jude. Leiden wir nicht eigentlich an einer kleinen verborgenen Verachtung des Jüdischen? An der Auffassung, dass das jüdische Menschenleben, so wie es existiert – aufgeteilt in Volk und Sprache und Kulturen –, für Gott zu klein ist? Dass dem Leben, das wir miteinander haben, so viel an Wesentlichkeit fehlt, dass wir uns nicht vorstellen können, wie das Göttliche darin enthalten sein und unser Leben in Volk und Kultur zu irgendwas gebrauchen könnte. Wir denken, nicht ganz klar, dass es kaum wirklich Gott sein kann, wenn er sich darauf einlässt, einem bestimmten Volk anzugehören. Wie gesagt ist diese Art des Denkens nahezu unausrottbar. Der Anstoß liegt sehr tief – er ist, was in der alten Bibelübersetzung Ärgernis hieß. Nicht die moralische Verärgerung, sondern eben der Zusammenstoß zwischen unseren geringen Erwartungen an das irdische Leben, das wir miteinander haben, und andererseits dem göttlichen Einzug in diese menschlichen Ordnungen. Das ist womöglich das Allerwichtigste, dass das Weihnachtsevangelium und das Neujahrsevangelium unter uns auszurichten haben: uns zu dem Verständnis zu bringen, dass sich genau an diesem Ort, wo wir sind, das Allergrößte, das Göttliche abspielt. Christlicher Glaube ist nicht, dem alltäglichen Leben in Volk und Gesellschaft, in Kultur und Politik den Rücken zuwenden, als gehörte das Religiöse in andere und höhere Sphären. Das Religiöse gehört genau hierher und entfaltet sich als Forderung und als Gnade in den Ordnungen, die wir miteinander haben. Unser Leben miteinander, so wie die Weltgeschichte es nun einmal eingerichtet hat, ist geheiligt durch die Liebe Gottes zur Welt und vollständig geheiligt durch Gottes Eingang in diese Welt und ihre Ordnungen.

Das bedeutet, dass zwischen den Neujahrsansprachen und dem Neujahrsgottesdienst der allerengste Zusammenhang besteht. Das engagierte Interesse daran, wie wir uns zusammen einrichten und unsere Probleme lösen, die in den Neujahrsansprachen bestenfalls zum Ausdruck kommen, dieses Interesse ist ein Teil des Lebens eines jeden Christenmenschen. Nicht in dem Sinne, dass wir auf christliche Weise mit einem Rezept versehen wären, wie das Dasein in unserem Volk einzurichten sei, sondern so, dass wir wissen, dass Barmherzigkeit und Liebe und Vergebung in eben der Welt, in die wir gehören, Wirklichkeit sind und sein sollen. Diese schwerwiegenden göttlichen Worte gehören hierher und nicht auf eine andere und besonders religiöse Ebene, die feiner wäre als die, auf der sich Königin und Premierminister bewegen, wenn sie versuchen, uns hier zum Jahreswechsel mit dem Überblick zu helfen. Als Gott Jude wurde, erhielt jede religiös begründete Weltflucht ihr Urteil, und wir wurden dazu bestimmt, ein Spiegel der Liebe Gottes zu sein, hier, wo unser Volk sich mit der Einrichtung unseres gemeinsamen Lebens abmüht. Amen.

Pfarrer Lars Ole Gjesing
Søndergade 43
DK-5970 Æreskøbing
Tel.: ++ 45 – 62 52 11 72
E-mail: logj@km.dk

Übersetzt aus dem Dänischen von Dietrich Harbsmeier



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