Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Erster Sonntag nach Epiphanias, 9. Januar 2005
Predigt über Matthäus 4, 12-17, verfasst von Wolfgang Petrak
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Liebe Gemeinde,

Es geht nicht anders. Auch wenn alles zusammenfällt und sich in einem Punkt verdichtet, müssen Wege gegangen werden.

Und so hat Jesus Nazareth verlassen, seinen Ort kindlicher Geborgenheit, dort wo die Eltern ihn auf den Arm und später bei der Hand genommen hatten, dort wo die Straßen vom Lachen spielender Kinder erfüllt waren und aus den geöffneten Fenstern Worte geschwisterlicher Auseinandersetzungen zu hören waren; dort, wo gebetet und gearbeitet und des Abends erzählt wurde, von früher und von den Fremden nebenan, die in der Stadt Sepphoris lebten und manchem aus Nazareth Beschäftigung geboten hatten –vielleicht hatte der Vater ihm mal ein Andenken von dort mitgebracht: All das ist vergessen, all das hat er verlassen. Jesus geht nach Kapernaum, das Dorf, dessen Straße zum See führt. Nach einer letzten Kurve ist er blitzernd blau zu erkennen, sein Zufluss zieht sich wie ein Band durch das Tal und bietet eine natürliche Grenze: sie könnte überschritten werden. Jesus, der Sohn Gottes, hat seinen angestammten Ort verlassen, um...ja, was eigentlich?

Die Frage nach dem Sinn bricht ganz anders auf. Dieses Bild des Wassers, friedlich und licht und warm, so wie es dem See Genezareth zu eigen ist, mit Fischen reich besetzt, sodass es auskömmlich Nahrung und Arbeit finden lässt, - gewiss, manchmal kann es auch stürmisch sein, aber das legt sich wieder: dieses Bild gibt es nicht mehr. Gibt es ihn?

Die Welt hat Weihnachten verlassen. Dieses Fest mit seiner kindlichen Freude, dem Glanz des Lichtes gegen Abend und den Gefühlen guter Geborgenheit, so wie wir es -nicht nur im sicheren Europa- zu feiern pflegten, ist zurückgeworfen durch die Gewalt der Flut. Tsunami ist seit dem 26. Dezember kein Fremdwort mehr, sondern das Wasser, das aus der Tiefe der Erde sich auftürmt, schmutzig und gewalttätig unzählbares Leben mit sich gerissen und vernichtet hat, von den Küsten Südostasiens bis nach Somalia und Tansania. In der ganzen Welt trauern Familien. In einander völlig fremden Sprachen müssen sich Menschen das gleiche fragen: wie sie weiter leben können.

Wir haben die Bilder im Kopf und in den Herzen, wir sehen, wie sich nach den Bildern der Zerstörung jetzt Bilder weltweiter Hilfe hinzukommen. Auch erreichen uns Bilder scheinbarer Normalität: Urlauber, die am Strand liegen und die Sonne nach den Tauchgängen genießen. Mein Kopfschütteln vom Fernsehsessel aus weiß nichts darüber, wie sehr Menschen in diesen Ländern auf Tourismus angewiesen waren und es auch wohl in Zukunft sein werden. Die Geste der Ablehnung ahnt nichts über den unbewussten Zwang, nach Schuldigen zu suchen, weil es der eigenen Entlastung und Absicherung dient. Doch die Gewalt der Natur kennt keine schuldigen Verursacher. Die Gründe ihrer zerstörerischen Kraft liegen in sich selbst. Das Anwachsen und Sich-Bewegen der Erdplatten, die Prozesse unterhalb des Erdmantels, in denen glutheiße Masse emporsteigt, sich abkühlt und wieder zur Erdmitte zurückfällt: das können Wissenschaftler berechnen und modellhaft verstehen, vielleicht sogar so genau, dass sich Ausbrüche besser prognostizieren und Menschen besser gewarnt werden können. Aber grundsätzlich die Erde hat eine andere Geschichte, und ihr gegenüber ist die Zeit des Menschen viel zu gering, als dass sich unser Suchen nach Sinn mit den Zufälligkeiten und Notwendigkeiten ihrer eigenen Entwicklung decken könnten. Im letzten SPIEGEL steht, wie vor 70 000 Jahren der Ausbruch des Vulkans Toba die klimatischen Bedingungen der Erde völlig verändert hatte, so dass nur wenige unserer Vorläufer aus Afrika und Asien dem Kältetod entkommen konnten; sie haben sich auf den Weg gemacht und so das Überleben der Menschen gesichert. Der Grund dieser Entwicklung liegt aber nicht in der Menschheit, sondern außerhalb von ihr. Und ihr Ziel?

Wieder eine Frage, die offen bleiben muss, wenn man daran denkt, dass die Antworten der Religionen aus einem viel kleineren Zeitraum stammen als den, den sie deuten wollen. „Unser Leben währet siebzig Jahre, wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre“, so heißt es im 90. Psalm, und:„Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bis du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit“. Die Deutung der Zeit des Menschen über seine Grenzen hinaus führt zu einer Aussage der Hoffnung, die den Erfahrungen gegenübersteht und nicht unmittelbar von ihnen gedeckt ist. Man muss hinausgehen, um zu deuten. Und so haben alle Religionen Grunderzählungen bewahrt, die über den Zeitraum des Menschen hinausgehen, haben von Einbrüchen der Natur, also von Katastrophen (von oben herab), vom Brüllen tief in der Erde, von tosenden Wassern erzählt und davon, dass der Mensch seinen Platz in der Welt hat. Dass er gefährdet ist und dass er gesichert leben soll. Von ‚majim’ von Wassern spricht der Schöpfungsbericht der Bibel, und von den Himmeln( schemaijim), die die Erde unsichtbar von den Wassern schützen. Es ist nur ein einziger Buchstabe, der den Unterschied ausmacht: so brüchig, so verletzlich kann das Leben sein. Auch wenn wir die Zusammenhänge der Evolution besser erkennen, die Zeiten genauer überblicken und die Entfernungen in Bruchteilen von Sekunden elektronisch überbrücken können, müssen wir sehen, dass wir über die mittelalterliche Erkenntnis nicht hinaus kommen: mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Es ist übrigens das Mittelalter gewesen, in dem der Ruf nach Buße laut zu hören war. Buße aber heißt Umkehr, und Umkehr heißt: nicht zu bleiben, wo man ist, sondern Sinn zu suchen.

Es ist Jesus, der nicht bleibt, wo er ist. Von Nazareth geht er nach Kapernaum, und von dort aus wird sein Weg weiter führen, weil es ein Weg des Lebens ist. Das nächste Dorf, die nächste StadtTiberias ließen sich nennen und Magdala, Gerasa und Bethsaida, aber auch Nagapattinam , Bam nicht zu vergessen und Beruwala: das global village wird dort menschlich, wo Menschen nicht im Schatten des Todes bleiben müssen. Und deshalb geht Jesus auf einen Berg, damit alle es hören können, was zu tun ist: den Nächsten zu lieben .

Ja, es gibt eine Frage, in der mir die Antwort auf die Frage nach Gott schwer wird, weil die Bilder bleiben. Doch ich kann dieses sehen, wie im Regen Notunterkünfte aufgebaut und Kinder medizinisch versorgt werden. Ich kann sehen, wie amerikanische Soldaten verschleierten Muslima in die Hände geben. Ich kann sehen, wie sich überhall hier die Hände öffnen. Wir dürfen hoffen, dass in dunkler Zeit gelernt worden ist: Licht zu geben für Menschen in der ganzen Welt.


P. Wolfgang Petrak
Schlagenweg 8a
37077 Göttingen, den 7.01.05
Tel: 0551/31838
e-mail: W.Petrak@gmx.de


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