Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Sexagesimae, 30. Januar 2005
Predigt über Markus 4, 26-29, verfasst von Ulrich Braun
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Dichten verboten – Ungereimtes vom Gottesreich

Nach Auschwitz könne und dürfe man keine Gedichte mehr schreiben. Dies Verdikt über die Lyrik hat Theodor W. Adorno 1949/51 in einem Aufsatz über Kultur und Gesellschaft verhängt(*). Ob es auch für die Rede vom Gottesreich gelten müsste, will mindestens erwogen sein.

So absurd ist es ja nicht, dass man sich auf dies Grauen keinen Reim machen kann und darf. Vor genau sechzig Jahren, am 27. Januar 1945 trat es nach der Befreiung der Lager von Auschwitz, Birkenau und Monowitz durch die Rote Armee offen zutage – und sprengt bis heute die Grenzen des Vorstellbaren. Millionen von Menschen sind industriell vernichtet worden. Da erscheint auch der Gedanke nicht abwegig, Gott müsse – wenn es ihn je gegeben hätte – ebenfalls tot sein.

An Adornos Lyrik-Verbot haben sich die Dichter gottlob nicht gehalten. Paul Celan, Peter Huchel und andere haben – stammelnd und tastend zwar – denen, die vom Erdboden vertilgt und in Rauch aufgegangen waren, wenigstens in Versen ein Gedächtnis gesetzt. Die Versen aber bewahren das Gefühl für das Ungeheuerliche, was Adorno eben zu seinem Verdikt gebracht hat: dass man sich darauf keinen Reim machen kann.

Unlesbarkeit dieser Welt. Alles doppelt., beginnt eins der Gedichte von Paul Celan. Die Verse Celans erzählen keine Geschichten. Sie enthalten Bruchstücke der Geschichte, die selbst in die Brüche gegangen ist, die sich allem Verstehen entzieht, auf die es keinen Reim geben kann – und die sich doch zugetragen hat. Die Rauchfahnen aus den Schloten der Vernichtungsfabriken durchziehen sein Werk und lassen ahnen, dass die Ascheschicht, die sich bei Westwind auf die Dächer des Städtchens Oświecim gelegt hatte, mehr war, als der Niederschlag anorganischer Partikel.

Seelenblind, hinter den Aschen,
im heilig-sinnlosen Wort,
kommt der Entreimte geschritten,
den Hirnmantel leicht um die Schultern,

Das Gleichnis vom Wachsen der Saat

Gar so dunkel und zerschlagen kommt die Rede vom Gottesreich nicht daher, die heute, am Sonntag nach dem sechzigsten Jahrestag der Befreiung der Lager von Auschwitz, Birkenau und Monowitz Predigttext ist. Vom aufgehenden Samen ist darin die Rede, davon, dass er von selbst wächst, während der, der ihn ausgebracht hat, gleichmäßige Tage und Nächte zubringt. Halm und Ähre und Korn wachsen in dem Gleichnis vom Gottesreich, und am Ende schickt der, der zuvor ausgesät hat, die Sichel; denn irgendwann ist die Zeit des Wachsens vorbei. Dann bleibt noch eine Frist der Reife. Dann ist Ernte.

Beim Evangelisten Markus klingt Jesu Gleichnisrede so:
Predigttext: Markus 4, 26-29
Und er sprach: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft. Und schläft und aufsteht, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht wie. Denn von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre. Wenn sie aber die Frucht gebracht hat, so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da.

Wenige Verse davor steht das weit bekanntere Gleichnis vom Sämann. Darin wird von den sehr unterschiedlichen Bodenbeschaffenheiten erzählt und von Folgen für das Gedeihen der Pflanzen. Es geht um günstigere und ungünstigere Bedingungen, und es geht um das Wort Gottes. Das Gleichnis malt uns Bedingungen, unter denen das Wort erst gar nicht einwurzeln kann oder nur unzureichend, um bald zu verkümmern. Anderwärts wird es nach erstem schnellen Wachstum doch von anderem überwuchert und vergessen. Als vierte Möglichkeit gibt es aber auch die Chance auf Wurzeln, Wachstum und schließlich Frucht – immerhin mit einer Chance von eins zu drei, was eine tröstliche Quote wäre.

Unser Predigtabschnitt setzt den Gedanken gewissermaßen fort. Er bietet die Nahaufnahme des guten Bodens. Von der darf man sich näheren Aufschluss über das Wachstum erhoffen, detailliertere Nachricht darüber, was es mit dem Gelingen des Gottesreiches sein will. Das Misslingen steht ja einigermaßen klar vor Augen: taube Ohren, harte Herzen. Zeitmangel, schnelles Vergessen im geschäftigen Alltag, heftige Strohfeuer der Erweckung und baldiges Abgelenkt-Werden. Jetzt also muss es herauskommen, wie es mit dem Wachsen des Gottesreiches ist.

Die Antwort ist kurz und so rätselhaft, wie es verdichtete Texte bisweilen sein können. Sie lautet: es wächst. Daran muss sich genügen lassen, wer Nachricht vom Gottesreich daraus erhofft. Wo die Saat ausgebracht ist, wird sie wachsen.

Ganz wenig genauer lässt sich sagen: Es wird wachsen. Und das bedeutet offenbar, dass nicht alles auf einmal da sein wird. Erst kommen die Keimlinge und ersten Halme, dann die Ausbildung der Ähre und schließlich ihre Reife. Eins kommt nach dem anderen. Und es gibt ein Ende. Die Pflanzen haben nicht unbegrenzte Zeit. Und sie wachsen nicht nur um ihrer selbst willen. Sie sind für einen Zweck bestimmt, der außerhalb ihrer sichtbaren Existenz liegt. Einmal kommt die Ernte. Dann wird gesichelt und gewogen, getrocknet und gedroschen, gemahlen und in dasjenige verwandelt, wofür die Kulturpflanzen überhaupt von Anfang an angebaut worden waren.

Was es mit dem Gottesreich ist? Nun, wo es ausgesät ist, wächst es. Was es einmal damit sein wird? Das liegt für den Augenblick außerhalb des Sicht- und des Sagbaren.

Vom steten Wachstum des Gottesreiches gehen die Verse des Evangeliums aus. Davon, dass sich das Wachsen nicht beschleunigen, aber offenbar auch nicht aufhalten lässt, was alles Zeug dazu hat, als schön und tröstlich empfunden zu werden. Einzig, dass es nach den Phasen des Gedeihens und Reifens eine Ernte geben soll, mag das Gemüt sensiblen Zeitgenossen beunruhigen, weil hier das Bildwort an unser Bewusstsein rührt, dass auch wir nicht unbegrenzt Zeit haben.

Darauf, wer da eigentlich aussät, was in dem Wort Gottes genau ausgesät wird, zu welcher Erntereife es wachsen soll und wer am Ende die Sichel schickt, darauf muss sich einstweilen jeder selber seinen Reim machen.

Keine Reime machen

Aber Reime machen ist schwierig. Seit die Nachrichten aus Auschwitz und Birkenau um die Welt zu laufen begannen, ist es nahezu unmöglich. Adorno meinte gar, es sollte geradezu verboten werden.

Die Mahnung hat ihr Recht. Es ist gut, den Versuchungen zu widerstehen, sich Reime zu machen, zum Beispiel auf das Verhältnis der Leiden und des Sterbens auf der Flucht aus Schlesien, Pommern und Ostpreußen zu dem Menschheitsfrevel von Buchenwald und Bergen-Belsen. Es ist gut, den Versuchungen zu widersagen und weder zu behaupten, das Bombeninferno von Dresden sei eine irgendwie verstehbare oder gar gerechtfertigte Folge von Dachau und Neuengamme, noch in einer bizzaren Vorstellung von moralischem Soll und Haben die Toten von Auschwitz, Birkenau und Monowitz den Kindern, Frauen und Alten gegenüberzustellen, die im Winter 1945 auf der Flucht erfroren sind. Als könnte der Tod der einen ein Konto ausgleichen, auf dem der Mord an den anderen zu Buche steht.

So weit so verständlich ist das Reime-Verbot Adornos. Und noch verständlicher ist es in dem Sinne, in dem es wohl tatsächlich gemeint war, dass nämlich die Orte glücklichen Rückzugs in das Schöne, Wahre und Gute durch das Wissen um das Grauen unzugänglich geworden sind.

Oświecim

Manchmal will es scheinen, mit der Vorstellung vom Gottesreich verhielte es sich ähnlich. Was kann an einem Ort noch wachsen, von dem einmal solches Grauen ausging?

Oświecim ist heute ein Städchen von etwa vierzigtausend Einwohnern. Es gibt eine Pizzeria und eine Discotheque. Die Eishockey-Mannschaft hat bereits mehrmals die polnische Meisterschaft gewonnen, was für eine Kleinstadt beachtlich ist. Aber der Schatten der Lager ist lang. Und in diesem Schatten will nichts recht wachsen.

Oświecim leidet unter dem allgemeinen Niedergang seiner Wirtschaft. Chemische Industrie war in der Gegend zwischen Krakau und dem polnischen Kohlerevier bei Kattowice lange der Haupterwerb. Die IG-Farben hatte sie während des Krieges hier angesiedelt und hauptsächlich mit Zwangsarbeitern und Häftlingen aus den Konzentrationslagern betrieben. Kein Wunder, dass kein Segen darauf lag.

Oświecim ist ein Städtchen, dem die Jugend abhanden kommt. Wer kann, geht zum Studium und zur Ausbildung in die großen Städte. Die wenigsten kommen wieder. Die Arbeitslosigkeit liegt bei zwanzig Prozent.

Sechshunderttausend Besucher zählen Lager und Museum Auschwitz im Jahr. Städte mit vergleichbaren Touristenzahlen schöpfen daraus einen gewissen Wohlstand. Nach Oświecim auf der dem Lager gegenüberliegenden Seite des Flusses kommt kaum jemand. Kaum einer bleibt länger, als es für den Besuch der Gedenkstätten nötig ist. Eine nennenswerte Zahl von Übernachtungen der Reisenden gibt es in der Stadt nicht.

Als der Bürgermeister von Oświecim in den neunziger Jahren ein Touristenzentrum plante, das mit Einkaufsmöglichkeiten und Gastronomie die Touristen locken sollte, hagelte es Proteste aus aller Welt. Ein „Disneyland des Grauens“ solle wohl entstehen, hieß es. Die Pläne wurden eingestellt.

Dass ist Oświecim Menschen leben, sich verlieben, Kinder haben, ihren Lebensunterhalt bestreiten und alt werden, ist kaum zu glauben. Auschwitz, Oświecim steht für das lang gestreckte flache Gebäude, in dessen Mitte ein Tor zu sehen ist. Eisenbahnschienen führen hinein. Wohl etwas mehr als eine Million Menschen ist durch dieses Tor gefahren worden, an die Rampe von Birkenau. Siebenhundert von ihnen haben versucht zu fliehen. Vielleicht dreihundert mag das gelungen sein. Die gestellten Flüchtlinge wurden entweder auf der Flucht erschossen oder durch Verhungern bestraft. Einige tausend Häftlinge wurden in den so genannten Todesmärschen aus den Lagern evakuiert, bevor die Rote Armee sie erreichte. Etwa siebentausendfünfhundert Häftlinge, die zu schwach für die Märsche waren, fand die Rote Armee am 27. Januar 1945 in den Lagern noch vor. Von den übrigen der mehr als eine Million Menschen, die in Viehtransportern in das Tor hinein gerollt waren, war bei Westwind ein Niederschlag anorganischer Partikel auf den Dächern von Oświecim geblieben.

Diesen Niederschlag ist das Städtchen, dessen Bewohner an dem Menschheitsverbrechen keine Schuld trifft, bis auf den heutigen Tag nicht losgeworden. Natürlich leben hier Leute, verlieben sich, haben Kinder und bestreiten ihren Lebensunterhalt. Ab und zu gewinnt die Eishockey-Mannschaft. Es gibt eine Pizzeria und eine Discotheque. Aber viele der Jungen gehen weg. Wenige kommen wieder. Im langen Schatten der flachen Todesfabriken ist fraglich, was überhaupt gedeihen kann und soll.

Vom Wachsen des Reiches Gottes

Der Dresdner Schülerpfarrer fährt regelmäßig mit Jugendlichen nach Auschwitz. Meist fährt er mit Gruppen Jugendlicher, die sich selbst rechts nennen. Die meisten tragen Springerstiefel und Bomberjacke. Etliche haben geschorene Schädel. Viele von ihnen waren zuvor straffällig geworden, oft durch ausländerfeindliche Übergriffe, durch Körperverletzungen und das Verbreiten von Hassparolen. Die meisten waren für gutes Zureden nicht zu haben. Manche haben sogar noch an der Rampe von Birkenau ihre Witze gemacht. Aber nur, weil sie es anders nicht ausgehalten haben. Viele sind danach ganz still geworden.

Insgesamt sind in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren weit mehr als zehn Millionen Besucher im Lager und in der Gedenkstätte Auschwitz gewesen. Jeder und jede hat Eindrücke mitgenommen und sie mutmaßlich andern weitererzählt. Wenn jeder Besucher zehn anderen von seinen Eindrücken berichtet hat, dann wären es schon einhundert Millionen, die mit diesem Ort in Verbindung getreten sind. Nimmt man wie im Gleichnis vom vierfachen Acker eine Quote von eins zu drei an, blieben immerhin noch fünfundzwanzig Millionen, bei denen die Botschaft auf fruchtbaren Boden fällt, Wurzeln schlägt und ein Wachstum, am Ende gar eine Reife zu erwarten ist.

Was da genau heranwächst, ist schwer zu sagen. Es wächst Langsam zwar und nach der Geschichte gewiss mühsam, aber es wächst. Daran muss sich auch genügen lassen, wer wissen will, wie es mit dem Reich Gottes sein will.

Dichten ist notwendig

Um der Ahnungen vom Reich Gottes willen ist es gut, dass sich die Dichter nicht an Adornos Lyrik-Verdikt gehalten haben. Gewiss, seine Mahnung, sich nicht an Orte selbstgenügsamer Kontemplation zu verflüchtigen, die will beachtet sein. Aber darüber hinaus bedarf es der Dichtung. Erstens: um die Gemordeten vor der totalen Vernichtung zu bewahren. Sie sollen nicht einfach fort sein, sondern sollen ein Gedächtnis haben. Zweitens ist Dichtung nötig, um Bilder neunen Lebens zu entwerfen.

Beides versucht der Film „Schindlers Liste“. Darin wird die Geschichte des deutschen Unternehmers Oskar Schindler erzählt, der als eine Art Kriegsgewinnler eine Fabrik vor allem mit jüdischen Zwangsarbeitern betreibt. Durch ihr Elend angerührt und von dem Vernichtungsinferno aufgerüttelt, setzt er nun alles daran, möglichst viele seiner Arbeiterinnen und Arbeiter zu retten. Er lässt eine Liste mit den Namen derer anfertigen, die für seine Arbeit unabkömmlich sind. Knapp dreihundert kann er so vor den Vernichtungslagern bewahren. Keine große Zahl angesichts der Millionen Gemordeter.

In der Schlusssequenz seines Films über Schindlers Liste lässt Steven Spielberg die noch Lebenden von dieser Liste an das Grab Oskar Schindlers treten. Eine Handvoll Leute kommt also über die Kuppe jenes Jerusalemer Hügels, auf dessen steinigem Rücken das Grab des Oskar Schindler liegt. Alt und gebrechlich sind sie geworden. Einige werden am Arm geführt, manche im Rollstuhl geschoben. Jeder legt nach jüdischem Brauch einen kleinen Stein des Gedenkens auf die Grabplatte.

Und dann kommen die Nachkommen der so genannten Schindler-Juden über die Hügelkuppe die Kinder zuerst, dann deren Kinder. Einige haben sogar schon Urenkel. Der Strom derer will schier nicht abreißen, die auf dem Grab Oskar Schindlers ein Steinchen des Gedenkens niederlegen. Durch all den Schmerz hindurch ist etwas gewachsen. Mit jeder Generation sind sie wieder mehr geworden. Nicht, um die Zahl derer aufzuwiegen, die getötet wurden, aber als Fortführung des Stromes des Lebens. Es wächst, man weiß nicht wie, aber es wächst.

Nördlich der Zukunft

Paul Celan hatte das Schweigen gebrochen, das Adorno hatte verordnen wollen. Ein Gedächtnis hat er mit seiner furchtbaren und grandiosen Todesfuge errichtet. An wenigen Stellen nur ist ein Fortgang des Lebens zu erahnen. Vorläufig muss es genügen, dass er schreibt. Ganz selten scheint etwas wie Zukunft durch die Splitter seiner Verse:

In den Flüssen nördlich der Zukunft
werf ich das Netz aus, das du
zögernd beschwerst
mit von Steinen geschriebenen
Schatten.

Eine letzte Geschichte vom Wachstum sei erzählt. Sie spielt in den Vereinigten Staaten von Amerika. Wir gehen also auf Abstand zu Oświecim und zur Rampe von Birkenau. Die Geschichte aus dem amerikanischen Süden ist vom Schriftsteller Allan Gurganus erdacht, und sie erzählt von der langen Zeit, die Vernarbung und neues Wachstum brauchen.

Im Falle dieser Geschichte werden es einhundertzwanzig Jahre sein. Der Roman heißt „Die letzte noch lebende Rebellenwitwe erzählt“. Etwa im Jahr 1985 fliegt Lucy, so heißt die Heldin der Geschichte, zum ersten Mal im Leben mit einem Flugzeug. Sie soll eine Ehrung für ihre unterdessen verstorbene Tochter entgegen nehmen. Und aus dem Flugzeug, das von Atlanta/Georgia startet, sieht sie einen Streifen Land, der besonders grün ist, grüner als der Rest. Sie staunt und wundert sich und fragt ihren Sitznachbarn, was es denn mit diesem Streifen frischen Grüns auf sich habe.

Lucy ist schon einhundert Jahre alt. Ihr Leben war von den bedrückenden Erinnerungen an den amerikanischen Bürgerkrieg geprägt. Sie selbst war zwar zwanzig Jahre nach seinem Ende erst geboren. Sie war aber als blutjunges Mädchen mit einem älteren Mann verheiratet worden, der selbst etwa im Konfirmandenalter 1864 noch in diesen Krieg geschickt worden war. Er hatte darin einen Jungen seines Alters erschossen. Das heißt: richtig getroffen hatte er ihn nicht. Nur schwer verwundet. Und dann saß er neben dem Jungen, der etwa so alt war wie er, und wartete mit ihm, bis er starb.

Je älter er wurde, umso weniger wurde er den Krieg los. Mit fünfzig etwa fing er sogar wider an, die Südstaatenuniform zu tragen. Das war ungefähr die Zeit, da er die kaum zwanzigjährige Lucy heiratete. Und er trug den Krieg in ihrer beider Leben. Hundertmal wurden die Schlachten wieder geschlagen. Es war immerzu so, als sei der Nordstaaten-General Sherman gerade erst durch den Landstrich gezogen. Auch wenn die Schäden an den Häusern und auf den Plantagen längst beseitigt waren: die Verwüstungen in der Seele blieben und trugen sich weit in die nächste Generation hinein.

Auch die Kinder litten noch unter dem Krieg, der schon so lang vorüber war. Lucy sollte nicht nur ihren Mann, sondern auch ihre Kinder allesamt überleben. Und so fliegt sie mit einhundert Jahren zum ersten Mal mit einem Flugzeug und sieht ihr Land von oben. Was es denn mit diesem eigenartig grünen Streifen auf sich habe, fragt sie ihren Sitznachbarn. Das sei, antwortet der, der Streifen, auf dem einst der General Sherman nach Süden gezogen sei. Er habe damals alles niederbrennen lassen, was rechts und links seines Weges war. Deshalb sei dort die Vegetation so verändert.

„Was für eine Narbe“, entfährt es Lucy. „Was für eine wunderbare Narbe“. Sie wird der alten Frau zum Bildwort, dass etwas wächst, sogar neu wächst, wo alles schon verloren war. Es ist ihr, als wollte die Natur mit ihrem frischeren Grün etwas gut machen, was in ihrem Leben böse gewesen war. Es ist, so von oben gesehen, wie ein Abschied – und es ist eine Versöhnung mit dem Leben.

Es wächst, man weiß nicht wie, aber es wächst. An dieser Nachricht muss sich genügen lassen, wer Näheres über das Wachsen des Gottesreiches wissen will. Ein wenig können uns die Dichter helfen, die sich dankenswerterweise über das Lyrik-Verbot Adornos so beherzt hinweg gesetzt haben. Shalom Ben Chorin zum Beispiel, der einen großen Teil seiner Familie in Auschwitz verloren hat. Und trotzdem hat er geschrieben:

Freunde, dass der Mandelzweig
wieder blüht und treibt,
ist das nicht ein Fingerzeig,
dass die Liebe bleibt.

…dass das Leben nicht verging, wird das Lied weitergehen. Und es wird im Modus der Frage weitergehen. Ist es nun ein Fingerzeig, oder ist er es nicht? Die Antwort liegt wahrscheinlich bei denen, die sie suchen. Wir könnten den Mandelzweig immerhin als solchen Fingerzeig nehmen, dass das Leben nicht verging. So wie Lucy den Streifen frischen Grüns als Fingerzeig zur Versöhnung mit dem Leben genommen hat. So wie Steven Spielberg sich vom Bild der vielen Steine auf dem Grab Oskar Schindlers hat anrühren lassen und seine Zuschauer damit weiter angerührt hat.

Es kann etwas wachsen. Wo die Saat vom Gottesreich ausgebracht ist, wird sie wachsen. Man weiß nicht wie, aber sie wird. Wir könnten das Gleichnis, das gewiss Jesus erzählt und das Markus nachgedichtet hat, als Fingerzeig nehmen. Dafür, dass die, die auf das Gottesreich setzen, sich nicht vergeblich mühen sollen. Immerhin wird es sich lohnen, davon zu erzählen, und sei es auch ungereimt. Es wird wachsen, langsam zwar, aber stetig. Es wird.

Amen

(*) Theodor W. Adorno, Prismen, Kulturkritik und Gesellschaft (1951), in ders.: Kulturkritik und Gesellschaft I, Gesammelte Schriften Bd. 10 hrsg. Von Rolf Tiedemann, Darmstadt wiss. Buchgesellschaft 1998, Suhrkamp 1977, S. 30: „Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben. Der absoluten Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzte und die ihn heute aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische Geist nicht gewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation.“

Ulrich Braun
Pastor in Göttingen-Nikolausberg
Ulrich.F.Braun@t-online.de


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