Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Okuli, 27. Februar 2005
Predigt über Lukas 11, 14-28, verfasst von Elisabeth Birgitte Siemen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Die Gedankenwelt des Neuen Testaments kann uns hin und wieder fern und fremd vorkommen. So fern und fremd, dass wir denken: ja, aber ist das denn nicht nur altes Geschwätz und Aberglaube – all dies Gerede vom Teufel und Beelzebub, von dem Bösen und dem Guten, von Dämonen, die in Menschen fahren und wieder heraus, – sind das nicht bloß Märchen, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben – jedenfalls, wie wir sie kennen, hier in unserer Zeit, wo wir sehr viel mehr wissen und aufgeklärter und vernünftig sind. Vielleicht kann dies Gefühl der Fremdheit uns sogar übermannen und uns zweifeln lassen an dem Anderen, das die Botschaft ist in dem alten Buch, die christliche Botschaft, wie wir heute sagen.

Denn, ja, das NT ist tatsächlich ein Dokument der Antike, aber das bedeutet ja nicht, dass es unwahr wäre, sondern nur, dass es nicht etwas ist, mit dem man sich im Laufe eines einzigen Nachmittags vertraut machen oder das man als Geschwätz und alten Aberglauben abtun kann. Man stelle sich vor, was wir verloren hätten, wenn wir alle Schriften des Altertums verworfen hätten.

Die beste Geschichte in diesem Zusammenhang ist meiner Meinung nach die Geschichte von dem deutschen Großkaufmann Schliemann, der Ende des 19. Jahrhunderts auf ganz unwissenschaftliche Weise Troja fand. Und das war tatsächlich völlig unwissenschaftlich, denn er vertraute ganz und gar auf Homers Ilias und grub nach deren Anweisungen. Und während die Wissenschaftler seiner Zeit nur darüber lachten, ja, da fand Schliemann Troja.

Wir müssen, kurz gesagt, aufpassen, dass wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Vielleicht ist es vielmehr so, dass die Rede des NT von den Dämonen, die sich in der Wirklichkeit umherbewegen, gar nicht so fremdartig ist, wie wir denken, wenn wir von ihnen hören. Wir kennen z.B. auch Dämonen und Besessenheit von Dämonen, wir benutzen sogar diese Worte noch heute, wenn auch nicht ganz auf dieselbe Weise. Wir können davon sprechen, dass etwas dämonisch ist, und wenn wir auch das Dämonische nicht zu einem selbständigen Wesen machen, das in einen fährt und ihn wieder verlässt, so können wir doch ohne weiteres davon reden, dass jemand dämonisch oder besessen ist, d.h. so durch und durch von etwas ergriffen ist, dass er nicht davon ablassen kann, sondern fortgesetzt daran gebunden ist. Ein Mensch kann um seinen Hass kreisen, er kann darin aufgehen, wie er den anderen Menschen schaden kann, so dass er einen großen Teil seines Lebens mit dem Gedanken zubringt, was man in einer gegebenen Situation tun könnte oder hätte tun können.

Oder man kann von Furcht besessen sein, möglicherweise vor etwas höchst Konkretem – einer bevorstehenden Operation, einem Gespräch mit dem Vorgesetzten – nicht zuletzt, wenn Begrenzungen anstehen, oder die Furcht kann eine unbestimmbare Angst sein, die einen in ihrem eiskalten Griff gefangen hält und lähmt. Oder man kann von Eitelkeit besessen sein, so dass man sich selbst nicht einen Augenblick aus den Augen verliert und deshalb andere Menschen nicht sehen kann. Und man kann von Schuldgefühl besessen sein – wirklich oder eingebildet – so dass das ganze Leben schwer auf einem lastet, oder von Unrecht, das man erlitten zu haben glaubt, wodurch alles, was man hat, wertlos wird, weil man beleidigt ist über das, was man nicht bekommen hat. – Ja, wir können mit Beispielen so fortfahren.

Die meisten von uns kennen jemanden oder haben von jemandem gehört, dessen Leben mehr oder weniger dämonisiert ist. Von einem Menschen, der in dem Maße besessen ist, dass es ihn lähmt und stumm macht. Und kennen wir nicht alle Zeiten und Situationen in unserem Leben, wo man das nicht auch von uns sagen könnte? Wir kennen das wohl alle. Wir kennen Dämonen, wenn wir sie auch nicht Teufel nennen, wir kennen das Böse als eine machtvolle Kraft in unserem Leben, wenn wir modernen Menschen uns das Böse oder den Bösen auch nur schwer vorstellen können. Vor allem nicht als Person.

Aber dass wir uns so schwer tun, uns das Böse personifiziert vorzustellen, hat seinen Grund nicht nur darin, dass wir modern sind, das liegt auch in dem Begriff des Modernen. Der Böse oder Teufel ist ja gerade eine personauflösende Kraft, eine zerstörende, vernichtende Macht, die die Lebensenergie absaugt. Und damit auch eine bildauflösende Kraft.

In der Astronomie geht man, soweit ich das verstehe, von einem Phänomen im Weltraum aus, das man „schwarze Löcher“ nennt. Ein schwarzes Loch schluckt und saugt Energie in sich. Die Energie wird aufgesaugt und verschwindet, wird zu nichts. Man kann sich ein solches Phänomen nicht vorstellen – etwas, das weniger ist als nichts, das gerade mit Hilfe seiner Nichtigkeit alles in sich aufsaugt und zunichte macht. Wir können uns das schwarze Loch nicht vorstellen, es gehört mehr dazu als ein Staatsexamen in Physik, um mitreden zu können.

Mit dem Gegenteil geht es vielleicht ein bisschen besser. Ein Phänomen, das endlos Energie abgibt, ein Stern oder eine Sonne, so etwas können wir besser vor uns sehen, auch wenn das im Grunde genauso unerklärlich ist wie ein schwarzes Loch. Und das ist bemerkenswert.

Das Vernichtende, Energieauflösende ist also unverstehbar und unvorstellbar, genauso wie der Böse. Wir können uns den Bösen oder das Böse nicht vorstellen, es sei denn, wir machen dieses „es“ oder „ihn“ zu etwas, das wir vor uns sehen können. Z.B. eine mehr handgreifliche, aber dann auch weniger gefährliche Person mit Bockshörnern und Klauen – und damit wären wir im Bereich der Klichees. Und dann sind wir sehr schnell genau da, wo es ungefährlich ist. Wir können es uns nicht vorstellen, aber wir kennen es.

Wir kennen die vernichtende Macht, aus unserem Leben, wir wissen, wie böse und unerklärliche Mächte uns die Kraft rauben und das zerstören können, was hätte sein sollen, aber nicht ist. Ja, wir kennen das unerklärlich Böse nur allzu gut. Und wir wissen auch davon, dass das, was geschieht, nicht absichtlich, sondern oft gegen unseren Willen geschieht. Dass wir hassen, dass wir egozentrisch sind, dass wir andere Menschen verletzen, meistens genau die Menschen, denen wir am nächsten stehen und die wir am wenigsten entbehren können in unserem Leben.

Und das geschieht oft auf eine solche Weise, dass wir sagen müssen, dass wir uns hier in der Macht eines Stärkeren befinden. Wir wollten eigentlich etwas Anderes. Wir wissen sehr genau, dass wir „leben sollen wie die Kinder des Lichts, denn die Frucht des Lichts ist lauter Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit“, um Paulus zu zitieren, aber wir alle haben auch seine Erfahrung: „das Gute, das ich will, tue ich nicht, aber das Böse, das ich nicht will, das tue ich“. Eine Erfahrung dessen, dass wir besessen sind, ergriffen von etwas, das uns überrascht hat und das das Böse durchsetzt, mehr oder weniger gegen unseren eigenen Willen. Also: Obwohl wir das Böse nicht in Bildern anschaulich machen können, verstehen wir es sehr wohl als einen gesammelten Willen, eine beherrschende Energie, wenn man so will. Und wir können auch das Bild des Evangeliums gebrauchen. Wir können uns das leere Haus vorstellen, das sauber gemacht und geschmückt ist. Wir können einen Menschen sehen, der keine Widerstandskraft besitzt, leer aus Lebensüberdruss, leer durch die Sinnlosigkeit des Daseins. Leer, vielleicht, weil die Kultur oder die Familie, in denen man aufgewachsen ist, bleibender Werte beraubt ist.

Niemand hat Lust gehabt, sich mit der liebevollen Verantwortung zu belasten oder sie auf sich zu nehmen, die darin besteht, zu zeigen, dass es einen Unterschied gibt, einen Unterschied zwischen richtig und verkehrt, zwischen gut und böse, zwischen Licht und Finsternis.

Ein solcher Mensch schwebt in der großen Gefahr, von dem Dämonischen ergriffen oder von ihm erfüllt zu werden. In der Gefahr, an Bosheit, an Unrecht, an Narkotika oder Alkohol zugrunde zu gehen. Die Dämonen haben nämlich so viele Namen. – Und geschieht dies, dann wird das eine schlimmer als das andere. Denn dann hat das Böse Macht über das Leben dieses Menschen gewonnen.

Aber was ist dann das Gegenbild zu all dem?

Ja, das klassische Klischee von Gott Vater, der auf der Wolke sitzt, kennen wir auch alle. Und das kann uns überhaupt nicht helfen, meine ich.

Manchmal möchte ich mir wünschen, dass wir wie die Juden wären, für die als erstes von den 10 Geboten das Bilderverbot gilt: Du sollst dir kein Bildnis machen von Gott! – Warum nicht? – weil wir, wenn wir glauben, wir könnten uns ein Bildnis von unserem Herrn, dem Schöpfer und Ursprung aller Dinge, machen, unweigerlich dahin kommen würden, wo der Herr so klein und überschaubar gemacht würde, dass unsere kleinen begrenzten Gehirne ihn fassen könnten, und dann wäre er nicht mehr Gott, sondern bloß ein leeres Klischee.

Und dann enden wir sehr bald da, wo der russische Kosmonaut Gagarin endete, da er als der erste Mensch im Weltraum bei seiner Rückkehr zur Erde erklärte, nun sei das Christentum ein für allemal bankrott, nun sei er im Weltraum gewesen, und er habe gesehen, dass der Weltraum leer sei, da sei kein alter Mann mit langem Bart gewesen, der zwischen den Planeten herumgewandert sei. Hierzu kann man ja nur sagen, mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens.

Und wenn man sich schließlich in ganz außergewöhnlichem Maße für die Bilder und Vorstellungen vom Guten und Bösen im Mittelalter interessiert, darf ich mir dann den Vorschlag erlauben, dass man Dante liest, seine große Göttliche Komödie – denn dort kann man auf jeden Fall Bilder finden, die des Nachdenkens wert sind. Und zwar auch, wenn sich das alles im Rahmen der mittelalterlichen Gedankewelt abspielt.

Aber auch wenn ich sehr davor warnen will, dass wir die Klischees auf das Gute anwenden, auf Gott den Herrn, ja, so kennen wir alle den Begriff sehr genau. Wir kennen die Leben spendende und Energie gebende Kraft, die Kraft, die uns Mut macht, uns Stärke gibt, die uns die Lebenskraft schenkt trotz aller Zerstörung, und zwar eben in den Situationen, wo aller Mut, alle Kraft und Hoffnung verschwunden war.

Entsprechend können wir sozusagen uns selbst zum Trotz Vertrauen fassen, Liebe fühlen und gut handeln, uns selbst zum Trotz, und trotz all der finsteren Erfahrungen, die wir alle gemacht haben. Ja, wir kennen auch das Gute und Lebenschenkende als eine Macht, die uns überwältigen kann. Aber wir haben mehr als das. Wir haben die Erzählung von Jesus von Nazareth. In ihm haben wir das Bild von Gott geschenkt bekommen. In dem Jesus, der wahrer Mensch und wahrer Gott war, haben wir ein Bild bekommen, das Bestand hat. Das Bild einer Macht, die heilt, wo das Böse zerstört. Ein Bild, das gegen all das Leere und Zerstörende kämpft und das letzten Endes den Sieg davonträgt. Das Bild des Gottes, dem nichts Menschliches fremd ist, das Bild dessen, der so sehr gelebt und geliebt hat, dass es ihn das Leben gekostet hat, und der für uns durch den Tod hindurchgegangen ist, so dass es keinen einzigen Ort gibt, wo kein Mensch gehen kann, ohne dass er vor uns dort gewesen ist.

In der Person Jesus von Nazareth haben wir ein Bild, zu dem wir uns persönlich verhalten können, das wir anrufen und dem wir uns hingeben können als dem einzigen Schutz vor all dem Bösen, und ein Bild, das all das Böse, das uns besessen macht, austreiben und uns erlöst und frei machen kann. Erlöst und befreit zu leben – nicht das leere, sondern das volle, das erfüllte Leben.

Ja, aber ist da wirklich so viel Kraft in dem Bilde? – Ja, das Bild von Gott, der Mensch geworden ist in Jesus von Nazareth, ist das stärkste Bild der Welt.Und was noch mehr ist, wer sich im Ernst in diesem Bilde zu spiegeln, sich von ihm einfangen zu lassen wagt, wird erleben, dass das Leben nicht mehr dasselbe ist. Man wird erleben, dass von diesem Bild Licht auf unser Leben fällt, so dass wir sehen, wie das Leben von Anfang an gemeint war, dass es immer als ein Leben in Glauben, Hoffnung und Liebe gemeint ist. Und dass wir Kraft erhalten und Mut, danach zu leben, so dass wir trotz unserer Fehler, Mängel und Abtrünnigkeit dennoch glauben dürfen, dass wir das sind, was wir in den Augen Gottes sind, nämlich die Kinder Lichts, die die Frucht bringen, die sie zu bringen haben, nämlich Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit. Die Frage ist nur, ob wir es zu glauben wagen. Amen.

Pastorin Elisabeth Birgitte Siemen
Kirsebærbakken 1
DK- 2830 Virum
Tel.: +45 45 85 63 30
E-mail: ebsi@km.dk

Übersetzt von Dietrich Harbsmeier

 


(zurück zum Seitenanfang)