Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Judika, 13. März 2005
Predigt über Genesis 22, 1-13, verfasst von Reinhold Mokrosch
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Liebe Gemeinde,

diese Erzählung lässt mich schreien, protestieren oder sprachlos werden. Ich hätte Neigung, meinen Talar wieder auszuziehen und mich zu weigern zu predigen. Hat Friedrich Nietzsche doch recht mit seinem Vorwurf, dass der biblische Gott ein überhöhter orientalischer Despot sei, der blinden Gehorsam verlange und uns je nach seiner Laune quält oder liebt? Was für ein Despot ist das, der Mord befiehlt? Wie Herodes, der den Kindermord zu Bethlehem befahl! Wie Pharao, der den Kindermord in Ägypten befahl! Wie Hitler, der den Kindermord in Deutschland befahl! Diese Tyrannenbilder werden jetzt auf Gott übertragen?!

„Lieber kein Gott als solch ein Gott“, sagte eine 14 Jährige nach dem Verlesen dieses Textes im Konfirmandenunterricht. Recht hat sie! Freilich weiß ich als Theologe, dass die Vergleiche mit Herodes, Pharao und Hitler hinken. Bei Abraham ging es um einen Einzel- und keinen Massenmord. Und außerdem wollten die Autoren der Abraham-Erzählung zum Ausdruck bringen: Gott hat das Recht, das Leben, das er geschenkt hat, auch wieder zurückzufordern – und wenn es noch so grausam ist. Ja, ich weiß, dass der Vergleich hinkt. Aber jetzt schreie ich erst recht: Wieso fordert Gott Leben wieder zurück? Welch ein Despot ist dieser Schöpfergott!

Ich bin kürzlich mit meinem Sohn diskutierend durch den Wald spazieren gegangen. Stelle ich mir vor, ich hätte das Messer zücken, ihn ermorden und Gott opfern sollen, so erstarrt mir das Blut. Nein danke! Lieber keinen als solch einen Gott!

Allerdings bin ich mir bewusst, dass manchen Menschen angesichts des Todes die Aussage, dass Leben ein Leihgeschenk sei, welches Gott jederzeit zurücknehmen könne, für viele Trost bedeuten kann. Vor Jahren hatte ich einen 8jährigen Jungen zu beerdigen. Er war sonntags mit den Eltern auf Fahrradtour gewesen. Auf dem Rückweg kürzte er den Weg ab und fuhr über die große Hauptstraße. Sein letzter Satz, den er den Eltern zurief, lautete: „Ich bin eher zuhause!“ Er wurde überfahren. Für die Eltern war dieser Satz ein Trost: „Ich bin eher zuhause.“ Auch ich predigte über diesen Ausruf bei der Bestattung. Aber ich stand nicht dahinter. Ich ballte die Faust im Talar und klagte Gott innerlich an. Nach einem Jahr sagte mir der Vater: „Gott hat ihn wieder zu sich genommen. Er war uns nur als Leihgabe anvertraut.“ Dieser Gedanke hatte den Vater getröstet. Ja, der Gedanke des geliehenen und von Gott zurückgeholten Lebens kann ein Trost sein. Aber im Fall von Abraham leuchtet mir das nicht ein. Abraham soll Isaak töten. Warum?

Was mich an der Erzählung besonders verwundert, ist das Schweigen Abrahams. Warum protestiert er nicht? Warum wendet er sich von solchem Gott nicht einfach ab? Jona ist vor Gott davongelaufen, weil ihm Gottes Auftrag unzumutbar erschien. Jesaja und Jeremia haben sich geweigert. Hiob hat gnadenlos protestiert, Gott angeklagt und ihm den Prozess gemacht. Und Abraham, dem Gott weitaus Schlimmeres als Jona, Jesaja, Jeremia und Hiob zumutet, schweigt und gehorcht ohne jeden Protest? Er fügt sich in Gottes grausamen Willen.

Seine Situation ist ausweglos: Vollzieht er Gottes Prüfungsbefehl und ermordet seinen Sohn, so hat er Gottes Verheißung auf ein großes Volk selbst zunichte gemacht. Widersetzt er sich aber Gott, so wird Gott vermutlich seine Verheißung wieder zunichte machen. Abraham erträgt das Dunkel der Nacht, die diesmal ohne Sterne und Licht ist. Hatte Gott ihm noch kurz zuvor an den unzähligen Sternen eine unzählige Nachkommenschaft verheißen, so war jetzt die Nacht tief schwarz. Wie die Leidensmystiker des Mittelalters Johannes vom Kreuz oder Teresa von Avila, die alles Leid von Gott schweigend hingenommen haben, vollzieht er schweigend, fast gefühlslos den Befehl Gottes. Man könnte meinen, es sei das Gefühl totaler Gottverlassenheit. Aber das ist es ja gerade nicht, denn Gott ist auf grausamste Weise anwesend und nicht abwesend für Abraham.

Wie kann ich, um alles in der Welt, über diese grauenhafte Erzählung predigen? Warum ist gerade dieser Text für unseren Sonntag heute als Predigttext ausgewählt? Wir haben gerade die furchtbaren Naturkatastrophen in Süd-Ost-Asien hinter uns, angesichts derer wir noch immer fassungslos fragen: „Wie konnte Gott das zulassen?“ Und nun müssen wir uns heute mit einer solchen von Gott befohlenen Grausamkeit befassen.

Ja, es gibt historische Erklärungen, welche uns diesen Text verständlicher machen. Ich möchte Ihnen, liebe Gottesdienstbesucher, fünf solcher Erklärungsversuche nahe bringen und bitten, sich 2700 Jahre in den Vorderen Orient mit seinen vielen Göttern, Opferriten und göttlichen Erscheinungen zurückzuversetzen. Vorauszusetzen ist, dass es sich bei unserer Abraham-Erzählung um eine Legende handelt. Genauso wie „Hänsel und Gretel“ und „Rotkäppchen“ nicht passiert sind, so gibt es auch keinen Beleg für einen Realvollzug dieser Legende. Ja, es ist noch nicht einmal gesichert, ob Abraham und Isaak historische oder symbolische Personen gewesen sind. Aber das macht die Sache freilich nicht leichter. Warum hat der Glaube diese Erzählung weitererzählt?

Eine 1. Erklärung lautet: Die Erzählung begründet, dass Israel, anders als die Kanaanäer, Menschenopfer durch Tieropfer ersetzt haben. Diese Legende soll an den Ursprung dieser Ablösung erinnern und damit den Vorrang der hebräischen vor der kanaanäischen Religion begründen. – Ist uns die Erzählung damit verständlicher geworden? Religionsgeschichtlich ja, nicht aber in theologischer Hinsicht. Die despotische Grausamkeit Gottes verliert doch nichts von ihrem schrecklichen Charakter. Warum steht die Geschichte in der Bibel? Und warum wird sie als Predigttext vorgeschlagen?

Die 2. Erklärung wiederholt den Gedanken der Leihgabe des Lebens: Die Menschen waren früher, vor 2700 Jahren der Ansicht, dass Gott jederzeit das Recht habe, das Leben, das er geschenkt hätte, wieder zurückzunehmen. Weil Abraham das auch so glaubte, hätte er schweigend, gläubig und gehorsam Gottes Willen ausgeführt. – Diese Vorstellung ist uns heute natürlich total fremd. Lieber keine Lebens-Leihgabe als eine so despotische Zurücknahme derselben.

Eine 3. Erklärung lautet: Die Legende sei eine Prüfungs-Geschichte gewesen, die Israel sich zu Herzen nehmen sollte. Israel befinde sich, so meinten wohl die Autoren, oft in einem ähnlichem ausweglosem Konflikt wie Abraham. Und da sollte es sich an Abraham ein Beispiel nehmen. Abraham glaubte unerschütterlich, dass Gott trotz aller Widrigkeiten seine Verheißungen und Versprechen halten werde. Er wurde deshalb ja auch von Kierkegaard als „Ritter des Glaubens“ und von Luther als „Vater des Glaubens“ bezeichnet. – Macht uns diese Erklärung die Erzählung verständlicher? Ich habe Schwierigkeiten, Abraham als „Ritter und Vater des Glaubens“ zu verstehen. Ich habe weiterhin mit einer schweigenden Pflichterfüllung und mit Gottes despotischem Befehl Schwierigkeiten. Und ich frage mich, warum Israel zur Darstellung einer Prüfungsgeschichte einen so grausamen Stoff gewählt hat.

Die 4. Erklärung sieht den Sinn der Erzählung in der Verkündigungsaussage, dass Gott immer rettet. Auch wenn man den Eindruck hat, dass Gott unbeteiligt zuschaut oder uns gar selbst ins Elend führt, so sollten wir an dieser Erzählung mit den dunklen Seiten Gottes verstehen lernen, dass Gott uns letztlich immer nur retten wird. Er tut das auf natürliche oder übernatürliche Weise. – Kann uns diese Erklärung die Erzählung näher bringen? Ich bin noch immer skeptisch. Muss Gott als Verursacher von Mord und Leid dargestellt werden, um anschließend als Retter aufzutreten? Das ist doch absurd!

Diese Absurdität wird auch durch eine spätjüdische Überlieferung bekräftigt: In der Geschichte ist ja von Sara, der Mutter Isaaks, überhaupt keine Rede. Diese Lücke füllt eine spätjüdische Überlieferung. Als Sara von ihrem Sohn Isaak die Ereignisse im Land Moria erfahren hatte, also nach der Rettung durch Gott, habe sie sechsmal laut aufgeschrieen und sei dann tot umgefallen. Offensichtlich hat Sara die Rettungstat Gottes überhaupt nicht imponiert. Sie sei trotz der Rettungstat unter der Grausamkeit der Ereignisse vielmehr tot zusammengebrochen.

Eine 5. Erklärung argumentiert vom Neuen Testament her: Das Opfer Abrahams, so lautet diese Erklärung, wollte zeigen, dass die heidnischen Menschenopfer überholt seien. Das Opfer Christi am Kreuz aber mache klar, dass auch alle anderen Opfer, seien es Tieropfer oder sonst etwas, überholt seien durch die Hingabe des Sohnes Gottes durch Gott selbst. Gott ist ja selbst anstelle Abrahams mit seinem Sohn den Weg gegangen, nicht nach Morija, sondern nach Golhatha. Dort ließ er die Hinrichtung Jesu zu. Kein Widder kam als Opferersatz. Kein Engel intervenierte. Jesus starb schreiend. Seit diesem Ereignis sind alle menschlichen Opfer unnötig und überholt. Gott hat sich für die Menschen selbst geopfert und darin seine grenzenlose Liebe dokumentiert. Deshalb gehe uns, so argumentiert diese Erklärung, die Abraham-Geschichte überhaupt nichts an; denn wir kennen nur den sich selbst opfernden, liebenden Gott und nicht den opferverlangenden fordernden Gott.

Eine 6. Erklärung hat noch Eugen Drewermann mit seiner tiefenpsychologischen Interpretation vorgelegt: Gottes Stimme sei Abrahams eigene Zweitstimme. Und Isaak sei das Fremde, der Schatten in Abraham. Abraham wollte seinen Schatten loswerden und von sich abspalten. Deshalb befahl er sich selbst mit seiner Zweitstimme: Opfere diese Schattenseite an dir! – Natürlich kann man so interpretieren. Aber man erreicht damit nicht die Intension der ursprünglichen Verfasser.

Stehe ich vor einem Scherbenhaufen? Finde ich wirklich keinen Weg, um diese Erzählung zu verstehen? Ich möchte uns allen vorschlagen, in dieser Erzählung Gott nicht als Person, sondern als Geist vorzustellen. Bitte denken Sie nicht immer an die 1. Person, sondern auch an die 3. Person der Trinität. Und zwar erscheint hier Gott als der Geist des Dunklen und des Unbegreiflichen, der Abraham umgab und den wir heute täglich nachempfinden können. Dann würde der Text, spreche ich in der 3. Person der Trinität, lauten: „Das Dunkle und Unbegreifliche (das Abraham stets umgriff), sprach zu Abraham: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn ....“ Nach diesem Verständnis befand sich Abraham, weil er sich stets vom Geist des Dunklen und Unbegreiflichen umfangen fühlte, schon lange in einer Anfechtungs- und Leidsituation, längst bevor er diese Anrede von Gott erhielt. Er geriet nicht erst durch den Befehl eines despotischen, personalen Gottes in solches Leid. Vielmehr erlebte er jetzt konkret, was er schon immer als Leid empfunden hatte, nämlich dass er mit Gottes Willen einen Leidensweg gehen müsse. Er fühlte sich schon lange im Leid und empfand jetzt, dass solches Leid sogar von Gott gewollt sei. Er erklärte sein Leiden mit Gottes Willen als übereinstimmend. Das ist m.E. Leidensmystik.

Das besondere an dieser Leidensmystik Abrahams ist es nun aber, dass er in seinem Leid nicht verzweifelt, sondern hinter Gott als Geist des Dunklen und Unbegreiflichen auch Gott als Geist des Hellen, Liebenden und Erlösenden erkennt.

Abrahams Leidensmystik erinnert mich sehr stark an die Leidensmystik eines Juden im Warschauer Ghetto, der trotz seines grauenhaften Leids an eine Mauer geschrieben hatte:

„Ich glaube an die Sonne, auch wenn ich sie nicht sehe!
Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht spüre!
Ich glaube an Gerechtigkeit, auch wenn ich nur Ungerechtigkeit sehe!
Ich vertraue auf Gott, auch wenn ich ihn nicht begreife!

Der Leidensmystiker ist zum Leiden bereit, weil er gegen allen Anschein an Gottes Rettung und Erlösung vom Leid glaubt. Für uns Christen, die wir Christus erlebt haben, ist das leichter als für Abraham. Umso mehr könnte Abraham als Leidensmystiker mit seinem unerschütterlichen Vertrauen auf Gottes Hilfe trotz grausamster, sogar von Gott gewirkter Wirklichkeit für uns zu einem Vorbild werden?!

Ich schließe mit dem Gebet eines Rabbi am Ende seines leidvollen Lebens:

„Du dunkler, unbegreiflicher Gott hast alles getan, damit ich dir nicht mehr vertraue, sondern an dir verzweifele. Es ist dir nicht gelungen. Ich sterbe, wie ich gelebt habe: Im Vertrauen auf deine Liebe und Rettung!“

Gottes Frieden, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Prof.. Dr. Reinhold Mokrosch
Institut für Ev.Theologie der Univ. Osnabrück
Reinhold.Mokrosch@uni-osnabrueck.de

 

 

 


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