Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Karfreitag, 25. März 2005
Predigt über Lukas 23, 33-49, verfasst von Wolfgang Vögele
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„Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun! Und sie verteilten seine Kleider und warfen das Los darum. Und das Volk stand da und sah zu. Aber die Oberen spotteten und sprachen: Er hat andern geholfen; er helfe sich selber, ist er der Christus, der Auserwählte Gottes. Es verspotteten ihn auch die Soldaten, traten herzu und brachten ihm Essig und sprachen: Bist du der Juden König, so hilf dir selber! Es war aber über ihm auch eine Aufschrift: Dies ist der Juden König. Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns! Da wies ihn der andere zurecht und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein. Und es war schon um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde, und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riß mitten entzwei. Und Jesus rief laut: Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! Und als er das gesagt hatte, verschied er. Als aber der Hauptmann sah, was da geschah, pries er Gott und sprach: Fürwahr, dieser ist ein frommer Mensch gewesen! Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um. Es standen aber alle seine Bekannten von ferne, auch die Frauen, die ihm aus Galiläa nachgefolgt waren, und sahen das alles.“

1.

Liebe Gemeinde,

in großem Leiden und im tiefen Schmerz vergehen einem eigentlich die Worte. Sprachlosigkeit und Schweigen sind Kennzeichen schweren Leidens. Wer unter heftigen Schmerzen leidet, der schreit es heraus – oder er verstummt und zieht sich zurück. Der Sterbende auf dem Krankenbett redet nicht mehr viel, denn ihm fehlen dafür die nötigen Kräfte. Über dem Tod liegt Schweigen, der geschlossene Mund, alle Sprache verstummt. Umso bedeutungsvoller und wichtiger ist all das, was der Sterbende in der Nähe seines Todes dennoch sagt.

Das Lukasevangelium erzählt wie die anderen drei Evangelien von Jesu Tod und Kreuzigung. Bei Lukas spricht Jesus dreimal. Und jedes Mal redet er so, wie es niemand von ihm erwarten würde, ungewöhnlich, auffallend. Kreuzigung und Worte am Kreuz spielen ineinander. Worte, noch viel mehr letzte Worte sind wichtig, denn sie geben einer Situation Bedeutung, laden sie auf. Sie konzentrieren Aufmerksamkeit und lenken sie in eine bestimmte Richtung.

2.

Die Kraft und die Macht von Worten kann man beim schwarzen Bürgerrechtler Martin Luther King lernen. Martin Luther King, der schwarze Pastor und Politiker, kämpfte wenige Jahre vor seinem Tod in Chicago gegen die Rassentrennung, gegen die Aufteilung der Stadt in weiße und schwarze Wohnviertel. Zusammen mit seinen Freunden und Anhängern demonstrierte in den Wohngebieten, die der schwarzen Bevölkerung nicht zugänglich waren. Trotz des Schutzes der Demonstration durch die Polizei griffen regelmäßig weiße Gegendemonstranten an, und sie verletzten King einige Male durch Wurfgeschosse.

Kings Freunde berichten, dass es sie immer wieder beeindruckt habe, wie es den verletzten Martin Luther King kaum auf seiner Krankenbahre hielt. Er bestand darauf, die festgenommenen Werfer zu sehen und mit ihnen zu sprechen. Er fragte sie, warum sie so und nicht anders gehandelt hätten. Solche Fragen erwartete keiner der verhafteten Angreifer. Die normale Reaktion auf einen Angriff mit folgender Verletzung ist Rache, Zurückschlagen, Wut, Aggression.

King dagegen versuchte, mit seinen Gegnern ins Gespräch zu kommen. Das war ungewöhnlich, und es kam vor, dass sich auch Kings Angreifer davon beeindruckt zeigten. Denn das hätten sie nicht erwartet. Ich habe das bei Martin Luther King immer als eine besondere Kraft des Glaubens verstanden. Er fand die Kraft zu Reaktionen und vor allem Worten, die die üblichen Konventionen sprengten. Er versuchte, den Kreislauf von Angriff und Verletzung, gewalttätigem Reiz und gewalttätiger Reaktion aufzubrechen. Auf Gewalt antwortete nicht Gegengewalt, sondern die Einladung zum Gespräch. Aggression ruft Verständigung hervor. Das ist faszinierend, für die anderen vor allem überraschend und unerwartet und eröffnet darum neue Möglichkeiten. Bei King ist es ganz deutlich: Solche Gespräche und Worte sind bei ihm aus der Kraft des Glaubens geboren.

3.

Von dieser Kraft des Glaubens oder der Gottesnähe lebt auch das erste Wort, das Jesus zu denen sagt, die ihn ans Kreuz genagelt haben: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Gegenüber denen, die ihn verspotten, schweigt Jesus. Er würdigt sie keiner Reaktion. Die Bitte um Vergebung bringt Gott ins Spiel, den Jesus seinen Vater nennt. Keine Anklage. Keine Vorwürfe. Keine Rachgefühle. Kein Haß.

Stattdessen die sanfte und unaufdringliche Bitte um Vergebung.

Mich hat das an den Pfarrer und Gefängnisseelsorger Harald Poelchau erinnert. Poelchau betreute und unterstützte in Berliner Gefängnissen die von den Nationalsozialisten verfolgten und oft zum Tode verurteilten Widerstandskämpfer, darunter viele Angehörige des 20.Juli und des Kreisauer Kreises. Poelchau nahm an über 200 Hinrichtungen teil, stand über 1000 Delinquenten bei. Er half den Verurteilten, Abschiedsbriefe zu schreiben, er war ihnen verschwiegener Gesprächspartner und Pfarrer, der die Beichte hörte, er informierte die Angehörigen nach den Hinrichtungen, er kümmerte sich um Kleinigkeiten. Es ist anrührend zu hören, wie er von norwegischen Widerstandskämpfern schreibt, zu denen er eine besonders nahe Beziehung entwickelte: Für sie besorgte er Lebertran, die „geliebte heimatliche Medizin“.

Es ist heute, fünf Jahrzehnte später, kaum noch zu ermessen, wie schwer und belastend diese seelsorgliche Tätigkeit gewesen sein muß, und es ehrt Poelchau, wie er diese Arbeit getan hat und wie nüchtern er davon berichtet. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Wie schwierig muß das für den Gefängnisseelsorger gewesen sein: Er wollte den zum Tode Verurteilten helfen, und er hat das getan, aber er musste sich innerhalb des nationalsozialistischen Gefängnissystems bewegen. Poelchau verband außerordentlichen Mut und den christlichen Willen zur barmherzigen Hilfe an Gefangenen.

4.

Das zweite letzte Wort, das Jesus sagt, gilt dem einen der mit ihm zusammen gekreuzigten Verbrecher: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wird du mit mir im Paradiese sein.“ Dieser kurze Weg von der Hinrichtung ins Paradies führt zum Thema der christlichen Gefängnisseelsorge.

Den Auslegern ist aufgefallen, wie schnell und umstandslos Jesus dem an seiner Seite gekreuzigten Täter Vergebung gewährt. Seelsorge an gefangenen und bestraften Menschen ist in der Geschichte der christlichen Kirchen immer von besonderer Bedeutung gewesen. Pfarrer wie der erwähnte Harald Poelchau haben im Gefängnis oder in der Justizvollzugsanstalt Hilfe und Seelsorge geleistet, nicht selten in einer beeindruckenden Verbindung von Gebet, Gespräch und pragmatischer Hilfeleistung.

In den Kirchen der Bundesrepublik hat Gefängnisseelsorge darum eine große, wichtige und bewahrenswerte Tradition. Und es ist ein alarmierendes Zeichen, wenn die Kirchenverwaltungen, aber auch staatliche Behörden gerade hier den Rotstift finanzieller Kürzungen ansetzen, denn mit der Gefängnisseelsorge steht eine der genuinen und wichtigen Aufgaben der Kirche auf dem Spiel.

Kritiker haben die Gefängnisseelsorger oft gefragt: Wenn ein Diebstahl, ein Raub, eine Körperverletzung geschieht, wieso wenden sich Pfarrerinnen und Pfarrer dann ausgerechnet den Tätern zu – und nicht den Opfern, die es doch viel nötiger haben? Die Kirchen haben lange Zeit eine Perspektive nachvollzogen, die ihnen durch das System des Strafrechts vorgegeben war: Richter, Rechts- und Staatsanwälte, aber auch die Öffentlichkeit konzentrierten sich nach einer Straftat auf die Überführung des Täters. Die Opfer, ihr Leiden und ihr Verlust, ihre Traumatisierung gerieten aus dem Blickfeld.

Diese fehlende Beachtung der Opfer war ein Fehler, und das Rechtssystem, aber auch die Gefängnisseelsorge haben hier in den vergangenen Jahren dazu gelernt und neue Modelle des Umgangs mit Verbrechen und Strafe entwickelt: Vergebung zwischen Menschen kann zum Beispiel dort geschehen, wo sich Opfer und Täter an einen Tisch setzen und miteinander unter der Anleitung eines sogenannten Mediators ins Gespräch kommen. Nicht bei jeder denkbaren Straftat ist das ein mögliches Verfahren, aber dort, wo es möglich ist, ist es eine gute Alternative. Täter-Opfer-Ausgleich heißt dieses Verfahren in der Fachsprache des Rechts. Eine Beleidigung, ein Raub, eine Sachbeschädigung lassen sich durch ein Gespräch und einen folgenden „Vertrag“ unter Einbeziehung des Opfers ja nicht ungeschehen machen. Aber indem das Opfer seine Belange vertreten und berücksichtigt sieht, gewinnt es die in der Straftat beschädigte oder verlorene Achtung und Würde zurück. Und auch der Täter gewinnt Würde zurück, weil er die Möglichkeit erhält, seinen Fehler einzugestehen und wieder gut zu machen.

Jesus von Nazareth lebte in einer Zeit, in der Strafen oft in keinem Verhältnis zur Tat standen. Auf Kleinigkeiten oder Bagatellen stand die Todesstrafe. Folter war an der Tagesordnung. Jesu eigener Prozess führt das anschaulich vor Augen. In solchen Fällen übertriebener übermäßiger Strafe ist in der Tat der Schutz, die Seelsorge für den Täter angebracht. „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Dieser Zuspruch führt weit über den strafrechtlichen und seelsorgerlichen Täterschutz hinaus. Dieser Zuspruch ist die Zuwendung des menschgewordenen Gottes zu allen Menschen. Und diese Überlegung führt auf den gekreuzigten Jesus selbst zurück.

5.

Bevor Jesus den Tod seiner Hinrichtung stirbt sagt er: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände.“ Lukas betont ausdrücklich, Jesus habe das nicht nur „gesagt“, sondern „laut gerufen“. Alle, die um die drei Kreuze herumstanden, sollten es hören. Der Tod ist für Jesus wie für alle Menschen ein Augenblick tiefster Macht- und Wehrlosigkeit. Jesus hat sich nicht selbst gerichtet, er ist hingerichtet worden. Der Tod wurde ihm zugefügt, Jesus, dem machtlosen Menschen.

Jesus ergibt sich aber nicht passiv in sein Todesschicksal: Er ruft noch einmal. Er ruft den Gott an, den er seinen Vater nennt. Gott, der Vater, ist größer und mächtiger als der Tod. Darum ist Jesu Todesschrei, der nach Passivität klingt, in Wahrheit ein Aufbegehren gegen den Tod, das erste Zeichen jener großen, nachtödlichen Verwandlung, welche die Christen Auferstehung nennen.

Jesus gibt sich in die Hände seines Vaters.
So leuchtet die Überwindung des Todes schon am Karfreitag auf.

Amen.

PD Dr. Wolfgang Vögele
Evangelische Akademie zu Berlin
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