Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Quasimodogeniti, 3. April 2005
Predigt über Johannes 20, 19-21, verfasst von Hans-Ole Jørgensen
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Die Jünger hielten sich drinnen auf, hinter verschlossenen Türen. Sie hatten Angst vor den Juden, steht da - der Tod, den ihr Herr und Meister erlitten hatte, könnte ja auch der ihre werden. Das war durchaus denkbar.

Es war der Abend des Osterfestes. Für die Jünger aber war es noch nicht Ostern geworden. Was sie von den Frauen gehört hatten - draußen vom Grabe, daß es morgens leer gewesen sein sollte - das hatte sie nicht überzeugt. Für sie war es noch nicht die Wirklichkeit von Karfreitag, die Gültigkeit besaß.

Und mit dieser Wirklichkeit wurden sie nicht fertig. Jesus war ihnen genommen worden. Und mit ihm alles, was sie mit ihm verbunden hatten, an das sie geglaubt hatten und auf das sie gesetzt hatten. Aber sich hatten auch bei den Ereignissen des Karfreitag sich selbst von einer Seite kennengelernt, die unangenehm war und mit der sie sich nur schwer zurechtfinden konnten. Sie hatten ihr eigenes Versagen erfahren. Sie hatten ihre Gemeinschaft mit Jesus verleugnet, als es gefährlich wurde, sie hatten ihn im Unglück allein gelassen, nur ihre eigene Haut gerettet. Und deshalb wohl hielten sie sich nun hinter verschlossenen Türen - denn wenn man versagt hat, dann mag man keine Menschen sehen, dann verbirgt man am liebsten seinen Blick und schließt sich ein.

Auch wir kennen so ganz gut die verschlossenen Türen, daß wir nicht immer frei und offen die sein wollen, die wir sind, in der Umwelt, in der wir leben. Das heißt wir verbergen uns z.B. hinter Masken, oft scheinen wir genötigt zu sein, die Wirklichkeit aufzuschönen, in der wir leben. Wir kennen das, weil wir wie die Jünger Angst haben - vielleicht nicht gerade davor, getötet zu werden, sondern davor, nicht den Erwartungen und Anforderungen zu entsprechen, davor daß die anderen etwas Nachteiliges über uns meinen, uns für zu leicht befinden. Und wir kennen das ja auch wie die Jünger, weil wir wissen, daß nicht nur andere versagen, sondern manchmal auch wir. Wenn irgendwo dann hier haben wir Lust, uns zu vergraben - damit wir den Augen der anderen entgehen, ihren Verurteilungen und manchmal auch ihrer Nachsicht.

Aber wenn es etwas gibt in der Welt, das Verlorenheit ist, dann dies, sich in dieser Weise vor der Welt einzuschließen. Wie schwer es auch sein mag, seiner Umwelt in die Augen zu sehen und ihr von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, frei als der, der man nun einmal ist, dann ist dies dennoch nicht weniger als eine Lebensbedingung. Sich einmauern hinter verschlossenen Türen, das ist ein böser Kreislauf. Das wird immer schlimmer. Das Problem macht sich selbständig, wie man wohl heute sagt. Schließen wir uns ein, ersticken wir uns selbst, verschließen wir uns vor allem, was das Problem lösen könnte oder es uns ermöglichen könnte, mit ihm zu leben.

Dostojewski erzählt einmal in einem seiner Bücher von einem Mann, der Selbstmord begehen will. Der Mann hat aus verschiedenen Gründen keine Lust mehr zu leben, er fühlt sich minderwertig, lächerlich, erbärmlich und ganz überflüssig in der Welt. Deshalb hat er nun die Konsequenz gezogen, dem Ganzen ein Ende zu machen. An einem Abend geschieht etwas, was ihn dazu bringt, seinen Entschluß zu ändern. Er ist auf dem Wege nach Hause in sein Zimmer, wo er wohnt, und will sich eine Kugel in den Kopf schießen.

Da begegnet er unterwegs einem Mädchen, ein ärmlich gekleidetes Mädchen, zitternd vor Kälte und voller Angst, weil ihre Mutter krank ist und augenblicklicher Hilfe bedarf. Der Mann, kein freundlicher Mensch, schiebt das Mädchen weg von sich, obwohl sie sich an ihn klammert, er verweist sie an die Polizei und geht weiter, ohne auch nur irgendwie zu helfen - nach Hause, um sich eine Kugel in den Kopf zu schießen.

Aber es zeigt sich, daß das Mädchen, das Hilfe brauchte und dem er nicht half, in Wirklichkeit zu einer Hilfe für ihn wurde. Denn er konnte sie nicht aus den Gedanken verlieren, als er nach Hause kam. Er sah sie immer wieder vor sich, hörte noch immer ihren Hilferuf. Und verstand plötzlich, daß hier ein Mensch war, der ihn brauchte. Er hatte versagt, aber sie war ihm in die Quere gekommen, und das bedeutete, daß er sich nun doch nicht erschoß.

Das ist ein verschlossenes Herz, das von außen geöffnet wird. Eine verschlossene Tür, die plötzlich dem Druck nicht standhalten kann von dem Leben, gegen das die Tür eigentlich abschotten sollte, das Leben außerhalb von uns, dessen Energie, dessen Störung auf die Dauer niemand entbehren kann, der leben will.

Sich einschließen - sich hinter verschlossenen Türen verbergen - das kann oft eine große Versuchung sein. Besser aber ist es, wenn wir Mut haben, uns zu öffnen.

Aber zum Glück: Auch wenn wir uns verstecken, kann es zuweilen passieren, daß der Panzer aufgebrochen wird. Weil außerhalb von uns Leben ist, das Mauern durchbrechen will. Davon berichtet Dostojewskis Erzählung, und davon handelt auch der heutige Text aus dem Johannesevangelium. Denn was sonst als eben dies erlebten die Jünger an diesem Abend in Jerusalem? Plötzlich stand der Auferstandene mitten unter ihnen, und das trotz verschlossener Türen. Er stand da mit seinem: "Friede sei mit euch" und seinem: "Siehe ich sende euch" - mit seinem Segen und mit seinem Ruf zum Leben, und da wurde es Ostern für sie. Es wurde Leben, das vom Tode auferstand. Was gefallen war, erhob sich wieder, sie bekamen Mut und Freude. Nun wagten sie es, Augen und Türen zu öffnen und ins Leben hinauszugehen.

"Das Leben ist ein Vogel", sagt der alte Gutsbesitzer Bolt in Erik Fosnes Hansens Roman "Berichte von Beschützung". "Das Leben ist ein Vogel". So gesehen ist er schon tot, als er das sagt. Er liegt in seinem Sarg und sieht zurück auf sein Leben. Besonders auf seine letzten Jahre, in denen ein Mensch in sein ansonsten so menschenleeres Leben kam und alles veränderte. Sie war ein junges Mädchen, eine entfernte Verwandte auf der Flucht vor einer großen Trauer. Sie klopft an bei dem Alten und besteht fast wie das Mädchen bei Dostojewski darauf, eingelassen zu werden. Das wird sie auch, und das führt zu etwas Gutem, auch für den Alten, der auch einer war, der sich von der Welt abgeschottet hatte. "Ich glaubte, ich sei einsam", sagt er, als er schließlich in seinem Sarg liegt, "und daß ich immer einsam bleiben würde. Dann kamen neue Flügel in mein Leben".

"Das Leben ist ein Vogel". Etwas, was von wo anders kommt. "Du bist der Zweig, der schaukelt und schaukelt".

Der Abend des Ostertages, als Jesus zu seinen Jüngern kommt, während sie sich hinter verschlossenen Türen aufhalten, bedeutet - in diesem Bilde gesprochen - neue Flügel im Leben der Jünger. Und eben dies ist Ostern auch für uns. Eine Botschaft aus einer anderen Welt als unserer eigenen, die durch alles hindurchbricht, was wir nun haben mögen an verschlossenen Türen und zugeknöpften Herzen, ein: "Friede sei mit euch" und ein: "Siehe, ich sende euch" - beides neue Flügel in unserem Leben.

Ostern bedeutet ja für uns und unser Leben, daß wir nicht mit uns selbst in der Verzweiflung zugrunde gehen sollen und dem Mißmut, für die so vieles spricht, u.a. weil wir ja von anderen verraten werden und selbst versagen. Ostern bedeutet, daß der Auferstandene mit seinem Frieden auch zu uns kommt - nicht als ein Schlafkissen, wie das vielleicht den Anschein hat, sondern als ein Segen, daß Gott sein Angesicht leuchten läßt über uns, uns sieht und uns will, auch wenn etwas hier kaputtgegangen ist und wir uns nicht selbst in die Augen zusehen wagen. Und Sendung ist es auch. Sendung für jeden Dienst für die Welt, wo es immer Menschen genug gibt, die auf uns warten. Da sind Menschen, die auf dich und mich warten, Menschen, für die das Leben unterzugehen droht und die so sehr neue Flügel brauchen, daß jemand zu ihnen kommt aus einer anderen Welt als ihrer eigenen, daß das Leben für sie wieder vom Tode auferstehen kann.

"Siehe, ich sende euch", sagt Jesus. Das klingt altmodisch, und es kann sicherlich auch schwer fallen, ihn beim Wort zu nehmen, wenn er so spricht. Aber das ist ein gutes Gebot, nicht zuletzt für den, dem Sinn und Fülle in seinem Leben fehlt. Denn hier ist keiner, der ganz herausfällt. Keiner, für den das Leben leer sein muß. Jeder wird gebraucht. Denn überall gibt es Menschen genug, die dasistzen und auf neue Flügel warten.

Manchmal kann uns der Gedanke kommen, daß wir eigentlich nicht sehr viel bedeuten. Was kann ich in meiner Geringheit eigentlich zu dem beitragen, was nötig ist? Aber denke einmal an die Jünger, wie sie geschildert werden. Sie sind nicht groß und stark, keine besonders geglückte oder vollkommene Menschen. Sie werden in den Evangelien immer ungeschminkt dargestellt, als ganz gewöhnliche unverständige, stolze und selbstgerechte Menschen, die sie zuweilen auch waren, und als die mutlosen, verzagten und ängstlichen Menschen, die manchmal auch waren. Ja, sie werden als ungläugige und zweifelnde Menschen dargestellt, wie Thomas heute, oder als treulos und unzuverlässig, wie Petrus vor Ostern oder wie Judas, der Jesus verriet. Aber für sie war also ein Platz in der Gemeinschaft - Jesus setzte sich zu Tische eben mit ihnen - und damit ist Platz für jeden, was immer man von sich selber denken mag. Auch wir gehören zu denen, die unser Herrgott braucht. "Siehe, ich sende euch", sagt Jesus.

Das Evangelium ist, daß wir mit zur Schar derer gehören, die gesegnet und gesandt werden. Und es ist wahr, wenn wir es hören, so liegt darin Leben und Seligkeit. Uns wird geschenkt, daß wir unser Haupt erheben und in die Welt gehen können, Auch wenn es sich mit uns wie mit allem so verhält, uns wird ein Mut zum Wagnis gegeben, uns wird die Würde gegeben, aufs Neue Kinder Gottes in der Gemeinschaft mit anderen zu sein, denen, die uns Gabe und Aufgabe sind, Flügel im doppelten Sinne.

Dies ist geschrieben - sagte der Evangelist - damit ihr, wenn ihr glaubt, das Leben in seinem Namen haben werdet. Darum geht es. Amen.

Pfarrer Hans-Ole Jørgensen
Hyrdestræde 5
DK-6000 Kolding
Tel.: ++ 45 - 75 52 06 61
E-mail: oj.kolding@mail.tele.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Eberhard Harbsmeier


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