Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Miserikordias Domini, 10. April 2005
Predigt über Hesekiel 34,1-16.31, verfasst von Irene Mildenberger
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1 Und des HERRN Wort geschah zu mir: 2 Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? 3 Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. 4 Das Schwache stärkt ihr nicht und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt. 5 Und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden und zerstreut. 6 Sie irren umher auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln und sind über das ganze Land zerstreut und niemand ist da, der nach ihnen fragt oder auf sie achtet.
7 Darum hört, ihr Hirten, des HERRN Wort! 8 So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Weil meine Schafe zum Raub geworden sind und meine Herde zum Fraß für alle wilden Tiere, weil sie keinen Hirten hatten und meine Hirten nach meiner Herde nicht fragten, sondern die Hirten sich selbst weideten, aber meine Schafe nicht weideten, 9 darum, ihr Hirten, hört des HERRN Wort!
10 So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen. 11 Denn so spricht Gott der HERR: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. 12 Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war. 13 Ich will sie aus allen Völkern herausführen und aus allen Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und an allen Plätzen des Landes. 14 Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels. 15 Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der HERR. 16 Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist.
31 Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der HERR.

Liebe Gemeinde!
„Weil ich Jesu Schäflein bin, freu ich mich nur immerhin über meinen guten Hirten, der mich wohl weiß zu bewirten, der mich liebet, der mich kennt und bei meinem Namen nennt.“
Dieses Lied ist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen, als ich den Gottesdienst und die Predigt für heute vorbereitet habe. Dabei kann ich mich gar nicht erinnern, ob und wann ich es als Kind gesungen habe. Die Erinnerungen, die ich mit diesem Liedvers verbinde, sind alle noch nicht so alt.

Weil ich Jesu Schäflein bin ... in diesem Lied steckt ein kindliches, selbstverständliches Vertrauen, für das wir uns auch als Erwachsene nicht schämen müssen.
Bilder von Christus als dem guten Hirten, der ein Schaf auf den Schultern trägt, die gehören ja zu den ältesten christlichen Bildern überhaupt, wir finden sie schon in den römischen Katakomben und auf Sarkophagen aus den ersten Jahrhunderten.
Einmal wurde der alte Karl Barth, gefragt, ob er denn seinen persönlichen Glauben kurz zusammenfassen könnte. Da hat der große Theologe, der viele Tausend Seiten über Gott und Jesus Christus geschrieben hatte, mit diesem Liedvers geantwortet: Weil ich Jesu Schäflein bin ...
Ja, mit diesem Lied können wir unseren Glauben ausdrücken – zumal die dritte Strophe auch auf das Ende unseres Lebens blickt: „Sollt ich denn nicht fröhlich sein, ich beglücktes Schäfelein? Denn nach diesen schönen Tagen werd ich endlich heimgetragen in des Hirten Arm und Schoß. Amen, ja mein Glück ist groß.“
Und wenn es Ihnen zu gefühlvoll und kindlich wird mit diesem Lied von Henriette von Hayn, dann ist da immer noch der Psalm 23, den sie hier nachgedichtet hat: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln ... Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.

Jesus Christus als der gute Hirte und ich als sein Schäflein – auf diese Kurzformel können wir unseren Glauben bringen. Das reicht – nicht nur für Kinder, sondern auch noch im Alter und im Angesicht des Todes.

Und doch, dieses Bild steht nicht allein, die Rollen sind nicht so eindeutig verteilt – weder in der Bibel noch in unserem Gesangbuch. Wir Schäflein singen ja auch das Lied „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld der Welt und ihrer Kinder.“ Der gute Hirte erscheint also gleichzeitig auch als das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt trägt. Ein Vexierbild haben wir vor uns, das hin und her springt zwischen dem Hirten und dem Lamm.
In den Worten Jesu, die wir im Sonntagsevangelium gehört haben, zeigt er, wie beides zusammengehört: „Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.“
Genau das macht Jesus zu dem besonderen Hirten, dass er sich ganz und gar einsetzt für seine Schafe. Nicht davonläuft, wenn es für ihn gefährlich wird. Genau das ist ja der Grund für die Zuversicht, die wir auf unseren Hirten setzen.
Und so beten wir – und dieser Brauch geht weit in das 1. Jahrtausend der Kirche zurück – das „Christe du Lamm Gottes ... erbarme dich unser“ gerade beim Abendmahl, wo wir uns an Christi Leiden und Tod für uns erinnern.

Ein Vexierbild habe ich gesagt: Der Hirte ist zugleich das Lamm. Aber auch auf unserer Seite, auf der Seite der Schäflein, ist nicht alles so eindeutig, bei näherem Hinsehen enthüllt sich auch hier ein Vexierbild.
Auch wenn in der Weissagung des Propheten Hesekiel am Ende von Gott als dem Hirten seines Volkes die Rede ist, so richten sich seine Worte zuerst einmal an andere Hirten dieses Volkes. Ob er damit nun vor allem die politischen Hirten, den König vorweg, im Auge hatte, oder eher die religiösen, also Priester und auch Propheten, das können wir nicht so genau sagen. Jedenfalls ist deutlich, dass wir Menschen nicht nur Schafe sind, sondern dass es auch Hirten unter uns braucht.
Wie diese Hirten und Hirtinnen arbeiten sollen, das zeigt Hesekiel uns auf doppelte Weise. Zuerst einmal im Bild der schlechten Hirten, die nur an sich denken, und keinen einzigen Gedanken an die Schafe verschwenden: „Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden.“ Ihr nehmt alles, was ihr von den anderen brauchen könnt. Aber ihr kümmert euch kein bisschen um sie, darum, was sie nötig haben, was sie brauchen. Ihr seht nur auf euch und auf euren eigenen Nutzen.
„Das Schwache stärkt ihr nicht und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt.“ Hier wird noch einmal genauer deutlich, was einen Hirten, eine Hirtin eigentlich ausmacht. Sich um andere kümmern heißt nicht, alle gleich behandeln, sondern jedem das zukommen lassen, was er nötig hat, den Schwachen wie den Starken, den Kranken wie den Gesunden. So will Gott selbst sein Hirtenamt an seinem Volk ausüben, das ist das positive Vorbild, das wir am Ende hören: „Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten.“

Es ist also nicht so einfach und eindeutig: Hier der eine gute Hirte und da wir Schafe. Nein, wir, die wir Jesu Schäflein sind, sollen zugleich Hirten füreinander werden. Der erste, der diesen Auftrag nach Ostern ganz ausdrücklich bekommt, ist der Apostel Petrus. „Weide meine Schafe!“ sagt Jesus zu ihm, gleich dreimal, damit er es nicht überhören kann.

Was geht mich der Auftrag des Apostels Petrus an? So könnte einer fragen, dem unwohl wird bei dieser Vorstellung, eine, für die Hirtin nicht das bevorzugte Berufsbild ist. Das betrifft doch andere, allen voran den neuen Papst, der in Kürze gewählt werden muss. Und wozu haben wir in der evangelischen Kirche die Pastorinnen und Pastoren. Die sind, wie es ja schon ihr Name sagt, Hirtinnen und Hirten. Und schließlich werden sie auch dafür bezahlt, dass sie diese Aufgabe übernehmen.
Und auch für das politische Hirtenamt haben wir gerne andere im Blick. Die Oberbürgermeisterwahl heute hier in Leipzig zeigt es ja, dass es dafür die Spezialisten gibt.

Dennoch, das war eine der wichtigen Wiederentdeckungen der Reformationszeit: Alle Christen sind durch ihre Taufe zum Priesteramt berufen, sind also allesamt Pastorinnen und Pastoren. Sicher jede und jeder auf andere Weise und manchmal vielleicht nur für wenige bestimmte andere Menschen oder in bestimmten Situationen. Dennoch – die Beispiele, die mir eingefallen sind, können Sie sicher noch weit ergänzen.
Da ist die Familie, wo Eltern zu Hirten ihrer Kinder werden, große Geschwister für die kleineren. Und später, wenn die Eltern alt werden, kehrt sich das Verhältnis oft um, zumindest in manchen Bereichen der Fürsorge. Die Sorge für Kinder wie für Alte, die findet sich dann für manche auch im Beruf wieder, und auch hier in unserer Gemeinde: In nenne nur unsere Kindergärten und die Seniorentagespflegestätte.
Viele tragen in der Arbeit die Verantwortung für andere, in ganz unterschiedlichen Berufen, nicht nur im sogenannten sozialen Bereich.
Aber auch im Privatleben bin ich immer wieder als Hirtin gefragt, im freundschaftlichen Gespräch, das die andere, den anderen unterstützt, vielleicht hilft, Entscheidungen zu klären, einen Rat gibt. Auch der Austausch über Glaubensfragen gehört für mich dazu, wie er hier bei uns zum Beispiel in den verschiedenen Hauskreisen geschieht, und das Gebet füreinander.
Wieder ein anderer Bereich ist das Eintreten für die Rechte und Nöte anderer Menschen. Auch hier zwei Beispiele aus unserer Gemeinde, zuerst natürlich den Teekeller Quelle, dann aber auch der Einsatz der Gruppe, die fair gehandelte Waren verkauft.

Gott sagt: „Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten.“ Und er tut das alles auch durch uns.
Das heißt nicht, dass ich nun mein Dasein als Jesu Schäflein aufgeben müsste! Ich habe darum vom Vexierbild gesprochen, weil wir immer beides sind. Unsere Rolle immer wieder tauschen. Diejenigen, die besonders viel Verantwortung als Hirtinnen und Hirten übernehmen müssen, denen tut es gut, sich daran zu erinnern, dass sie Jesu Schäflein sind, selbst getragen werden. Aber genauso ist es wichtig für die anderen, die sich vor allem als Schafe sehen, offen dafür zu sein, dass sie immer wieder auch als Hirtin oder Hirte gefragt sind. Für Schwache, Verletzte und Verirrte, aber auch für Starke und Gesunde.

Und für uns alle miteinander gilt die Zusage unseres Gottes: Ja, „ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der HERR.“
So können wir auch alle miteinander sagen: „Weil ich Jesu Schäflein bin, freu ich mich nur immerhin über meinen guten Hirten, der mich wohl weiß zu bewirten, der mich liebet, der mich kennt und bei meinem Namen nennt.“
Amen


Dr. Irene Mildenberger
Liturgiewissenschaftliches Institut der VELKD
Otto-Schill-Str. 2
04109 Leipzig
liturgie@uni-leipzig.de


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