Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Miserikordias Domini, 10. April 2005
Predigt über Hesekiel 34,1.2.10-16.31, verfasst von Jörg Egbert Vogel
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Der Prophet Hesekiel schreibt:
1 Und des HERRN Wort geschah zu mir:
2 Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden?
10 So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen.
11 Denn so spricht Gott der HERR: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen.
12 Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war.
13 Ich will sie aus allen Völkern herausführen und aus allen Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und an allen Plätzen des Landes.
14 Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels.
15 Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der HERR.
16 Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist.
31 Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der HERR.

Liebe Gemeinde,
die Worte der Propheten sind Ansagen des Willens Gottes an das Volk in einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Situation. Im Falle des Propheten Hesekiel ist das Wort wohl an die Deportierten in der Babylonischen Gefangenschaft gerichtet. Es spricht also diejenigen an, die, so scheint es die überwiegende Überzeugung des Volkes gewesen zu sein, durch das Verschulden der Mächtigen Israels, der Hirten, in diese schreckliche Situation der Vertreibung aus ihrer Heimat gekommen sind.

Dabei wird in diesem Kapitel aus dem Gerichtswort am Anfang: Weissage gegen die Hirten Israels … Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! … So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will an die Hirten, aus diesem Gerichtswort wird dann eine Heilszusage, die im selben gleichnishaften Bildwort bleibt, aber nun Gott selbst als den Hirten beschreibt, der seine Herde, das Volk weidet, als guter Hirte, dem kein Schaf verloren geht, ja der die verstreuten Schafe wieder zusammenbringt: Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, (ganz besonders schön) was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist.

Das Bildwort vom Verhältnis Gottes zu den Menschen, vom Hirten und seinen Schafen, kennen wir auch aus Psalm 23, der Herr ist mein Hirte, er weidet mich auf einer grünen Aue, vermutlich älter als der Hesekieltext, und natürlich von Jesus, der es mehrfach gebraucht und nach dem Johannesevangelium auf sich selbst bezieht: Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.

Hesekiels Worte sind im 6. Jahrhundert vor Christus Trostworte für die heimatlosen Israeliten. Gott hat sie nicht vergessen, sagt er ihnen, er wird das, was die Führer des Volkes vermasselt haben, wieder zurecht bringen. Gott selbst wird nun der Hirte des Volkes sein und sie aus allen Völkern herausführen und aus allen Ländern sammeln und sie in ihr Land bringen und sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und an allen Plätzen des Landes.
So hat es Gott selbst zugesagt, das verspricht der Prophet seinen Hörern.

Wir lesen heute das Prophetenwort Hesekiels als Wort Gottes, das auch an uns gerichtet ist. In unserer ganz anderen Zeit und Situation wollen wir versuchen Gottes aktuelle Botschaft an uns in diesen Worten zu hören.

Ich denke, es gibt mindestens zwei Bereiche, in denen dieses Wort heute von ebenso bedrängender Aktualität sein kann, wie zu Hesekiels Zeiten.

Damals war es an die Verantwortungsträger des Volkes gerichtet, an die Politiker und Priester. Auch heute können wir es so hören, zumal man beim Bild von den Hirten und der Herde heute wohl sogar zuerst an die Beziehung von Pfarrer und Gemeinde denkt.

Der Vorwurf Gottes an sie im Prophetenwort ist ein einziger: So spricht Gott der HERR: Ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden.

Die Hirten weiden sich selber, das ist der Vorwurf.
Sie werden ihrer Aufgabe nicht gerecht, für die Menschen da zu sein, sondern sorgen nur noch für sich selbst, für ihre Zukunft, ihr Wohlbefinden und ihr Fortbestehen.
Das ist ein sehr hartes Wort und überall gibt es diese Situationen in Staat und Wirtschaft und gesellschaftlichen Organisationen und auch in der Kirche, dass die Verantwortungsträger, die eigentlich für andere da sein sollten, in die eigene Tasche wirtschaften und ihren eigenen Vorteil suchen.

Im Blick auf die Politiker und die Wirtschaftsbosse hören wir solche harschen kritischen Worte ganz gerne.
Als Worte an die Kirche, an Bischöfe, Pfarrer und Kirchenvorstände schmerzen sie uns, greifen sie uns an und drängen uns in die Defensive.

Doch das Prophetenwort sagt uns etwas sehr Wichtiges: Jeder, der Verantwortung für eine Herde übernommen hat, in Politik, Wirtschaft oder Kirche, muss sich immer wieder fragen und fragen lassen, ob er dieser Verantwortung gerecht wird, ob er die Schafe recht weidet, oder ob er sich nur selber weidet.
Bin ich für die da, die mir anvertraut sind? Gehe ich richtig um mit den Ressourcen, für die ich verantwortlich bin?

Der Hirtenstab ist das Insignum der Bischöfe des Mittelalters. Damit beziehen sie sich, und in der katholischen Tradition bis heute, in ihrer Amtsführung auf das biblische Bild des Hirten und der Herde.
In der evangelischen Tradition ist zumindest dieses Bild fest verwurzelt, auch wenn unsere Bischöfe den Stab nicht tragen.
Deshalb muss die Stimmigkeit dieses Bildes auch permanent hinterfragt werden.
Dabei dürfen wir jedoch nicht bei dem Gerichtswort des Hesekiel verharren. Es führt schliesslich in eine grossartige Heilszusage.
Gott selber wird der Hirte sein, der uns recht weidet.

Das bedeutet einerseits, dass Gott selbst uns zeigt, was es heisst, ein rechter Hirte zu sein, und andererseits ist es eine Entlastung der irdischen Hirten, wenn sie wissen, sie sind letztlich auch nur Teil der Herde, für die Gott selbst die Verantwortung übernimmt. Wir können bestenfalls Unterhirten sein, die sich vor dem Oberhirten, Gott, zu verantworten haben.

Und schliesslich ist das Prophetenwort vor allem Trostwort an die Gefangen, das ihnen sagt, eure Führer haben versagt. Vertraut euer Leben in Zukunft nicht mehr Führern an, die Hirten sind, die sich selber weiden, sondern vertraut auf Gott. Menschen können euch enttäuschen oder sogar Schaden zufügen, Gott nicht, er kann, wie Isaak von Ninive im 7. Jahrhundert sagte, nur seine Liebe schenken, Gott kann nur lieben.
Er kann euch nicht enttäuschen oder euch Schaden zufügen, er ist der wahrhaft gute Hirte.

Hesekiels Trostwort ist auch Anrede Gottes an uns in unserer ganz anderen Zeit und Situation. Es sagt auch uns heute, hinterfragt euch als menschliche Führer, fragt euch kritisch, ob ihr euch selber weidet oder wirklich eurer Verantwortung gerecht werdet. Und es sagt uns: Vertraut auf Gott, er führt uns zurück, wenn wir uns verirrt haben, er verbindet unsere Wunden, er stärkt uns, wenn wir schwach sind. Denn er sagt uns:
Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der HERR.


Pf. Jörg Egbert Vogel, Basel
j.e.vogel@gmx.ch


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